Donnerstag, 25. April 2024

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Nawalny-Urteil
"An den Haaren herbeigezogen"

Der Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, Jens Siegert, hält das Urteil gegen den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny für eindeutig politisch motiviert. "Dort ist keine Straftat geschehen," sagte er im DLF. Dennoch glaube er nicht, dass Nawalny sich davon einschüchtern lasse.

Jens Siegert im Gespräch mit Marina Schweizer | 30.12.2014
    Nawalni im Gerichtssaal
    Der russische Oppositionsführer und Blogger Alexej Nawalny: "Er hat vorher auch schon gezeigt, dass er sich von Drohungen nicht einschüchtern lässt," meint Jens Siegert. (picture alliance / dpa / Dzhavakhadze Zurab)
    Marina Schweizer: Alexej Nawalny, bekannt als Blogger und Hoffnungsträger der russischen Opposition, hat sich vor allem als Kämpfer gegen Korruption einen Namen gemacht. Er hat Bestechung in höchsten Beamtenkreisen aufgedeckt. Die Justiz geht seit Jahren gegen ihn vor mit Prozessen, die stark umstritten sind. Viele fürchten, Nawalny solle schlicht mundtot gemacht werden. Die letzten Monate verbrachte Nawalny unter Hausarrest, und heute fiel wieder einmal ein Urteil. Die Staatsanwaltschaft wollte Nawalny zehn Jahre hinter Gittern sehen. Doch der Richterspruch fiel milder aus. Unsere Korrespondentin Gesine Dornblüth war vor Ort im Gerichtsgebäude. Und über die Zeichen, die dieses Urteil aussendet, möchte ich jetzt sprechen mit Jens Siegert, dem Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Guten Tag, Herr Siegert!
    Jens Siegert: Guten Tag!
    Erfassungsdatum: 12.07.2012
    Jens Siegert, Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung (picture alliance / Heinrich-Böll-Stiftung / Andrea Kroth)
    Schweizer: Herr Siegert, Alexej Nawalny hat kurz nach der Verkündung getwittert, von allen möglichen Urteilssprüchen war dies heute der niederträchtigste. Erst einmal klingt er aber ja vergleichsweise milde. Was denken Sie?
    Siegert: Das Niederträchtige liegt wahrscheinlich, oder was ich annehme, was Nawalny meint, ist, dass er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden ist, während sein Bruder, dem das Ganze wahrscheinlich gar nicht gilt, denn, wie Frau Dornblüth ja eben korrekt gesagt hat, das ist ein politischer Prozess, dass sein Bruder jetzt tatsächlich ins Lager muss, dass er tatsächlich jetzt eine Haftstrafe antreten muss. Das heißt also, auf Nawalny wird versucht, Druck auszuüben, auch politischen Druck auszuüben, indem man seine Verwandten bedrängt, seine Verwandten verfolgt.
    Schweizer: Warum ist das aus Ihrer Sicht ein politisch motivierter Prozess?
    Siegert: Ein politisch motivierter Prozess ist es erst mal wegen der Person, wegen der Person Nawalny, der in den vergangenen Jahren eine der wenigen öffentlichen Figuren in Russland ist, die es mit Putin im öffentlichen Raum haben aufnehmen können. Ich würde ihn nicht auf die gleiche Stelle stellen, aber von allen Oppositionsfiguren ist er derjenige, der am weitesten, am größten Zustimmung an einzelnen Punkten in der Bevölkerung bekommen hat. Das andere ist, Frau Dornblüth hat das eben auch schon gesagt, der Prozess ist einfach ausgesprochen zweifelhaft, nach allem, was ich weiß, nach allem, was ich dort verfolgen konnte - ich verfolge das sehr, sehr eng -, ist das einfach an den Haaren herbeigezogen. Dort ist keine Straftat geschehen. Das sagen auch viele Juristen. Es ist ein politischer Prozess.
    "Entschlossenheit wie Dissidenten aus der Sowjetzeit"
    Schweizer: Seine Popularität, die hat er ja auch über das Internet, unter anderem durch seinen Blog erreicht. Wie gefährlich ist er denn jetzt noch für Putin, oder andersherum gefragt: Ist er denn jetzt mundtot?
    Siegert: Mundtot ist er wahrscheinlich nicht. Er hat vorher auch schon gezeigt, dass er sich von Drohungen nicht einschüchtern lässt. Es hat ja vorher schon einen anderen Prozess gegeben, bei dem er auf fünf Jahre zur Bewährung verurteilt worden ist, und er hat trotzdem weiter gemacht. Er sitzt seit anderthalb Jahren in Hausarrest und findet trotzdem, obwohl er ein Verbot hat, sich auch über das Internet zu äußern, immer wieder Möglichkeiten, sich zu äußern, äußert sich politisch. Ich glaube, da ist er von der Energie her, von seiner Entschlossenheit her eher mit den Dissidenten aus der Sowjetzeit gleichzusetzen. Die haben sich auch nicht davon einschüchtern lassen, dass es ins Lager gehen konnte. So ist es auch bei Nawalny.
    Schweizer: Noch mal gefragt, stellt er immer noch eine Gefahr dar für Putin?
    Siegert: Ich denke, die Popularität Putins ist natürlich im Moment sehr groß. Das hat etwas mit der Annexion der Krim zu tun. Auf der anderen Seite hat das aber auch sehr stark damit zu tun, dass der öffentliche Raum fast vollständig vom Kreml kontrolliert wird, insbesondere das Fernsehen. Das Internet ist ein kleiner Bereich der Freiheit, es ist aber ein kleiner Bereich der Freiheit. Wie gefährlich Nawalny werden kann, hat er vor anderthalb Jahren gezeigt bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau, wo er aus dem Stand bei einem Wahlkampf, bei dem er nicht ins Fernsehen durfte, sondern den er auf der Straße geführt hat, 27 Prozent bekommen hat. Ich glaube, das ist etwas, was der Kreml wirklich fürchtet.
    Schweizer: Herr Siegert, nichtsdestotrotz ist es ja so, dass es Russland momentan wirtschaftlich nicht wirklich gut geht, und das ja eigentlich Boden bereiten könnte für Aufruhr im Land.
    Siegert: Natürlich, das kommt natürlich noch dazu, dass im Moment eine große Krise schon da ist, auch wenn die Leute das vielleicht noch nicht wirklich so merken. Aber Umfragen zeigen es schon, dass langsam die Stimmung ein wenig umkippt, und das macht natürlich die Leute im Kreml sehr nervös, sehr nervös im Bezug auf jegliche Form von Opposition. Ob das dann dazu führt, dass solche Leute wie Nawalny, die sich eher einem liberalen Flügel zugehörig fühlen oder andere Leute, die mit nationalistischen oder noch nationalistischeren Parolen kommen als Putin selbst, dann diese Unruhe und möglicherweise Unwillen in der Bevölkerung ausnutzen können, das ist eine andere Frage.
    "Opposition ist im Moment ganz schlecht aufgestellt"
    Schweizer: Der Wirtschaftsminister hat ja vor wenigen Tagen den Kurs der eigenen Regierung öffentlich kritisiert. Ist das vielleicht ein Zeichen in diese Richtung?
    Siegert: Nein. In der Regierung, die Leute, die im Moment in der Regierung um den Kreml herum sind, wenn die sich öffentlich kritisch äußern, dann hat das in der Regel nichts damit zu tun, dass sie sich in irgendeiner Weise sozusagen sich gegen Putin wenden, sondern das sind eher Versuche innerhalb des Machtzirkels mehr Einfluss zu bekommen. Man wendet sich dann an die Öffentlichkeit, um die eigene Stimmung, die eigene Warnung etwas stärker hören zu lassen. Das hat der Wirtschaftsminister in den vergangenen Wochen und Monaten schon öfter gemacht. Das ist nichts Neues.
    Schweizer: Herr Siegert, nun kennen Sie sich ja in der politischen Landschaft Russlands sehr gut aus und beobachten das auch seit einiger Zeit. Vielleicht können Sie uns kurz einmal ein bisschen erklären, wie die Opposition momentan generell aufgestellt ist in Russland, denn man hat ja so ein bisschen ein gespaltenes Bild.
    Siegert: Die Opposition ist im Moment ganz, ganz schlecht aufgestellt. Es gibt praktisch keine organisierte politische Opposition. Die ist systematisch vom Kreml in den vergangenen drei Jahren - vor drei Jahren gab es ja den großen Protestwinter -, in den vergangenen drei Jahren wieder sehr, sehr klein gemacht worden. Sie findet im Internet statt, sie findet manchmal auf kleineren Demonstrationen statt, sie findet in Sälen statt, in denen es Diskussionen gibt, aber sie hat keine große öffentliche Wirkung, ich wiederhole mich da, insbesondere, weil sie überhaupt keinen Zugang zum Fernsehen hat. Aber da das politische Regime ein populistisches ist, das eben auf der Popularität von Putin und auf nichts anderem fußt, ist es auch ein relativ instabiles. Es muss ständig sozusagen diese Popularität neu erschaffen und vergrößern. Sobald das nicht passieren wird, wird irgendwo eine oppositionelle Figur auftauchen. Das wird ein talentierter Politiker oder eine talentierte Politikerin, was unwahrscheinlicher ist, sein. Alexej Nawalny hat gezeigt, dass er so ein talentierter Politiker ist, deswegen wird gegen ihn vorgegangen.
    "Das Land geht schweren Zeiten entgegen"
    Schweizer: Dann kommen wir noch mal zurück auf Alexej Nawalny, der ja eine öffentlich agierende Leitfigur war und vielleicht auch noch bleiben wird. Dennoch, jetzt nach diesem Urteil: Wird diese Oppositionsbewegung, was prognostizieren Sie, wird diese Oppositionsbewegung jetzt ein Stück weit doch wieder einschlafen?
    Siegert: Noch mal, im Moment gibt es keine Oppositionsbewegung. Es gibt an einzelnen Stellen Opposition, Unwillen, der sich zeigt. Er wird sich vielleicht heute Abend in Moskau zeigen, wenn viele Leute auf die Straße gehen werden. Obwohl natürlich der 30. Dezember, also einen Tag vor Silvester, extra deswegen gewählt worden ist für die Urteilsverkündung, damit weniger Leute kommen. Aber es gibt im Moment nicht so etwas wie eine organisierte Oppositionsbewegung. Es gibt keine allgemein anerkannten Führerfiguren. Nawalny könnte eine werden, ist es aber im Moment nicht, und der Kreml tut alles oder zumindest sehr viel dafür, dass er es nicht wird. Andere Figuren sind dort nicht sichtbar. Auf dem nationalistischen oder auf dem eher konservativen Flügel versucht der Kreml selbst, Punkte zu machen. Insofern ist das ausgesprochen schwer vorherzusagen. Was man sagen kann, ist, dass das Land schweren Zeiten entgegengeht, und dass die Wahrscheinlichkeit, dass da irgendetwas passiert, wächst.
    Schweizer: Sagt Jens Siegert, der Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Vielen Dank für Ihre Einschätzung, Herr Siegert!
    Siegert: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.