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Nahost
Die Langzeitfolgen des Terrors

Für die Intellektuellen im Nahen Osten ist die Bedrohung durch den Terror schon lange Alltag. "Die Situation in der ganzen Welt wird unserer immer ähnlicher", sagen sie. Zur deutschen Flüchtlingspolitik haben sie eine klare Haltung. Und sie sind sicher, dass die aktuelle Völkerwanderung nicht nur Europa, sondern auch den Nahen Osten verändern wird.

Von Christian Gampert | 27.12.2015
    Zu sehen ist ein zerstörtes Auto an einer Bushaltestelle, außerdem steigt eine Wasserfontäne aus dem Boden.
    Nach dem Anschlag: Die Polizei sichert den Ort, an dem ein Palästinenser in Jerusalem mit seinem Auto in eine Bushaltestelle raste. (picture-alliance / dpa / Abir Sultan)
    Seit den Anschlägen von Paris ist den meisten israelischen Intellektuellen klar, dass der Nahe Osten und Europa immer mehr zusammenrücken – auf absurde Weise. Die Bedrohung, mit der man in Israel schon seit vielen Jahren lebt, ist nun auch in Europa präsent; man will es da nur noch nicht wahrhaben, sagt der Choreograph Adi Sha'al von der "Vertigo Dance Company".
    "Die Situation in der ganzen Welt wird unserer, der israelischen Situation, immer ähnlicher. Das Traurige ist, man gewöhnt sich daran. Wir leben in einem Land mit permanenten Konflikten. Gestern haben wir hier auf einem Markt in Jerusalem getanzt. Zweihundert Meter entfernt, am Jaffa Gate wurde vor ein paar Tagen jemand erstochen. Aber das Leben geht weiter, das haben wir hier gelernt."
    Töten aus Rache
    Ganz so angespannt wie in Jerusalem ist die Lage in Europa noch nicht. Allerdings haben die Anschläge von Paris und die Jerusalemer Messerattacken eines gemeinsam: Bei der Rekrutierung der Attentäter und der Planung der Anschläge spielt das Internet eine große Rolle, sagt der Theaterleiter Barak Marshall. Es sei ein Kreislauf des Tötens.
    "Man kann das auf Facebook sehen. Die Leute, die zum Töten losziehen, wollen jemand anderen rächen, der beim Mordversuch an Israelis gestorben ist, oder sie wollen die Moschee schützen."
    Marshall bedauert nicht nur die israelischen Opfer, sondern auch die benachteiligten palästinensischen Jugendlichen, die genau wissen, dass sie bei ihren Attacken sterben werden. Sie seien ferngesteuert und fanatisiert, genau wie die Kämpfer des Islamischen Staats.
    "Es ist niederschmetternd, immer über die Schulter gucken zu müssen und nicht zu wissen, wo per Zufall etwas geschehen wird. Man ist gelähmt, wenn man sieht, was in Paris passiert ist. Da gibt es keinen Unterschied zu Israel. Und es ist pure Ideologie, die das Töten von Unschuldigen rechtfertigt."
    Der Tempelberg wird nur vorgeschoben
    Im Grunde, sagt Marshall, gebe es keinen konkreten Anlass für diesen neuen Terrorismus in Jerusalem. Die Verteidigung des Tempelbergs sei ein vorgeschobenes Motiv. Es herrsche einfach zu lange schon Stagnation in den Palästinensergebieten.
    "Ich denke, das ist die dritte Intifada. Man muss die Zahlen zur Kenntnis nehmen und sagen: das ist weit verbreitet. Es gab jetzt mehrere hundert Messerattacken. Man kann nicht sagen, die Intifada beginnt, wenn 20 Israelis oder 100 Palästinenser tot sind. Es ist eine Bewegung, die Intifada, und es ist ein Aufstand."
    Natürlich sieht man auch die Flüchtlingsbewegungen in Israel aus etwas anderer Perspektive als in Europa. Rachel Grodjinowsky, die die Auslandsbeziehungen für Israels größtes Kulturzentrum managt, das "Suzanne Dellal Center", hält die Deutschen schlicht für naiv, weil sie eine so große Zahl von Muslimen ins Land lassen. Der Soziologe Natan Sznaider von der Universität Tel Aviv dagegen befürchtet, dass Israel durch den Krieg in Syrien und die syrische Völkerwanderung irgendwann die Verhandlungspartner abhanden kommen.
    "Ich glaube, das wird in Langzeitperspektive Auswirkungen auf Israel haben. Wenn die gesamte syrische Mittelschicht nach Europa zieht, dann muss man sich fragen, wer in Syrien zurückbleibt."
    "Kein Mensch weiß, wie die Veränderung aussehen wird"
    Israel brauche aber, jenseits von Assad, das gebildete syrische Bürgertum für Langzeitlösungen am Golan und in der Region. Und auch in Syrien selbst würden diese Leute eigentlich dringend benötigt.
    "Diese Völkerwanderung aus dem Nahen Osten nach Europa wird ja nicht nur Europa von innen heraus verändern – und kein Mensch weiß noch, wie diese Veränderung genau aussehen wird. Aber es wird auch ganz klar den Nahen Osten verändern."
    Sznaider diagnostiziert eine Bewegung nach Europa, die der Auswanderung des 19.Jahrhunderts in die USA sehr ähnlich sei. Die Emigranten, egal ob politisch verfolgt oder nicht, wollten einfach ein besseres Leben. Dieses neue Selbstbewusstsein sei auch eine Folge der Digitalisierung: jeder habe ein Smartphone und könne sehen, wo die Zustände erträglich seien. Und es gebe ja nicht nur Muslime, die nach Deutschland wanderten.
    "Was ich Ihnen sagen kann: dass es ungefähr 20tausend junge Israelis gibt, die beschlossen haben, dass ihr Leben in Berlin besser aussieht als in Tel Aviv. Es ist ein Problem eines gewissen Milieus, das sich sagt, ich kann ein besseres Leben woanders führen."
    Israelis in Berlin, das einst das Zentrum des Bösen war – auch so eine Seltsamkeit des 21.Jahrhunderts.