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Nachwachsende Sehnerven

Medizin. - An der Universität Münster gelang es Forschern, durchtrennte Sehnerven von Ratten bis zu 14 Millimeter nachwachsen zu lassen, drei Mal so viel, wie bei Versuchen anderer Forscher. Nach der Regeneration hätten sie auch wieder normale elektrische Signale übertragen. Damit seien die Voraussetzungen für eine geringe Sehfähigkeit gegeben, so die Wissenschaftler.

    Viele einfache Lebewesen können beschädigte Nerven selbstständig reparieren, doch Säugetieren mit ihren komplexen Nervensystemen fehlt diese Fähigkeit. Denn ein unkontrolliertes Nachwachsen der Nerven könnte mehr Schaden anrichten als Nutzen. Nach Verletzungen stellen Säugetiere Proteine her, die den Teil einer Nervenzelle, der Signale weiterleitet, die Axone also, daran hindert, in das Narbengewebe hineinzuwachsen. Münsteraner Forscher konnten diesen Mechanismus umgehen. Professor Solon Thanos von der Augenklinik der Universität erklärt, wie: "Wir haben den Sehnerv frei gelegt, direkt hinter dem Auge, ihn komplett durchtrennt und dann wieder angenäht, in der Hoffnung, dass er nachwächst. Dazu haben wir im Auge selber die Augenlinse verletzt." Die nach dieser Verletzung freiwerdenden Proteine sollten zu einer Regeneration der Sehnerven führen - und haben es auch getan, so Thanos: "Es sind verschiedene Proteine, die zur Klasse der Kristalline gehören. Das sind Proteine in der Linse. Dort schützt uns dieses Protein lebenslang vor phototoxischem Stress, das heißt: die Linse bleibt lebenslang klar."

    Die Kristalline schützen auch vor der so genannten Apoptose, dem programmierten Zelltod, und beschleunigen so den Wachstumsprozess, davon ist Thanos überzeugt. Sie blockieren außerdem diejenigen Proteine, die nach einer Verletzung das Wachsen der Nervenenden behindern. Bei den Ratten konnten Thanos und sein Team Wachstum bis zu 14 Millimetern erreichen und damit den bisherigen Rekord der Arbeitsgruppe von Larry Benowitz an der Harvard Medical School um das Dreifache übertreffen. Benowitz gratulierte zum Erfolg, glaubt aber, dass nicht die Kristalline für das hohe Wachstum verantwortlich sind, sondern eine Entzündungsreaktion. Thanos jedoch ist von seiner Hypothese überzeugt: "In der Netzhaut haben wir neben den Nervenzellen, die wir durchschneiden, auch andere Zellen, darunter immunkompetente Zellen. Sie reagieren auf die Kristallinfreisetzung ebenfalls mit nervenschützenden Substanzen. Das heißt, es gibt eine Begleitreaktion, eine Entzündungsreaktion, aber sie ist nicht entscheidend für die Regeneration." Wie der wissenschaftliche Disput auch ausgehen wird, entscheidend ist der Nachweis, dass durchtrennte Nerven wieder zusammenwachsen können. In einer sicher noch fernen Zukunft könnte sich daraus neue Hoffnung für Blinde ergeben.

    [Quelle: Kay Müllges]