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Neonazi-Morde: Wunsch nach Ergebnissen

Heute wird in einem Staatsakt den Opfern der Neonazi-Terrorgruppe gedacht. Auch in der Türkei werden die Ermittlungen verfolgt. Ein Aufschrei der Empörung blieb dabei aus, wenn auch immer häufiger Ergebnisse gefordert werden.

Von Gunnar Köhne, Istanbul | 23.02.2012
    Als die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" aufflog, weilte Altan Öymen gerade in Berlin. Mit großem Staunen, so erinnert sich der 80jährige Istanbuler Publizist, habe er in der deutschen Presse gelesen, wie es den Neonazis gelungen war, zehn Jahre lang mordend durch das Land zu ziehen. Acht türkischstämmige Bürger zählen zu ihren Opfern. Doch in der türkischen Öffentlichkeit blieb ein Aufschrei der Empörung bislang aus. Öymen hat dafür folgende Erklärung:

    "Kommen rassistische Übergriffe in anderen Ländern vor, etwa in Frankreich, sind die Reaktionen viel harscher. Deutschland gegenüber ist die Öffentlichkeit gelassener. Das liegt sicher daran, dass viele von uns Verwandte in Deutschland haben, die auch Gutes berichten oder die "guten Deutschen" kennengelernt haben – entweder bei einem Besuch dort oder als Touristen hier. Es herrscht allgemein die Auffassung: Solche Randgruppen gibt es überall, die deutsche Regierung wird schon etwas dagegen tun."

    Das war auch der Tenor der politischen Reaktionen aus Ankara. Schon im vergangenen November besuchte der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu die Angehörigen eines Opfers in Hamburg und erklärte anschließend:

    "Was immer diese Familien an Unterstützung brauchen, werden sie vom türkischen Staat bekommen. Wir hoffen, dass diesen Familien Gerechtigkeit widerfährt und vertrauen darauf, dass die deutschen Behörden die dafür notwenigen Schritte unternehmen."

    Doch je weiter die Ermittlungen in Deutschland desto eindringlicher wurden die Appelle für eine vollständige Aufklärung der Anschläge – besonders die Rolle des deutschen Verfassungsschutzes solle geklärt werden, forderte vor Kurzem der stellvertretende Ministerpräsident Bekir Bozdag in einem Interview. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse stellten niemanden zufrieden. Es gebe noch offene Fragen, etwa nach möglichen Hintermännern und ob diese geschützt werden, meinte Bozdag. Von Ministerpräsident Erdogan ist nur eine Äußerung zum deutschen Neonazi-Terror bekannt: Berlin solle sich ein Beispiel an den Ergenekon-Ermittlungen der türkischen Justiz nehmen und mögliche Hintermänner in den Behörden festsetzen, bemerkte der Regierungschef. Unter dem Schlagwort "Ergenekon" wurde in den vergangenen Jahren eine vermeintliche nationalistische Verschwörergruppe in Staat und Militär festgesetzt.

    Altan Öymen, der in seinen Zeitungskommentaren immer wieder die deutsch-türkischen Beziehungen beleuchtet, ist sich sicher, dass seine Regierung nicht untätig ist und auf diplomatischem Wege auf einen besseren Schutz der Türken in Deutschland drängt. Doch offenbar wolle niemand die ansonsten guten deutsch-türkischen Beziehungen damit belasten. Allerdings sei die Geduld der türkischen Öffentlichkeit nicht unendlich. Die eingesetzten Untersuchungsauschüsse und die Ermittlungen der Justiz müssten auch Resultate bringen:

    "Wenn hier der Eindruck entsteht, dass die Aufklärung verschleppt wird oder die verbliebenen Täter mit einer milden Strafe davon kommen, dann könnte die Stimmung noch umschlagen. Entscheidend wird auch sein, dass sich solche rassistischen Verbrechen nicht wiederholen."

    Eine nach Aufdeckung der Mordserie durchgeführte Umfrage einer Ankaraner Universität ergab, dass die Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken in den deutschen Staat und seine Institutionen kein Vertrauen mehr hätten.

    Doch in der Türkei findet der bisherige, selbstkritische Umgang der Deutschen mit dem rechten Terror und seinen Folgen durchaus Anerkennung. So berichtete das Massenblatt Hürriyet in seiner gestrigen Ausgabe auf Seite 1 darüber, dass auf der heutigen Trauerfeier für die Neonazi-Opfer ein Gedicht des türkischen Autors Nazim Hikmet gelesen werden soll – auf deutsch und türkisch.