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Nervenumleitung in die Harnblase

Menschen, die querschnittsgelähmt sind, müssen mit zahlreichen Einschränkungen fertig werden. Viele können zum Beispiel auch ihre Blasenfunktion nicht mehr kontrollieren. Sie sind auf Hilfsmittel angewiesen: auf Katheter oder Windeln. Am Universitätsklinikum Tübingen haben Mediziner jetzt eine Operation durchgeführt, die diesen Patienten die Kontrolle über ihre Blasenfunktion zurückgeben soll.

Von Pia Grund-Ludwig |
    Tübinger Mediziner haben bei einem querschnittsgelähmten Patienten Nerven umgeleitet. Das Ziel: der Patient soll die Kontrolle über seine Blase zurückbekommen, die durch die Verletzung des Rückenmarks verlorenging. Die Läsion der Wirbelsäule verhindert, dass die Blase Informationen vom Gehirn bekommt. Die Nerven, die die Blase normalerweise versorgen, reagieren darauf überreizt, das Organ verkrampft. Um das zu ändern, hat das Ärzteteam von Neurochirurgen und Urologen der Universitätsklinik und der Berufsgenossenschaftlichen Klinik den sogenannten Reflexbogen der Blase umgeleitet.

    "Wir verlegen einen Nerven, der normalerweise für die Bewegung des Fußes zuständig ist zur Blase hin, so dass die Patienten mit diesem Nerven die Blase wieder kontrollieren können, indem sie das Gebiet, das dieser Nerv auf der Haut versorgt, dann reizen."

    erklärt Professor Marcos Soares Tatagiba, Ärztlicher Direktor an der Neurochirurgischen Klinik.

    "Der Patient muss dann dieses Hautgebiet am Bein reizen indem er dieses Gebiet kneift oder kräftig kratzt. Dann reagiert dieser Nerv über den Reflexbogen zur Blase hin."

    Durch diese Umleitung von Nerventeilen können die Patienten die Blasenentleerung durch einen äußeren Reiz auslösen. Die Steuerung der Blase wird also sozusagen vom Gehirn ins Bein verlegt. Es kann aber bis zu einem Jahr dauern, bis die Nerven ihre neue Aufgabe gelernt haben, warnen die Tübinger Experten. Das zeigen Erfahrungen in China und den USA. Mit der von dem chinesischen Professor Chuang Xiao entwickelten Methode wurden dort bereits mehr als hundert Patienten erfolgreich operiert. Tatagiba zur Methode seines Kollegen:

    "Das ist ein neurochirurgischer Eingriff, in dem ein Wirbelbogen geöffnet wird, eine Art Fensterung des Wirbelbogens, dann wird die Rückenmarkshaut geöffnet, dort sind im Bereich der Lendenwirbelsäule die Nerven, die die Beine, die Füße und auch die Blase versorgt, dann wird dieser Nerv, der den Fuß kontrolliert durchtrennt und zum Nerven, der die Blase kontrolliert verlagert."

    Durch den dreistündigen Eingriff bekommen Querschnittsgelähmte die Hoffnung auf ein deutliches Plus an Lebensqualität: Sie sind nicht mehr auf Hilfsmittel wie Katheter oder Windeln angewiesen und können deshalb einfacher als bisher etwas mit Freunden unternehmen oder am Arbeitsleben teilnehmen. Die Operation verhindert zudem Folgekrankheiten, betont Tatagiba:

    "Durch diese Maßnahme ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Blaseninfektion auftritt wesentlich geringer."

    Auch der Rückstau des Harns in die Niere lasse sich mit dem Eingriff leichter unterbinden. Der Eingriff kann auch längere Zeit nach einer Lähmung vorgenommen werden, in den USA lagen die Unfälle der mit dieser Methode operierten Menschen bis zu 15 Jahren zurück. Es empfehle sich sogar, einige Monate abzuwarten, da manche Funktionen wiederkommen, so Tatagiba. Die Operation eigne sich für

    "die querschnittsgelähmten Patienten vor allem bei sehr hohen Querschnittslähmungen im Bereich der Halswirbelsäule oder der Brustwirbelsäule und auch Kinder, die wegen einer Mißbildung so genannte Myelomeningocele mit offenem Rückenmark auch eine Rückenmarksschädigung haben, so dass bei ihnen die Blase auch nicht funktioniert."#

    In Zukunft, so hofft das Tübinger Ärzteteam, lässt sich das Verfahren auch für andere Organe verwenden. Denkbar wäre, dass auch der Schließmuskeln des Mastdarms von anderen Nerven gesteuert werden kann.