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Neandertaler-Entwicklung
Verwickelte Sache

Paläoanthropologie. - Die Sierra de Atapuerca ist ein Gebirgszug in der spanischen Provinz Burgos. Dort finden seit 30 Jahren zahlreiche Ausgrabungen statt, denn hier lebten vor vielen 100.000 Jahren zahlreiche Frühmenschen. Besonders die Sima de los huesos, die Knochenkammer, gilt als einer der ganz besonderen Fundplätze. Über Funde aus der Frühzeit des Neandertalers berichtet jetzt die Zeitschrift "Science". Der Wissenschaftsjournalist Michael Stang fasst die Erkenntnisse im Gespräch mit Lennart Pyritz zusammen.

Michael Stang im Gespräch mit Lennart Pyritz | 20.06.2014
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    Juan Luis Arsuaga mit Fundstücken in der Sima de los huesos, Atapuerca. (Science/Madrid Scientific Films, Javier Trueba)
    Juan Luis Arsuaga: "In dieser Studie präsentieren wir jetzt eine erstaunliche Sammlung von Schädeln, insgesamt 17 Stück. All diese Frühmenschen haben dort zur selben Zeit gelebt. Nun ist klar, dass bestimmte anatomische Besonderheiten, die wir von Neandertalern kennen, sich nicht an einer Stelle entwickelt haben. Viel mehr sieht es danach aus, dass der Ursprung vielfältiger war und es verschiedene Populationen jener Zeit in der Sima de los Huesos gab."
    Pyritz: Was sind die Aussagen dieses Fundorts?
    Stang: Letztendlich geht es erstmalig um große Erkenntnisse zum Ursprung der Neandertaler und die neuen Ergebnisse lassen sich kurz zusammenfassen. Hören wir dazu ein Statement des anderen Haupt Autors, Ignacio Martinez, der schon seit 1984 in Atapuerca forscht:
    "Unsere Studie hat gezeigt, dass die Gruppe aus der Sima de los Huesos zu einer Gruppe aus der frühen menschlichen Linie gehört, zu der auch die Neandertaler gehörten. Das gibt uns neue Hinweise auf den Ursprung der Neandertaler."
    Stang: Also zusammengefasst bedeutet das: Vor 430.000 Jahren lebten verschiedene Neandertaler-Vorfahren zur selben Zeit am selben Ort und aufgrund der neuen anatomischen Erkenntnisse ist nun erstmals klar, dass sich bestimmte Neandertaler-Merkmale, die Forscher am Schädel ausmachen können, zu verschiedenen Zeiten entwickelt haben müssen. Während sich demnach Gesicht- und Kauapparat bereits deutlich hin zu den Neandertalermerkmalen, die man kennt, entwickelt haben, ähnelt der Hirnschädel noch stark den Funden aus früherer Zeit. Man muss auch sagen, es gibt bislang noch keine Funde eines solchen typischen Neandertaler-Hirnschädels, der älter ist als 200.000 Jahre. Kurz gesagt haben sich die typischen Neandertaler Eigenschaften nicht in einem Zug entwickelt, sondern nach und nach.
    Pyritz: Das widerspricht ja der alten Auffassung, nach der die Neandertaler auf eine Ursprungslinie zurückgehen. Diese These kann man jetzt ad acta legen?
    Stang: Genau, denn die Funde aus Atapuerca zeigen einfach, wie divers und unterschiedlich diese Frühmenschen damals waren. Es zeigt ja auch, dass die alte und einfache Vorstellung von einer geradlinigen Entwicklung hin zu einem Resultat, also hier zum klassischen Neandertaler, definitiv nicht das beschreibt, was in der Menschheitsentwicklung tatsächlich passiert ist. Und eigentlich verwundert das auch nicht, wenn man sich mal vor Augen hält: Der Neandertaler und auch unsere Vorfahren lebten mehrere 100.000 Jahre lang in Europa und Asien. Und wenn man sich diese lange Zeit und diese geographischen Distanzen vor Augen führt, liegt es ja auf der Hand, dass hier eine gewisse Vielfalt vorgelegen haben muss.
    Pyritz: In Atapuerca lebten vor 430.000 Jahren also verschiedene Vorfahren der Neandertaler. Wissen die Forscher denn zu welcher Menschenart die zu rechnen sind?
    Stang: Ja, da sind sie ein bisschen vorsichtig, weil das eine ganz schwierige Geschichte ist, weil man ja einfach zu einer sicheren Artbestimmung nicht nur Schädelmerkmale benötigt. Außerdem gibt es verschiedene Konzepte, ab wann man jetzt von bestimmten Arten spricht. Manche Forscher sagen auch, in Atapuerca sieht man bestimmte Neandertaler, die sprechen dann von Präneandertaler oder Protoneandertaler. Andere sagen, das ist eine Chronospezies, die man unter dem Namen Homo heidelbergensis kennt, also ein Menschentyp, der vor 600.000 bis 200.000 Jahren in Europa gelebt hat. Aber die spanischen Forscher sagen jetzt: Nein so ist es nicht. Sie verweisen auf einer Studie, über die wir hier vor einem halben Jahr auch in Forschung aktuell berichtet haben, und zwar waren das genetische Analysen, die zeigen, dass in der spanischen Höhle einst weder Neandertaler noch Vertreter von Homo heidelbergensis gelebt haben, sondern dass diese neuen DNA-Sequenz eine Ähnlichkeit zum Denisova-Menschen haben, der in Sibirien lebte. Alles ist also noch wesentlich komplizierter als gedacht, und man muss auch sagen: Das alles sind zusammen Hinweise, die alleine über die anatomische Analyse von Knochen nicht zu bekommen wären und das alles kann man zusammenfassend sagen, dass sich weder die Entwicklung des anatomisch modernen Menschen, also die des Homo sapiens, noch die des klassischen Neandertalers ganz einfach erklären lässt.