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Nachruf

"Der Tod ist keine Endstation, eher ein Umsteigen", hat Ernst Jünger einmal im Tagebuch 1974 notiert, und ein andermal: "Der Tod ist nicht durchaus als Feind zu sehen".

German Werth |
    Das waren Gedanken, Überzeugungen aus einer Lebensphase heraus, in der der Verfasser, der in einem wahrhaft biblischen Alter starb, auf ein reiches Lebenswerk, ein langes Leben zurückblicken konnte, nicht auf ein Lebensfragment, auf Unbeendetes, Unerledigtes, alles das, was den Tod bitter machen könnte. Im Gegenteil: Werk und Leben erscheinen als ein Ganzes. Trotz allem die Frage: Gibt es eine "Lebensmelodie"? Gibt es nicht auch Disharmonien? Acht Jahrzenhnte hat Ernst Jünger unser Jahrhundet, das in der Tat an "Überraschungen" reich war, mit literarischen Werken begleitet, er erscheint nun selber als Jahrhundertautor. Zweimal hatte Ernst Jünger den Halleyschen Kometen gesehen, 1910 und 1986, als 15- und als 92Jähriger - die enorme Zeitspanne war ihm bewußt: Nur wenn man große Veränderungen persönlich erlebt habe, könne man solche auch wirklich verstehen. Früh findet der 25jährige beim Erscheinen seines ersten Buches, das er noch im Selbstverlag herausgibt, starke Beachtung. "In Stahlgewittern", eine Umsetzung seines Weltkriegs-Erlebnisses aus der fragmentarischen Tagebuchnotiz in die realistisch-heroische Beschreibung, macht Ernst Jünger mit einem Schlag bekannt, bringt ihn ins Gespräch, und zeitlebens bleibt er ein beachteter, wenn auch stets umstrittener Autor: - in den zwanziger und dreißiger Jahren als politischer Publizist (mit antidemokratischen, antisemitischen, nationalistischen Tönen!) und zugleich als surrealistischen Dichter (mit den "Aufzeichnungen bei Tag und Nacht", "Das abenteuerliche Herz"): - in den vierziger Jahren wird sein Roman "Auf den Marmorklippen" als Schlüsselroman gegen den Nationalsozialismus gelesen: - nach 1945 erschienen neben seinen Tagebuchbänden aus dem Krieg die Science Fiction-Romane "Heliopolis" und "Eumeswil"; die autobiographischen Prosaarbeiten "Subtile Jagden" und "Die Zwille", in denen er sich als unbeschwerter Erzähler präsentiert ...

    Ernst Jünger zieht sich nun aus der Politik und Aktualität zurück; wenn er sich (in den fünfziger Jahren) nunmehr in essayistischen Schriften zur Gegenwart äußert, dann geschieht dies in einer abgehobenen Tonlage, ohne Polemik. Jünger meidet den literarischen Betrieb, er selbst gefällt sich darin zu betonen, die deutsche Gegenwartsliteratur nicht zur Kenntnis zu nehmen.

    Und so setzte (unter kräftiger Mithilfe des Klett-Verlages) die Stilisierung zur abgehobenen reinen Dichterfigur ein; der Lohn waren renommierte Literaturpreise - darunter der Goethe-Preis - immer begleitet von Protesten und Streit. Die Pamphlete aus seiner Weimarer Zeit wurden natürlich nicht in die Gesamtausgaben übernommen!

    Neben die Versöhnung mit der bürgerlichen Gesellschaft trat die Anerkennung durch die Mächtigen: Der erste Bundespräsident Theodor Heuß besuchte Jünger in den fünfziger Jahren, in unseren Tagen wurde Jünger durch den Bundeskanzler Kohl geehrt, er traf mehrmals den franzödischen Staatschef Mitterand, nahm an einem Staatsbesuch des Bundeskanzlers in Verdun teil, wo die deutsch-französische Verständigung und Aussöhnung zelebriert und Ernst Jünger die Ehre zuteil wurde, eine Parade französischer Truppen abzunehmen und eine Ansprache zu halten. In Frankreich galt Ernst Jünger seit langem als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart, merkwürdigerweise nahm man ihm dort nicht übel, was man zum Beispiel Joseph Beuys (zu lesen im Nachruf einer großen Tageszeitung 1986) angekreidet hatte: nämlich Soldat der Wehrmacht gewesen zu sein und somit am Krieg teilgenommen zu haben.

    Im eigenen Land dagegen wurde Jünger immer wieder von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt, obwohl er selbst sich mit der Demokratie ausgesöhnt hatte, der er einstmals die "Pest an den Hals" gewünscht hatte, voller Stolz ein "schlechter Bürger" zu sein.

    Ernst Jünger - ein Jahrhundertautor? Jünger hat an den Irrtümern und Verwirrungen, Erschütterungen und Krisen, an Schein- und Gewaltlösungen unserer Epoche teilgenommen - acht Jahrzehnte hindurch; vom Wilhelminischen Kaiserreich an, das in der Revolution von 1918/1919 unterging; von der Nachkriegszeit, der Weimarer Republik, über das Dritte Reich, das im Zweiten Weltkrieg - einem Rassen- und Vernichtungskrieg - unterging, - bis zur Gründung der Bundesrepublik und ihrer Stabilisierung, bis über die Zäsur, die Atombombe und Raumfahrt,setzte, hinaus, ja bis zur Überwindung der Teilung, der Neuvereinigung Deutschlands. Ob Ernst Jünger auch einen geistigen Wandel durchgemacht hat, oder ob er nicht im Grunde immer derselbe geblieben ist, sich selber treu, das blieb die Frage. Ernst Jüngers symbolisches Lieblingstier war die Schlange (die ja nicht ihre Identität verliert, auch wenn sie sich häutet).

    Alle Kritik und Vorwürfe hat er einmal gekontert mit der Bemerkung, die Leute schlügen gerne auf den Seismographen ein, wenn das Erdbeben vorbei sei; aber wenn er nach 1945 seinen Standort beschrieb als den des Beobachters und Registrators, der gleichsam in Abgehobenheit vom Geschehen lebt, so traf dies auf seine Person eben nicht zu, was die Jahre vor 1933 betrifft; er war nicht nur Kommentator - er war Sprecher des Zeitgeistes und auch Zeit-Ungeistes, Zeitdiagnostiker und Utopist, Interpret und Verführer.

    Der aus der "Hölle" der Materialschlacht zurückgekehrte hochdekorierte Frontoffizier verstand sich, unzufrieden mit den Verhältnissen der Nachkriegszeit, als "Mineur", als geistiger Stoßtruppenführer, der die bestehenden politischen Verhältnisse der Weimarer Republik unterwühlte: "Revolution, Revolution!" sollte seiner Meinung nach unaufhörlich gepredigt werden, "gehässig, systematisch, unerbitterlich". Jünger gehörte zu den maßgeblichen Köpfen des rechten Lagers, zu den Nationalrevolutionären, die den Untergang der bürgerlichen Welt (die sich ihrer Meinung nach nur pro forma und gegen den Zeitgeist aus den Gluten des Weltkrieges gerettet hatte) zu beschleunigen suchten. Das Wort "Kriegsverlängerer" bedeutete für ihn kein Schimpfwort. Die Technisierung der Welt hatte Ernst Jünger im Krieg als Akt brutaler Gewalt mit der Möglichkeit tödlicher Konsequenz erfahren. Seine eigenen Konsequenzen: Jünger wollte nicht auf der Seite derjenige stehen, die Geschichte erleiden, er wollte im Einklang mit dem Zeitgeist handeln; dem Heraufkommen des Maschinenzeitalters und mit ihm dem Auftritt des Technikers und Technokraten galt es standzuhalten, der Mensch sollte gerade stärker sein als die Maschine, kein "Menschenmaterial". Trotz gelegentlich patriotischer Anklänge an die Reichsvorstellungen der Nationalisten hatte für ihn der Krieg eine übernationale Bedeutung: er bot die Möglichkeit der Selbsterfahrung und der Wirklichkeitserfahrung gleichsam unter Testbedingungen, für Jünger offenbarte er das Wesen des Lebens: den Kampf als Weltgesetz.

    Nach dem Krieg widmete sich Jünger, nach einem kurzen Zwischenspiel bei der Reichswehr, den Naturwissenschaften, er begann mit der "subtilen Jagd" nach Käfern und Insekten, als ob ihn das Verlangen trieb, im Leben der Natur das Weltgesetz zu entdecken, im Mikrokosmos als Spiegelung des Makrokosmos. Im Gegensatz zu den Bürgern, die dem Krieg den Rücken kehrten, als ob es ihn nie gegeben hätte, wollte er sich sein "abenteuerliches Herz" bewahren, das erst zu schlagen begann, wenn es mit dem Schrecken und dem Entsetzen konfrontiert wurde. Aus dem zufälligen Überleben als Soldat machte Ernst Jünger, mehrfach verwundet und mit viel Glück dem gewaltsamen Tod entronnen, ein weltanschauliches System, in dem der Tod einen sinnvollen Platz erhielt, Teil eines höheren Lebens wurde, in das man wie durch eine "Pforte" eintritt - Vollendung und Überführung der menschlichen Existenz in ein höheres Dasein, "Bruchstelle", doch "kein Ende".

    "Die Überwindung der Todesfurcht" - so belehrte er seine Leser "ist zugleich die Überwindung jedes anderen Schreckens: sie alle haben nur Bedeutung hinsichtlich dieser Grundfrage". Das war allerdings Glaubenssache: denn dahinter stand zunehmend der geradezu unbeirrbar Goethische Glaube an einen göttlichen Lebensgrund, der im Sichtbaren "Hinweise" auf das "Unsichtbare" fand, das Ernst Jünger später auch gern als das "Ungesonderte", "Namenlose" bezeichnete. Ein Schlüssel zu diesem geheimnisvollen Sein hinter allen Dingen, jenseits unseres Begriffsvermögens, war der Traum.

    Es sind zwei Dinge, die man Jünger nicht verzieh - er mochte schreiben, was er wollte -: sein heroischer Realismus, mit dem er den Krieg als Bewährungsprobe und Daseinsgleichnis verstand, und seine Affinität zu Hitler und zum Nationalsozialismus.

    Ernst Jünger einmal später dazu: "Die Einsicht, daß ich in der Politik nichts zu suchen hatte, verdanke ich Adolf Hitler; er war mein politischer Mentor ex negative ... inmitten der durch ihn entfachten Begeisterungsstürme fühlte ich, ganz abgesehen von ihrem Anlaß, ihrer Richtung und ihrem Inhalt, daß ich damit nichts zu tun hatte."

    Im Rückblick war dies doch eine Verharmlosung seiner Rolle in den dreißiger Jahren. Kurze Zeit war ihm Hitler nämlich als Verkörperung des ersehnten, großen, überparteilichen Politikers, eben als der Führer erschienen; was ihn distanzierte, war gerade die Tatsache, daß Hitler auf bürgerlich-legalem, nicht revolutionärem Weg an die Macht kam, daß er ihm nicht radikal genug war! Erst spät versah er Hitler mit dämonischen Zügen, sah in ihm und seinen Palladinen die Verkörperung satanischer Mächte, die Fratze des Verbrechens.

    Ob nun Ernst Jünger ein geistiger Wegbereiter des Dritten Reiches war oder nicht: Hitler wäre auch ohne ihn an die Macht gekommen. Mit der "Totalen Mobilmachung" jedenfalls - wie Jüngers Schrift von 1930 hieß - war jedenfalls nicht die Volksgemeinschaft der Nazis gemeint; Jünger verstand unter der "totalen Mobilmachung" die Maßnahme des Geistes, alle Kräfte einer Nation einzuspannen in einen gigantischen, herrischen Arbeitsprozeß, um dem neuen Zeitalter der Massen und Maschinen gerecht zu werden - dem Anbruch des Arbeitszeitalters, diesem "rasenden Prozeß". Die Ablösung der liberalen Demokratie durch die Diktatur der Arbeitswelt prohezeite Jünger in seinem wohl berühmtesten Buch "Der Arbeiter". Herrschaft und Gestalt", 1932. Hier beschrieb Jünger den Machtanspruch des Arbeit-Technikers auf Weltherrschaft, auf "planetarische" Umgestaltung der Erde durch die Technik. Der Jüngersche Arbeiter ist nicht an eine soziale Schicht gebunden. Arbeit als umfassendes Weltprinzip hebt vielmehr alle sozialen Gegensätze und Klassen auf. Technisierung ist notwendige und zugleich zwangsläufige Entwicklung (Richtung Weltstaat), dem der Mensch nur durch totale, rationale Nutzung und Hingabe Herr werden kann. So wie der Einzelne, das Individuum als Soldat im Kriegsganzen des Weltkriegs aufging, so nun der Bürger als Arbeiter-Soldat im Weltkollektiv der Zukunft. Doch gleichgültig, welcher Weltanschauung oder welchem Gesellschaftsmodell Jüngers Arbeiterstaat näher stand: dem preußischen Sozialismus eines Spenglers, dem Nationalsbolschewismus eines Niekisch oder dem kommunistischen Kollektiv eines Lenin - heute liest sich sein Buch als phantastische Programmschrift eines technischen Terrorsystems, in dem der individuelle Reichtum der menschlichen Existenz sowie jegliche kulturelle, mulikulturelle und ethnische Vielfalt nivelliert, mit zynischem Achselzucken einer stupiden Technik-Diktatur geopfert wurde, notfalls "über Millionen Leichen" hinweg das war das Phantasieprodukt eines gesellschaftsphilosophischen Größenwahns, allerdings erklärbar aus der Umbruchsituaion der 20/30er Jahre, in denen es in Deutschland von abstrusen Zukunfsdeutungen und -rezepten nur so wimmelte.

    Aber, daß sich bei Ernst Jünger danach ein Wandel vollzog, darauf wies der Roman "Auf den Marmorklippen" (1939) hin. Dieses symbolische Werk, in dem Jünger die Terrorherrschaft und die Menschenschinderlager des Regimes der "Mauretanier" beschrieb, wurde in Deutschland als Schlüsselroman gelesen, als mutiges, innerlich freimachendes Bekenntnis zur Humantität, obwohl Jünger später jede direkte Beziehung zum Nationalsozialismus bestritt, so wie er sich nie irgendwo in einer Weise politisch festlegen wollte - er stand im Zweiten Weltkrieg in Paris dem Militärischen Widerstand nahe, war aber kein aktiver Mitverschwörer.

    War Jünger als Stoßtruppführer auf seiten der Handelnden gewesen, so schob sich nun eine andere Perspektive ein, nachzulesen in den während der NS-Zeit unter Verschluß geführten Tagebücher, die nach dem Krieg unter dem Titel "Strahlungen" erschienen. Am 28. Juli 1942 notierte der Hauptmann der Wehrmacht "Nie darf ich vergessen, daß ich von Leidenden umgeben bin. Das ist wichtiger als aller Waffen- und Geistesruhm. Angesichts der mit einem Judenstern markierten Menschen ergriff ihn der "Ekel vor der Uniform". Seine Aufgabe sah er nun darin, "inmitten der Vernichtung" alles Bemerkenswerte festzuhalten, was ihm auch mit der Eiseskälte eines Protokollführers gelang - Ansatzpunkt einer neuen Kritik an Jünger.

    Sein Glaube an die Beherrschbarkeit der Technik war seit dem Zweiten Weltkrieg erschüttert. "Damals", so korrigierte er sich, "als wir uns in die Trichter preßten, wähnten wir noch, der Mensch sei stärker als das Material. Das hat sich als Irrtum herausgestellt."

    Trotzdem blieb Jünger seinem philosophischen Credo treu, im Sichtbaren das Unsichtbare aufzuspüren, auch wenn er nunmehr diese Perspektive ins Globale übertrug; einerseits war für ihn der Umschlag der Technik in die Selbstzerstörung (als Offenbarung ihres immanenten Nihilismus) eine Tatsache, andererseits das Weltende, die der atomaren Apokalypse, kein historisches Fiasko, sondern Verwandlung, Einbruch neuen Äons. Nach der Zerstörung der Erde würde es - freilich in Millionen Jahren - neue Lebens geben; "Die Erde häutet sich."

    Optimistisch meinte er schon in den geschichts-philosophischen Schriften der fünfziger Jahre, daß sich zwar Risse im historischen Gebäude ankündigten, der "Nullpunkt" aber, die nihilistische "Linie" überschritten, die "Zeitmauer" durchbrochen sei. Es gäbe kein Zurück. Die Klage über Verzifferung und Verplanung, "Seinsschwund" und "Erdvergessenheit", "Verlust der Anschauung", war auch ständiges Thema der täglichen Tagebuchaufzeichnungen seit März 1965, veröffentlicht 1980 in den - Bänden "Siebzig verweht".

    Der "konservative Anarchist" Jünger (wie der Hans-Peter Schwarz seine glänzende Studie über Jünger 1962 überschrieben hat) mochte nach außen seinen Frieden mit der Welt geschlossen haben, er selber sah es anders: dem Unabhängigen bleibe nur der Raum des Geistes, der "Waldgang", die Existenzweise des "Anarchen" , der wie ein Partisan gegen die bestehenden Verhältnisse lebt, sich auf verlorem Posten weiß, jedoch nicht exportiert. "Widerstand" war nicht politisch, sondern "privat" gemeint, subjektiv - ideell, spurlos!

    Ein Vertreter unserer Epoche war Ernst Jünger in diesem Sinn eben nicht, kein Schriftsteller, mit dem sich die Leser zu identifizieren vermochten, eher eine Gegenfigur, ein Unzeitgemäßer mit seinem goethischen Glauben an einen göttlichen Lebensgrund, der dem Tod, wie er meinte, der "großen Passage" den Stachel nahm auch in der Vereinsamung des Alters.

    Ernst Jüngers Optimismus fand den Halt im Glauben an die Transzendenz, im Walten unsichtbarer, namenloser, absoluter Kräfte, denen er keinen dogmatischen theologischen Begriff gab. Dankbar gestand er ein, daß sein Leben unter einem glücklichen Stern gestanden hätte, trotz vieler Gefährdungen - wer will da widersprechen. "Die Rettung hat sich in meinem Leben oft wiederholt. Das kann kein Zufall sein", so Jünger am 28. Oktober 1982.

    Link: Kritik zu Ernst Jüngers "Siebzig verweht"