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Nach Fukushima
Menschen am Nullpunkt

Die Überlebenden von Fukushima müssen sehen, wie sie nach der Atomkatastrophe weitermachen, mit Verwüstung, Verlust und Tod umgehen. Die 1966 im Schwarzwald geborene Autorin Nina Jäckle beschreibt in ihrem Roman "Der lange Atem" die kollektive Erfahrung von Fragilität und lässt dabei das wahrhaftige Ungeheuer im Kopf entstehen.

Von Dina Netz | 23.04.2014
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    Haus, das durch den Tsunami in der Region um Fukushima am 11.03.2011 zerstört wurde (dpa / picture alliance / Kimimasa Mayama)
    Nina Jäckle schreibe über ein "Leben am Nullpunkt", hieß es über ihren vorigen Roman "Zielinski", in dem es um einen schizophrenen Mörder ging. Solche Situationen scheinen die Autorin zu interessieren, denn auch der Erzähler ihres neuen Romans ist am Nullpunkt. Allerdings nicht nur an einem persönlichen, sondern an einem kollektiven Nullpunkt: "Der lange Atem" spielt eineinhalb Jahre nach der Katastrophe von Fukushima in einer der betroffenen japanischen Provinzen.
    Der Erzähler und seine Frau haben "Glück gehabt", wie man so sagt: Sie selbst waren an jenem 11. März 2011, an dem ihr Haus vom Meer fortgerissen wurde, in der Stadt. Sie besitzen nur noch das, was sie für einen Wochenendausflug bei sich trugen. Aber sie sind am Leben, anders als seine Tante, ihr Vater, als das Nachbarskind. Doch "Gnade ist auch eine Ungerechtigkeit", wie es im Buch heißt. Die Überlebenden müssen nun sehen, wie sie weitermachen, wie sie umgehen mit der Angst vor den atomaren Folgen, mit der Leere in der Ebene, in der ihre Heimatstadt lag. Von diesem Nullpunkt aus gibt es keinen vorgezeichneten Weg, den muss Jeder selbst finden.
    Der Erzähler findet ihn, indem er seinen Beruf umwidmet: Früher war er Phantombildzeichner, hat Bilder von Verbrechern erstellt. Nun zeichnet er auf Grundlage der Fotos von Tsunami-Opfern ihre Gesichter nach – die Verletzungen lässt er weg, um den Verwandten möglichst wenig zuzumuten:
    "Unentwegt zeichne ich die Gesichter der zu identifizierenden Opfer. In der Hoffnung, jedem der Gefundenen und jedem der Findenden seinen Frieden zu bringen, in der Hoffnung, jedem der nummerierten, ausgehängten Gesichter wird ein Name, wird ein gelebtes Leben, wird eine Vergangenheit zugerufen werden, zeichne ich unentwegt. Ich zeichne auch Kindergesichter. Kindernamen werden nicht gerufen, sie werden leise gesagt."
    Der Erzähler findet im Zeichnen Erleichterung, weil er anderen Erleichterung verschafft, die Abschied nehmen können. Seiner Frau jedoch ist dieser unermüdliche Eifer unheimlich. Sie, die häufig rotgeweinte Augen hat, wirft ihm vor, nicht zu weinen. Zwischen die beiden legt sich das Schweigen des Traumas und das Schweigen derer, deren Gefühle keinen Adressaten haben. Denn auf wen sollen sie wütend sein? Auf das Meer? Wem sollen sie am Ende verzeihen? Gott?
    "Meine Frau und ich, wir sehen uns zu, früher sahen wir uns in die Augen, jetzt sieht meine Frau mir, und ich sehe meiner Frau zu. Wir sehen uns beim Sitzen zu, beim Gehen, wir sehen uns zu, wie wir aus Fenstern sehen, wie wir Schuhe ausziehen oder Schuhe anziehen, wie wir aus dem Zimmer gehen oder das Zimmer betreten, wie wir kauen und schlucken und sprechen. Ich habe keinen Trost für sie, sie hat keinen Trost für mich. Wir tun so, als wüssten wir nichts davon, manchmal lächeln wir, das macht es einfacher. Wir sehen uns beim Lächeln zu."
    Eine Handlung im engeren Sinne hat der Roman nicht. Zwar hat der Erzähler verstörende Begegnungen mit einer Frau, die ihm eine Art unmoralisches Angebot macht: Sie möchte, dass er ihren verschwundenen Bruder zeichnet, damit ihre Mutter endlich Abschied nehmen kann. Der Erzähler muss sich entscheiden, was schwerer wiegt: sich nicht zum Komplizen einer Lüge zu machen oder der Seelenfrieden der Mutter.
    Doch eigentlich schreibt Nina Jäckle nicht über einzelne Schicksale, sondern über die kollektive Erfahrung von Fragilität.
    Keine Vorstellung, wie ein Neuanfang aussehen könnte
    "Manchmal denke ich daran, dass wir einmal jung gewesen sind, dass es eine Zeit gab, da wusste ich nicht, dass wir von der Gunst eines jeden einzelnen Momentes abhängen, von einer jeden einzelnen Sekunde also, in der nicht alles fortgespült wird, was eben noch so selbstverständlich dein Leben war."
    Obwohl Nina Jäckles Buch nicht einmal 200 Seiten hat, wiederholen sich die Beobachtungen des Erzählers, manche kehren immer wieder wie ein Mantra. Die Überlebenden sind gefangen in immer denselben Schleifen, die ihre Gedanken drehen, meint Jäckle damit wohl. Vom "Neuanfang", den die Regierung fordert, ist häufig die Rede. Der Erzähler und seine Frau zumindest haben keinerlei Vorstellung davon, wie dieser Neuanfang, dieser Neustart vom Nullpunkt aus, aussehen könnte.
    "Ich weiß, ein Radiergummi hinterlässt niemals weißes Papier. Was ich also einmal fehlerhaft gezeichnet habe, auch, wenn ich es danach sofort wieder wegradiere, existiert unumgänglich. Fehler, die wir machen, existieren unumgänglich, es wird keine Zukunft geben, die nicht auch unsere gemachten Fehler beinhaltet, selbst dann nicht, wenn wir uns um Wiedergutmachung bemühen, es wird kein Weiß mehr geben."
    Nina Jäckle erzählt vom Danach in einer Sprache, die mehr zeichnet als ausmalt, die das Ausmaß des Dramas impliziert, aber nicht in Worte fasst. Diese Kunst des Andeutens schafft eine besonders bedrückende Atmosphäre, weil das wahrhaft Ungeheure im Kopf entsteht. Nur die Schönheit von Jäckles Sprache mildert es ein wenig ab. Ihre Sprache ist klar, knapp, zum Teil etwas spröde, dabei zugleich lyrisch und intensiv.

    "Der lange Atem" ist zu poetisch, um eine Warnung für die Befürworter der Atomkraft zu sein. Der Roman hält die Zeit für einen Moment an und erinnert an die Fukushima-Opfer und an alle anderen Menschen an einem Nullpunkt.
    Nina Jäckle: Der lange Atem
    Verlag Klöpfer & Meyer, 176 Seiten, 19 Euro