Auf dem Bahnhofsvorplatz im polnischen Terespol stehen viele, meist ältere, Frauen und warten auf Käufer. Alle haben große Taschen neben sich ausgebreitet. Die meisten bieten Alkohol und Zigaretten. Aber so ein richtiger Markt ist es auch nicht. Eher scheint es, als warten sie mit ihrer Schmuggelware, die die Frauen am Morgen mit dem Zug aus dem weißrussischen Brest hierher gebracht haben, auf schon verabredete Käufer. Man hatte uns schon von diesem Schmuggelzug erzählt, der täglich mehrmals zwischen Polen und Weißrussland pendelt.
Neugierig reihen auch wir uns in die Schlange am Bahnsteig, wo schon viele andere warten und mit uns den Zug Richtung Brest besteigen. Die Frauen, die morgens Alkohol und Zigaretten nach Polen gebracht hatten, sind jetzt am Nachmittag auf dem Rückweg bepackt mit Fleisch, Obst und anderen Sachen, die offenbar in Weißrussland sehr viel teurer sind. Mehrmals täglich pendelt der Regionalzug zwischen der polnischen Bezirksstadt Biala Podlaska und Brest. Weiter als in den Bahnhof der weißrussischen Großstadt, nur wenige Hundert Meter hinter der Grenze, könnte der Zug sowieso nicht fahren. Ab hier Richtung Osten sind die Eisenbahnschienen 89 Millimeter breiter als in Westeuropa. Schon immer mussten daher in Brest die Waggons mühsam angehoben und auf andere Fahrgestelle montiert werden, wenn man mit dem Zug weiter Richtung Osten wollte.
Einige Kilometer weiter steht seit einigen Jahren die größte Grenzübergangsstelle zwischen Polen und Weißrussland. Der Hauptteil der Handelsströme zwischen West- und Osteuropa läuft durch dieses Nadelöhr.
Während dort mit neuester Technik jeder LKW durchleuchtet und geprüft wird, ist dieser Regionalzug die letzte Hoffnung der kleinen Schmuggler. Routiniert und geschickt verkleben und verstauen sie ihre Waren in vorbereiteten Hohlräumen. Überall sind die Verkleidungen schon demoliert oder hängen halb heraus gerissen von den Wänden.
Und während die Bahn langsam über holprige Schienen den Grenzfluss Bug überquert, beginnt eine witzig skurrile Inszenierung. Alle kennen sich offenbar, und auch das weißrussische Zugpersonal hilft tatkräftig die besten Verstecke zu finden, bevor nach etwa einer halben Stunde die polnischen Zöllner ihren Auftritt haben.
Die wissen natürlich auch, was gespielt wird und kontrollieren eher gelangweilt. Denn am nächsten Tag, das wissen auch sie, wird der Zug wieder voll sein mit genau den gleichen Leuten, die sich auf dem Hin- und Rückweg ein paar polnische Sloty oder weißrussische Rubel verdienen wollen.
Am Bahnhof müssen wir erst mal durch die Grenzkontrolle. Jedes Buch, jede Zeitschrift wird misstrauisch beäugt. Irgendwie erinnert viel an die frühere DDR Grenze. Dann endlich treffen wir Eugen Bialassin, der früher an der Universität in Brest Germanistik unterrichtete. Heute führt er uns durch seine Stadt, die in der europäischen und auch in der deutschen Geschichte mehrfach eine wichtige und dabei meist eine tragische Rolle spielte. Aber bevor es losgeht erklärt er uns erstmal, was es mit dem Namen der Stadt eigentlich auf sich hat.
"Es gibt eine Legende, eine Sage die meint, ein Kaufmann sei über den Fluss mit dem Boot gefahren und er habe Rast angelegt an der Zitadelle. Er war müde und er fand da einen Teil von Rinde von dem Ahornbaum und der Ahornbaum heißt auf slawisch Berast also Berastie, also war da eine Stelle, wo es sehr viele diese Rindereste waren und das soll also den Namen der Stadt gegeben haben."
Aus dem Berestie wurde dann im russischen Brest und um sich von anderen Städten mit gleichem Namen abzugrenzen hieß die Stadt später dann Brest Litowsk.
"Brest Litowsk ist durch eine benachbarte Stadt, Visoto Litowsk ganz verständlich. Visoto Litowsk heißt auch heute so und Brest Litowsk verdankt seinen Namen eigentlich einer Verwechslung von Brest in Frankreich und Brest hier."
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs heißt die Stadt wieder nur Brest. Mitten im Russland der Sowjetunion brauchte man wohl eine Verwechslung mit der Stadt in Frankreich nicht zu befürchten. In Deutschland aber kennt man die Stadt bis heute meist eher unter ihrem alten Namen, denn hier wurde 1918 der Friedensvertrag zwischen Deutschland und dem sowjetischen Russland geschlossen. Heute ist der Einfluss der Sowjetunion im Stadtbild noch überall spürbar. Eine Leninstatue weist in der Stadtmitte den Weg in die Zukunft und auch die Straßennamen erinnern an alte Zeiten, erklärt Eugen Bialassin, während wir die Hauptstrasse entlang schlendern.
"Jetzt gehen wir eine alte Straße der Stadt entlang, das ist heutzutage die Sowjetskastraße, also aus der gleichen Reihe wie Lenin und die Bolschewiki, deren Namen unsere Straßen tragen, die Sowjetskastraße, also die Rätestraße eigentlich."
Später haben wir uns mit Natascha, einer Studentin so Mitte Zwanzig verabredet, die an der Universität Brest Englisch studiert und uns einige Sehenswürdigkeiten zeigen möchte.
"Wenn man eine Karte hat, kann eigentlich nichts passieren. In Brest ist das ganz einfach: Die Strassen sind alle groß und rechteckig angelegt. Kleine Sträßchen, wo man sich verlaufen könnte, haben wir gar nicht. Es geht immer geradeaus. Aber wir sollten zur alten Stadt gehen, das ist viel interessanter. Da müssen wir zur Festung, wo an den Zweiten Weltkrieg erinnert wird."
Auf einer langen schnurgeraden Strasse gehen wir in Richtung der Gedenkstätte, deren Eingang, ein riesiges Tor in Form eines Sterns, man schon von Weitem erkennt. Auf dem Weg erzählt Natascha über die wechselhafte Geschichte ihrer Stadt, die seit ihrer Gründung im Jahre 1019 immer wieder den Besitzer gewechselt hatte.
"Das Problem mit Brest ist, dass es einen total verwirren kann, wenn man betrachtet zu wievielen Ländern die Stadt im Laufe der Geschichte mal gehört hat. Erst zur Ukraine. Dann waren wir vom 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts Teil der Republik Litauen, zu der Polen und Weißrussen gehörten. Und dann wurden wir Ende des 18. Jahrhunderts von Russland erobert."
Wir stehen jetzt mitten in der weiträumigen Festung, direkt am Fluss Bug. An einer Stelle deuten Mauerreste auf eine Kirche. Genau hier wurde 1596 die Unierte Kirche gegründet, die sich zwar zum Papst bekannte, aber gleichzeitig den orthodoxen Ritus pflegte. Damals gehört Brest zu Litauen, dann zu Polen und hier in der Stadt lebten die unterschiedlichen Religionen friedlich nebeneinander, erzählt Natascha.
"Genau hier war die alte Stadt. Hier standen zwölf unterschiedliche Kirchen, mit zwölf unterschiedlichen Glaubensrichtungen. Als wir von Russland erobert wurden Ende des 18. Jahrhunderts, wurde die ganze Stadt drei Kilometer nach Osten verlagert. Die Leute wollten natürlich ihre Häuser nicht verlassen, aber die wurden in Brand gesteckt. Die Kirchen wurden zu Pferdeställen oder Krankenhäusern. Alles andere wurde zerstört, und dann begann man hier, die Festung zu bauen."
Wo die historische Stadt gestanden hatte, wurde dann 1833 bis '38 die Festung gebaut, die dann später immer wieder eine wichtige historische Rolle spielen sollte. Ab 1916, als Deutschland im Ersten Weltkrieg weit nach Osten vorgestoßen war, war in der Festung Brest das Oberkommando des deutschen Heeres "Ost" stationiert. Und hier fanden dann auch im Dezember 1917, nachdem in Russland die Bolschewiki die Revolution gewonnen haben, die Friedensverhandlungen zwischen Deutschland und Russland statt. Für die Russen verhandelte Trotzki, der aber nach einigen Wochen die Verhandlungen abbrach, weil die Forderungen der Deutschen ihm völlig maßlos erschienen. Anfang März 1918 aber unterschrieben die Russen dann doch auf Druck von Lenin, da die militärische Lage für sie immer prekärer wurde. Im Friedensvertrag von Brest Litowsk trat Russland Gebiete mit etwa 30 Prozent seiner gesamten Bevölkerung und den größten Teil seiner damaligen Rohstoffvorkommen an Deutschland und seine Verbündeten ab. Aus russischer Sicht ein Desaster. Nur wenige Jahrzehnte später schrieb die Festung Brest wieder Geschichte, erzählt Natascha.
"Die Deutschen Truppen wurden von der sowjetischen Seite eingeladen. Daher war nur wenig zerstört. Es gab damals eine gemeinsame Parade auf dem Lenin-Platz mit Molotow und Ribbentropp. Aber zwei Jahre später kamen die deutschen Truppen wieder, diesmal als Feinde. Aber sie konnten die Festung einen Monat lang nicht einnehmen, weil sich so lange russische Soldaten in ihren Positionen halten konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, sagen die Leute, war das hier alles zerstört. Nur noch Ruinen, Ruinen, Ruinen."
Als Deutschland 1939 den Zweiten Weltkrieg begann, hatten die Nationalsozialisten sich vorher in einem geheimen Abkommen mit Russland geeinigt, dass man Polen aufteilen werde. Brest gehörte nach diesem Abkommen zu Russland, aber die deutschen Truppen überrannten die polnische Armee so schnell, dass die Wehrmacht schon nach gut zwei Wochen die Festung Brest eingenommen hatte. Hier warteten die nationalsozialistischen Generäle auf die Rote Armee, die von Osten her Polen besetzte. Am 21 September 1939 übergab die Wehrmacht die Festung an die Rote Armee unter den Klängen der Internationale. Die deutschen Truppen zogen sich über den Grenzfluss Bug zurück, bis das nationalsozialistische Deutschland dann im Juni 1941 auch die Sowjetunion angriff. Militärisch war die Festung da längst unbedeutend. Trotzdem aber verteidigten etwa 300 Rotarmisten das Areal noch über einen Monat. Daran erinnert heute, mitten auf dem Gelände, eine riesige überdimensionale Steinskultur. Davor lodert eine ewige Flamme neben den Gräbern der Soldaten, die bei der Verteidigung hier starben. Manche sind namenlos. An anderen Gräbern sind die Namen der Gefallenen zu lesen. Und daran, erklärt Natascha, erkenne man, dass die Soldaten, die damals hier kämpften und starben, aus der ganzen Sowjetunion stammten.
"Das sind die Namen der Soldaten, die man hier gefunden hat. Und wenn man die Namen liest, dann kann man daran erkennen, dass sie zu den verschiedensten Nationalitäten der 15 Republiken gehören. Georgier, Armenier, viele Russen, Vassiliew, Dawiediew, Andrejew, alles Russen. Butkor war bestimmt Ukrainer. Hier hieß einer Abdrachmanow, irgendwas Arabisches, und dann gibt es Gräber unbekannter Soldaten."
Nach einer Weile ruhigen Gedenkens vor dem Mahnmahl gehen wir zurück in die Innenstadt. Dort haben wir uns noch mal mit Eugen Bialassin verabredet. Wir treffen ihn vor dem größten Kino der Stadt.
An der Fassade werben große Plakate für das aktuelle Programm. Auch hier dominiert Hollywood. Drinnen, im Foyer, vertreiben sich viele Jugendliche ihre Zeit an Flippern und Spielautomaten. An der Kasse gibt es Süßigkeiten, wie überall in solchen Kinopalästen. Nichts, absolut gar nichts, deutet auf die frühere Nutzung dieses Hauses, von der uns unser Begleiter dann erzählt.
"Das größte Kinohaus, Kinotheater, es gibt Dolby-System, aber es war früher eine Synagoge gewesen. Das Gebäude blieb eigentlich erhalten nur die äußere Mauern, Wände angebaut wurden. Wenn man ganz genau hinsieht am Tage kann man sehen, dass das Gebäude ein Achteck ist, also ein achteckiges Gebäude."
Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, Ende der 30er-Jahre, lebten hier fast 22.000 Juden. Knapp die Hälfte der Bevölkerung war jüdisch. Und für fast alle von ihnen bedeutete der Einmarsch der deutschen Wehrmacht das Todesurteil. Nur zwei Wochen nach dem Überfall der deutschen Truppen, wurden mehrere Tausend jüdische Männer aus Brest abtransportiert und erschossen. Für die restlichen Juden richtete man dann im Herbst 1941 ein Ghetto ein. Genau hier, wo heute die Hollywoodstreifen laufen, erklärt Eugen Bialassin.
"Aber von dem Kinotheater kann noch folgendes erzählt werden. Das war auch das Zentrum des Ghetto zu den faschistischen Zeiten. Da weiter befindet sich ein Denkmal für die hier erschossenen Juden. Diese Sowjetska-Strasse war sehr stark von den Juden besiedelt. Sie hatten hier ihre Geschäfte und ihre Häuser, sie wohnten auch hier. Sehr viele Häuser bestehen auch heute. Es gibt Innenhöfe und die Architektur ist so alt geblieben wie sie war von jeher."
Ein paar Häuserblocks weiter, führt unser Begleiter uns in einen dieser unscheinbaren ziemlich heruntergekommenen Hinterhöfe. Hier nutzt die heutige jüdische Gemeinde ein paar Zimmer. In einem etwas größerem Raum werden die Gottesdienste gehalten. Daneben hat Boris Brook, der Vorsitzende der Gemeinde, ein älterer Herr so um die 70, ein keines Büro. Von der Blütezeit jüdischen Lebens, von der er zu erzählen beginnt, ist hier nirgendwo etwas spürbar.
"Unsere Gemeinde hat eine lange Geschichte. Zum ersten Mal wurden Juden in der Geschichte der Stadt Brest in den Dokumenten im 14. Jahrhundert erwähnt. Die Gemeinde war die erste auf dem Gelände des großen Litauischen Fürstentums, das durch den König Sigismund seine Privilegien erhielt. Sie war geschichtlich die wichtigste Gemeinde des Landes und ist bis heute eine der größten Gemeinden in Weißrussland. Das heißt, bis zum 22. Juni 1941, damals stellte die Gemeinde mehr als 45 Prozent der Bevölkerung unserer Stadt. Leider wurde die Gemeinde praktisch völlig vernichtet."
Von den über 22.000 jüdischen Einwohnern Brests lebten noch etwa zehn, als die Rote Armee im Juli 1944 die Stadt befreite. Heute verzeichnet die Gemeinde wieder etwa Tausend Juden in der Stadt. Aber eine Synagoge, die als Gotteshaus genutzt werden könne, habe die Gemeinde bis heute nicht, klagt Boris Brook, der bis zu seiner Pensionierung selber in der Roten Armee diente.
"Leider wurden zur Zeit der Sowjetmacht die Synagogen, die einst der Brester Gemeinde gehörten, an andere Organisationen gegeben. Eine der größten Synagogen in Europa, die Brester Choralsynagoge, wurde faktisch vernichtet. An der Stelle befindet sich ja jetzt das Kino Belarus. Außerdem ist in einer Synagoge eine Schule und in einer anderen der 'Club Progress', also Fortschritt, der von den Gewerkschaften genutzt wurde."
Ein Gesetz über die Rückgabe solcher Grundstücke gebe es in Weißrussland nicht, erklärt Boris Brook. Daher könne die jüdische Gemeinde das auch nicht fordern. Sie seien schon froh, dass die Stadt ihnen die Räume hier kostenlos überlasse. Aber sonst bekommen sie vom Staat keine Unterstützung. Die jungen Leute der Gemeinde, klagt Boris Brook, gingen heute fast alle ins Ausland. Nach Israel oder Amerika. Zurück bleiben die Alten, oft in ganz schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Um sie zu unterstützen, bekommt die Gemeinde etwas Geld von jüdischen Hilfsorganisationen aus den USA. Ohne deren Hilfe wüssten manche nicht, wie sie überleben könnten, erklärt Anna Kitaitsch, die in der Gemeinde für das verteilen der Lebensmitteln zuständig ist.
"Solche Lebensmittelpakete werden bei uns dreimal im Monat ausgegeben. Da sind verschiedene Sachen dabei. Heute zum Beispiel war das ein halbes Huhn, ein Kilo Gries, ein Kilo Zucker, verschiedene Obstsorten, Orangen, Zitronen und andere Sachen. Wir haben auch einige Zuckerkranke, die brauchen dann statt Süßigkeiten besondere Lebensmittel, die sie dann auch von uns bekommen."
Vielleicht werde die Stadt ihnen ja doch irgendwann eines der Grundstücke zurückgeben, damit sie dort wieder eine richtige Synagoge bauen können, erklärt man uns beim Abschied. Schließlich habe die Stadt sie ja auch unterstützt, als sie vor Jahren an die Stelle, wo früher das jüdische Gymnasium stand, eine Ehrentafel anbringen durften. Wir verabschieden uns und kommen auf dem Weg zum Bahnhof vorbei an der Bronzetafel, die an Menachem Begin, den späteren Ministerpräsidenten Israels, erinnert, der hier zur Schule gegangen war, bevor er vor den Deutschen nach Litauen floh und so sein Leben rettete.
Am Bahnhof geht es dann wieder zurück mit dem gleichen Zug, mit dem wir gekommen waren. Unsere Mitreisenden sind zum Großteil wieder die Gleichen wie bei der Einreise. Diesmal werden Zigaretten und Wodka in den Hohlräumen verstaut, während der Zug sich langsam in Bewegung setzt, vorbei an der Festung Brest mit all ihrer Geschichte und über den Grenzfluss Bug. Zurück nach Polen und hinein in das Europa der Europäischen Union.
Neugierig reihen auch wir uns in die Schlange am Bahnsteig, wo schon viele andere warten und mit uns den Zug Richtung Brest besteigen. Die Frauen, die morgens Alkohol und Zigaretten nach Polen gebracht hatten, sind jetzt am Nachmittag auf dem Rückweg bepackt mit Fleisch, Obst und anderen Sachen, die offenbar in Weißrussland sehr viel teurer sind. Mehrmals täglich pendelt der Regionalzug zwischen der polnischen Bezirksstadt Biala Podlaska und Brest. Weiter als in den Bahnhof der weißrussischen Großstadt, nur wenige Hundert Meter hinter der Grenze, könnte der Zug sowieso nicht fahren. Ab hier Richtung Osten sind die Eisenbahnschienen 89 Millimeter breiter als in Westeuropa. Schon immer mussten daher in Brest die Waggons mühsam angehoben und auf andere Fahrgestelle montiert werden, wenn man mit dem Zug weiter Richtung Osten wollte.
Einige Kilometer weiter steht seit einigen Jahren die größte Grenzübergangsstelle zwischen Polen und Weißrussland. Der Hauptteil der Handelsströme zwischen West- und Osteuropa läuft durch dieses Nadelöhr.
Während dort mit neuester Technik jeder LKW durchleuchtet und geprüft wird, ist dieser Regionalzug die letzte Hoffnung der kleinen Schmuggler. Routiniert und geschickt verkleben und verstauen sie ihre Waren in vorbereiteten Hohlräumen. Überall sind die Verkleidungen schon demoliert oder hängen halb heraus gerissen von den Wänden.
Und während die Bahn langsam über holprige Schienen den Grenzfluss Bug überquert, beginnt eine witzig skurrile Inszenierung. Alle kennen sich offenbar, und auch das weißrussische Zugpersonal hilft tatkräftig die besten Verstecke zu finden, bevor nach etwa einer halben Stunde die polnischen Zöllner ihren Auftritt haben.
Die wissen natürlich auch, was gespielt wird und kontrollieren eher gelangweilt. Denn am nächsten Tag, das wissen auch sie, wird der Zug wieder voll sein mit genau den gleichen Leuten, die sich auf dem Hin- und Rückweg ein paar polnische Sloty oder weißrussische Rubel verdienen wollen.
Am Bahnhof müssen wir erst mal durch die Grenzkontrolle. Jedes Buch, jede Zeitschrift wird misstrauisch beäugt. Irgendwie erinnert viel an die frühere DDR Grenze. Dann endlich treffen wir Eugen Bialassin, der früher an der Universität in Brest Germanistik unterrichtete. Heute führt er uns durch seine Stadt, die in der europäischen und auch in der deutschen Geschichte mehrfach eine wichtige und dabei meist eine tragische Rolle spielte. Aber bevor es losgeht erklärt er uns erstmal, was es mit dem Namen der Stadt eigentlich auf sich hat.
"Es gibt eine Legende, eine Sage die meint, ein Kaufmann sei über den Fluss mit dem Boot gefahren und er habe Rast angelegt an der Zitadelle. Er war müde und er fand da einen Teil von Rinde von dem Ahornbaum und der Ahornbaum heißt auf slawisch Berast also Berastie, also war da eine Stelle, wo es sehr viele diese Rindereste waren und das soll also den Namen der Stadt gegeben haben."
Aus dem Berestie wurde dann im russischen Brest und um sich von anderen Städten mit gleichem Namen abzugrenzen hieß die Stadt später dann Brest Litowsk.
"Brest Litowsk ist durch eine benachbarte Stadt, Visoto Litowsk ganz verständlich. Visoto Litowsk heißt auch heute so und Brest Litowsk verdankt seinen Namen eigentlich einer Verwechslung von Brest in Frankreich und Brest hier."
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs heißt die Stadt wieder nur Brest. Mitten im Russland der Sowjetunion brauchte man wohl eine Verwechslung mit der Stadt in Frankreich nicht zu befürchten. In Deutschland aber kennt man die Stadt bis heute meist eher unter ihrem alten Namen, denn hier wurde 1918 der Friedensvertrag zwischen Deutschland und dem sowjetischen Russland geschlossen. Heute ist der Einfluss der Sowjetunion im Stadtbild noch überall spürbar. Eine Leninstatue weist in der Stadtmitte den Weg in die Zukunft und auch die Straßennamen erinnern an alte Zeiten, erklärt Eugen Bialassin, während wir die Hauptstrasse entlang schlendern.
"Jetzt gehen wir eine alte Straße der Stadt entlang, das ist heutzutage die Sowjetskastraße, also aus der gleichen Reihe wie Lenin und die Bolschewiki, deren Namen unsere Straßen tragen, die Sowjetskastraße, also die Rätestraße eigentlich."
Später haben wir uns mit Natascha, einer Studentin so Mitte Zwanzig verabredet, die an der Universität Brest Englisch studiert und uns einige Sehenswürdigkeiten zeigen möchte.
"Wenn man eine Karte hat, kann eigentlich nichts passieren. In Brest ist das ganz einfach: Die Strassen sind alle groß und rechteckig angelegt. Kleine Sträßchen, wo man sich verlaufen könnte, haben wir gar nicht. Es geht immer geradeaus. Aber wir sollten zur alten Stadt gehen, das ist viel interessanter. Da müssen wir zur Festung, wo an den Zweiten Weltkrieg erinnert wird."
Auf einer langen schnurgeraden Strasse gehen wir in Richtung der Gedenkstätte, deren Eingang, ein riesiges Tor in Form eines Sterns, man schon von Weitem erkennt. Auf dem Weg erzählt Natascha über die wechselhafte Geschichte ihrer Stadt, die seit ihrer Gründung im Jahre 1019 immer wieder den Besitzer gewechselt hatte.
"Das Problem mit Brest ist, dass es einen total verwirren kann, wenn man betrachtet zu wievielen Ländern die Stadt im Laufe der Geschichte mal gehört hat. Erst zur Ukraine. Dann waren wir vom 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts Teil der Republik Litauen, zu der Polen und Weißrussen gehörten. Und dann wurden wir Ende des 18. Jahrhunderts von Russland erobert."
Wir stehen jetzt mitten in der weiträumigen Festung, direkt am Fluss Bug. An einer Stelle deuten Mauerreste auf eine Kirche. Genau hier wurde 1596 die Unierte Kirche gegründet, die sich zwar zum Papst bekannte, aber gleichzeitig den orthodoxen Ritus pflegte. Damals gehört Brest zu Litauen, dann zu Polen und hier in der Stadt lebten die unterschiedlichen Religionen friedlich nebeneinander, erzählt Natascha.
"Genau hier war die alte Stadt. Hier standen zwölf unterschiedliche Kirchen, mit zwölf unterschiedlichen Glaubensrichtungen. Als wir von Russland erobert wurden Ende des 18. Jahrhunderts, wurde die ganze Stadt drei Kilometer nach Osten verlagert. Die Leute wollten natürlich ihre Häuser nicht verlassen, aber die wurden in Brand gesteckt. Die Kirchen wurden zu Pferdeställen oder Krankenhäusern. Alles andere wurde zerstört, und dann begann man hier, die Festung zu bauen."
Wo die historische Stadt gestanden hatte, wurde dann 1833 bis '38 die Festung gebaut, die dann später immer wieder eine wichtige historische Rolle spielen sollte. Ab 1916, als Deutschland im Ersten Weltkrieg weit nach Osten vorgestoßen war, war in der Festung Brest das Oberkommando des deutschen Heeres "Ost" stationiert. Und hier fanden dann auch im Dezember 1917, nachdem in Russland die Bolschewiki die Revolution gewonnen haben, die Friedensverhandlungen zwischen Deutschland und Russland statt. Für die Russen verhandelte Trotzki, der aber nach einigen Wochen die Verhandlungen abbrach, weil die Forderungen der Deutschen ihm völlig maßlos erschienen. Anfang März 1918 aber unterschrieben die Russen dann doch auf Druck von Lenin, da die militärische Lage für sie immer prekärer wurde. Im Friedensvertrag von Brest Litowsk trat Russland Gebiete mit etwa 30 Prozent seiner gesamten Bevölkerung und den größten Teil seiner damaligen Rohstoffvorkommen an Deutschland und seine Verbündeten ab. Aus russischer Sicht ein Desaster. Nur wenige Jahrzehnte später schrieb die Festung Brest wieder Geschichte, erzählt Natascha.
"Die Deutschen Truppen wurden von der sowjetischen Seite eingeladen. Daher war nur wenig zerstört. Es gab damals eine gemeinsame Parade auf dem Lenin-Platz mit Molotow und Ribbentropp. Aber zwei Jahre später kamen die deutschen Truppen wieder, diesmal als Feinde. Aber sie konnten die Festung einen Monat lang nicht einnehmen, weil sich so lange russische Soldaten in ihren Positionen halten konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, sagen die Leute, war das hier alles zerstört. Nur noch Ruinen, Ruinen, Ruinen."
Als Deutschland 1939 den Zweiten Weltkrieg begann, hatten die Nationalsozialisten sich vorher in einem geheimen Abkommen mit Russland geeinigt, dass man Polen aufteilen werde. Brest gehörte nach diesem Abkommen zu Russland, aber die deutschen Truppen überrannten die polnische Armee so schnell, dass die Wehrmacht schon nach gut zwei Wochen die Festung Brest eingenommen hatte. Hier warteten die nationalsozialistischen Generäle auf die Rote Armee, die von Osten her Polen besetzte. Am 21 September 1939 übergab die Wehrmacht die Festung an die Rote Armee unter den Klängen der Internationale. Die deutschen Truppen zogen sich über den Grenzfluss Bug zurück, bis das nationalsozialistische Deutschland dann im Juni 1941 auch die Sowjetunion angriff. Militärisch war die Festung da längst unbedeutend. Trotzdem aber verteidigten etwa 300 Rotarmisten das Areal noch über einen Monat. Daran erinnert heute, mitten auf dem Gelände, eine riesige überdimensionale Steinskultur. Davor lodert eine ewige Flamme neben den Gräbern der Soldaten, die bei der Verteidigung hier starben. Manche sind namenlos. An anderen Gräbern sind die Namen der Gefallenen zu lesen. Und daran, erklärt Natascha, erkenne man, dass die Soldaten, die damals hier kämpften und starben, aus der ganzen Sowjetunion stammten.
"Das sind die Namen der Soldaten, die man hier gefunden hat. Und wenn man die Namen liest, dann kann man daran erkennen, dass sie zu den verschiedensten Nationalitäten der 15 Republiken gehören. Georgier, Armenier, viele Russen, Vassiliew, Dawiediew, Andrejew, alles Russen. Butkor war bestimmt Ukrainer. Hier hieß einer Abdrachmanow, irgendwas Arabisches, und dann gibt es Gräber unbekannter Soldaten."
Nach einer Weile ruhigen Gedenkens vor dem Mahnmahl gehen wir zurück in die Innenstadt. Dort haben wir uns noch mal mit Eugen Bialassin verabredet. Wir treffen ihn vor dem größten Kino der Stadt.
An der Fassade werben große Plakate für das aktuelle Programm. Auch hier dominiert Hollywood. Drinnen, im Foyer, vertreiben sich viele Jugendliche ihre Zeit an Flippern und Spielautomaten. An der Kasse gibt es Süßigkeiten, wie überall in solchen Kinopalästen. Nichts, absolut gar nichts, deutet auf die frühere Nutzung dieses Hauses, von der uns unser Begleiter dann erzählt.
"Das größte Kinohaus, Kinotheater, es gibt Dolby-System, aber es war früher eine Synagoge gewesen. Das Gebäude blieb eigentlich erhalten nur die äußere Mauern, Wände angebaut wurden. Wenn man ganz genau hinsieht am Tage kann man sehen, dass das Gebäude ein Achteck ist, also ein achteckiges Gebäude."
Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, Ende der 30er-Jahre, lebten hier fast 22.000 Juden. Knapp die Hälfte der Bevölkerung war jüdisch. Und für fast alle von ihnen bedeutete der Einmarsch der deutschen Wehrmacht das Todesurteil. Nur zwei Wochen nach dem Überfall der deutschen Truppen, wurden mehrere Tausend jüdische Männer aus Brest abtransportiert und erschossen. Für die restlichen Juden richtete man dann im Herbst 1941 ein Ghetto ein. Genau hier, wo heute die Hollywoodstreifen laufen, erklärt Eugen Bialassin.
"Aber von dem Kinotheater kann noch folgendes erzählt werden. Das war auch das Zentrum des Ghetto zu den faschistischen Zeiten. Da weiter befindet sich ein Denkmal für die hier erschossenen Juden. Diese Sowjetska-Strasse war sehr stark von den Juden besiedelt. Sie hatten hier ihre Geschäfte und ihre Häuser, sie wohnten auch hier. Sehr viele Häuser bestehen auch heute. Es gibt Innenhöfe und die Architektur ist so alt geblieben wie sie war von jeher."
Ein paar Häuserblocks weiter, führt unser Begleiter uns in einen dieser unscheinbaren ziemlich heruntergekommenen Hinterhöfe. Hier nutzt die heutige jüdische Gemeinde ein paar Zimmer. In einem etwas größerem Raum werden die Gottesdienste gehalten. Daneben hat Boris Brook, der Vorsitzende der Gemeinde, ein älterer Herr so um die 70, ein keines Büro. Von der Blütezeit jüdischen Lebens, von der er zu erzählen beginnt, ist hier nirgendwo etwas spürbar.
"Unsere Gemeinde hat eine lange Geschichte. Zum ersten Mal wurden Juden in der Geschichte der Stadt Brest in den Dokumenten im 14. Jahrhundert erwähnt. Die Gemeinde war die erste auf dem Gelände des großen Litauischen Fürstentums, das durch den König Sigismund seine Privilegien erhielt. Sie war geschichtlich die wichtigste Gemeinde des Landes und ist bis heute eine der größten Gemeinden in Weißrussland. Das heißt, bis zum 22. Juni 1941, damals stellte die Gemeinde mehr als 45 Prozent der Bevölkerung unserer Stadt. Leider wurde die Gemeinde praktisch völlig vernichtet."
Von den über 22.000 jüdischen Einwohnern Brests lebten noch etwa zehn, als die Rote Armee im Juli 1944 die Stadt befreite. Heute verzeichnet die Gemeinde wieder etwa Tausend Juden in der Stadt. Aber eine Synagoge, die als Gotteshaus genutzt werden könne, habe die Gemeinde bis heute nicht, klagt Boris Brook, der bis zu seiner Pensionierung selber in der Roten Armee diente.
"Leider wurden zur Zeit der Sowjetmacht die Synagogen, die einst der Brester Gemeinde gehörten, an andere Organisationen gegeben. Eine der größten Synagogen in Europa, die Brester Choralsynagoge, wurde faktisch vernichtet. An der Stelle befindet sich ja jetzt das Kino Belarus. Außerdem ist in einer Synagoge eine Schule und in einer anderen der 'Club Progress', also Fortschritt, der von den Gewerkschaften genutzt wurde."
Ein Gesetz über die Rückgabe solcher Grundstücke gebe es in Weißrussland nicht, erklärt Boris Brook. Daher könne die jüdische Gemeinde das auch nicht fordern. Sie seien schon froh, dass die Stadt ihnen die Räume hier kostenlos überlasse. Aber sonst bekommen sie vom Staat keine Unterstützung. Die jungen Leute der Gemeinde, klagt Boris Brook, gingen heute fast alle ins Ausland. Nach Israel oder Amerika. Zurück bleiben die Alten, oft in ganz schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Um sie zu unterstützen, bekommt die Gemeinde etwas Geld von jüdischen Hilfsorganisationen aus den USA. Ohne deren Hilfe wüssten manche nicht, wie sie überleben könnten, erklärt Anna Kitaitsch, die in der Gemeinde für das verteilen der Lebensmitteln zuständig ist.
"Solche Lebensmittelpakete werden bei uns dreimal im Monat ausgegeben. Da sind verschiedene Sachen dabei. Heute zum Beispiel war das ein halbes Huhn, ein Kilo Gries, ein Kilo Zucker, verschiedene Obstsorten, Orangen, Zitronen und andere Sachen. Wir haben auch einige Zuckerkranke, die brauchen dann statt Süßigkeiten besondere Lebensmittel, die sie dann auch von uns bekommen."
Vielleicht werde die Stadt ihnen ja doch irgendwann eines der Grundstücke zurückgeben, damit sie dort wieder eine richtige Synagoge bauen können, erklärt man uns beim Abschied. Schließlich habe die Stadt sie ja auch unterstützt, als sie vor Jahren an die Stelle, wo früher das jüdische Gymnasium stand, eine Ehrentafel anbringen durften. Wir verabschieden uns und kommen auf dem Weg zum Bahnhof vorbei an der Bronzetafel, die an Menachem Begin, den späteren Ministerpräsidenten Israels, erinnert, der hier zur Schule gegangen war, bevor er vor den Deutschen nach Litauen floh und so sein Leben rettete.
Am Bahnhof geht es dann wieder zurück mit dem gleichen Zug, mit dem wir gekommen waren. Unsere Mitreisenden sind zum Großteil wieder die Gleichen wie bei der Einreise. Diesmal werden Zigaretten und Wodka in den Hohlräumen verstaut, während der Zug sich langsam in Bewegung setzt, vorbei an der Festung Brest mit all ihrer Geschichte und über den Grenzfluss Bug. Zurück nach Polen und hinein in das Europa der Europäischen Union.