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Neudeck: Wahlen bedeuten Unruhe, Mord und Totschlag

"Die Menschen atmen auf, wenn diese Wahlen vorbei sind", meint Rupert Neudeck mit Blick auf die in drei Wochen stattfindenden Parlamentswahlen in Afghanistan. Die Menschen befürchteten Repressionen von Seiten der Taliban oder von Kriminellen, wenn sie wählen gingen.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 09.09.2010
    Christoph Heinemann: In drei Wochen wird in Afghanistan ein neues Parlament gewählt, aber unter welchen Voraussetzungen? Die Taliban bedrohen jeden mit dem Tod, der wählt, oder an den Wahlen teilnimmt, oder als Wahlhelfer fungiert. In einigen Orten werden keine Wahllokale eingerichtet, weil sie nicht vor Anschlägen geschützt werden können.

    Wir sind im Westen des Landes in Afghanistan mit Rupert Neudeck verbunden, dem Leiter und Gründer der Organisation "Grünhelme", die in Herat, im Westen, Schulen aufgebaut hat. Herr Neudeck, guten Morgen!

    Rupert Neudeck: Guten Morgen!

    Heinemann: Was erwarten die Menschen in Herat von den Parlamentswahlen, die bald jetzt stattfinden sollen?

    Neudeck: Herr Heinemann, die Menschen hier sind froh, wenn die Wahlen vorbei sind, weil Wahlen bedeutet in Afghanistan immer Unruhe, Mord und Totschlag, Gefährdung des alltäglichen Lebens, und deshalb ist der Wahlkampf eher eine Farce als etwas, was man mit demokratischen Verhältnissen vergleichen kann. Die Menschen atmen auf, wenn diese Wahlen vorbei sind und wenn sie wieder ihrem normalen Alltag entgegensehen können. Das ist die Erfahrung, die ich jetzt schon zum vierten Mal mache in Afghanistan, sowohl bei Präsidentschaftswahlen wie bei Parlamentswahlen. Wir hatten die Präsidentschaftswahlen, jeder weiß hier, dass die gefälscht worden sind, und wir haben jetzt die Parlamentswahlen, wo ganz viele reiche Leute sich als Kandidaten melden, aber es ist so große Unsicherheit, man weiß, dass Gegner der Verhältnisse, entweder die Taliban oder Hekmatyar-Leute, oder Kriminelle, wir wissen, dass die dagegen sind, dass überhaupt gewählt wird.

    Heinemann: Welche Meinung haben die Menschen von ihrem Parlament und ihren Parlamentariern?

    Neudeck: Das ist auch noch eine Geschichte, die dazu führt, dass Demokratie total diskreditiert wird in der Art, wie der Westen sie hier einführt. Die Afghanen fühlen sich geradezu zur Demokratie befohlen und der Präsident des Landes hat ja vor einem halben Jahr eine sogenannte Loja Dschirga einberufen als das bessere Parlament. Das ist das alte afghanische Beratungsgremium, was für das ganze Land zuständig war, und in dieser Loja Dschirga hat er dann versucht, die großen nationalen Fragen anzusprechen. Das heißt, die Bevölkerung weiß: Im Zweifelsfall ist das Parlament nicht so wichtig. Dennoch sind diese Positionen im Parlament sehr beliebt, weil sie sehr viel Geld bringen, sehr viel Macht bringen, auch sehr viel finanzielles Einkommen. Deshalb reißen sich die reichen Leute hier in Herat darum, Mitglied im Parlament zu sein, dann kann man auch ganz schnell ins Ausland gehen, ohne große Visaverzögerung. Das ist so etwa der Stand, unter dem man sehen muss, dass die afghanische Bevölkerung ihr eigenes Parlament sieht.

    Heinemann: Herr Neudeck, so weit zur politischen Analyse; jetzt zu Ihrer Arbeit. Es ist immer gesagt worden, die westlichen Schutztruppen oder die ISAF sind, operieren in Afghanistan eben unter anderem, um zu gewährleisten, dass Frauen, dass Mädchen in die Schule gehen können. Sind Ihre Schulen, sind die Gebäude, die Sie bauen, den Taliban ein Dorn im Auge?

    Neudeck: Der Vorzug, den wir haben bei unserer Arbeit in diesem riesengroßen Land Afghanistan, ist, dass wir im Westen des Landes bauen. Es gibt ja Provinzen unter den 34 Provinzen Afghanistans, die relativ frei bisher gewesen sind von Taliban. Ich gehe auch davon aus, dass die Unsicherheit hier nach den Parlamentswahlen wieder schwinden wird. Wir haben einen Distrikt ganz schulfertig gemacht. Wir haben heute die Eröffnung der 32. Schule in Dörfern der Provinz Herat, und das geschieht eigentlich unter Volksfestbedingungen. Das muss man auch wirklich so sagen.

    Die Bevölkerung hier hat einen großen Fortschritt zu vermelden und der besteht darin, dass unter den Eltern Afghanistans, unter den Älteren und unter den Müttern und Vätern afghanischer Kinder eine Sache ganz klar durchgegangen ist nach dem 30-jährigen Krieg, dass Mädchen auf die Schule gehen müssen und sollen. Deshalb haben wir in allen Schulen, die wir fertig gestellt haben, die ich jetzt auch besuche, Mädchen und Jungen, die in Schichtunterricht gehen. Also es gibt noch keine Koedukation, wie man auf Deutsch sagt, pädagogisch, sondern es gibt ein Hintereinander. Mädchen und Jungen gehen vormittags und nachmittags hintereinander in diese Schulen.

    Das ist ein großer Fortschritt, weil damit zum ersten Mal die Mädchen die große Chance haben, in diesen Bereichen, von denen ich jetzt spreche hier, wirklich Schulunterricht und Alphabetisierung zu haben und möglicherweise auch Anschluss an einen Beruf.

    Heinemann: Dank der Soldaten?

    Neudeck: Mit den Soldaten haben wir hier eigentlich gar nichts zu tun. Wir haben 2200 Italiener in Herat, in der Hauptstadt. Die liegen in einer riesengroßen Festung neben dem Flughafen und kein Mensch bekommt die eigentlich richtig zu sehen. Wir haben in den Dörfern überhaupt niemanden von den ISAF-Truppen, der sich da jemals blicken lässt, und deshalb gibt es da eigentlich eine ziemliche Enttäuschung unter der Bevölkerung. Sie hat von diesen 2000 italienischen Soldaten eigentlich gar nichts, nicht mal die Möglichkeit der Marketenderei von dem, was sie bekommen, also Einkauf der Truppen in Herat findet auch nicht statt. Das ist ein ziemliches Dilemma. Ich glaube, die westliche Staatengemeinschaft hat sich hier in eine Illusion hinein entwickelt, dass sie etwas tun könnte aus ausgegrenzten exterritorialen militärischen Kasernen. Das kann man nicht. Das ist eigentlich eine nutzlose Geldausgabe.

    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer und Leiter der Organisation "Grünhelme". Herr Neudeck, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.