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Neudefinition in Sicht

Physik. - Das Maß aller Massen befindet sich in einem Pariser Tresor. Das Urkilogramm ist ein Barren aus einer Platin-Iridium-Legierung, doch es soll demnächst durch einen anderen Vergleichskörper abgelöst werden.

Von Jan Lublinski |
    Eine dunkel glänzende Kugel aus Silizium-Kristall. Makellos poliert, knapp zehn Zentimeter hoch, ziemlich genau ein Kilogramm schwer, aufbewahrt in einem durchsichtigen Plexiglasbehälter an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, PTB, in Braunschweig.

    "Ich geh jetzt hier linksrum in diese Handschuhe rein. Die Kugel ist jetzt so positioniert, dass ich sie direkt mit diesem gereinigten Handschuh anfassen kann."

    Mit ruhiger Hand trägt Arnold Nicolaus die Kugel zu einem großen Labortisch, der überfüllt ist mit Linsen, Spiegeln und Glasfaserkabeln. Mittendrin: ein Sockel für die Kugel. Dieses nahezu perfekte Rund besteht aus 99,99-prozentigem Silizium-28. Hergestellt wurde das Material in einem russischen Zentrifugensystem, mit dem früher einmal Uran für Atombomben angereichert wurde. Nicolaus:

    "Es ist ein notwendiges Messobjekt. In dem Moment ist es für mich völlig egal, ob das Ding nun ein oder zwei Millionen Euro gekostet hat. Es stellt für mich sowieso ein sehr wertvolles Messobjekt dar. Und mit dem gehe ich so oder so ordentlich um. Also insofern gibt es da keine Aufregung oder feuchte Hände oder so etwas – die sowieso ja durch die Handschuhe abgeschirmt werden."

    Arnold Nicolaus und seinen Kollegen vermessen die Kugel in mehreren Speziallabors auf der ganzen Welt. Sie versuchen, möglichst exakt zu ermitteln, wie viele Silizium-Atome sich in der Kugel befinden. Das wäre ein großer Schritt, denn seit dem 19. Jahrhundert ist die Einheit der Masse über das Urkilogramm definiert: ein kleines Metallklötzchen, das sich in einem Safe in Paris befindet. Dieses aber wollen die Physiker gerne abschaffen, denn sie vermuten, dass sich seine Masse im Laufe der Jahrzehnte geringfügig ändert. Franz-Josef Ahlers von der PTB:

    "Man möchte ja als Basis der Einheiten, die man im praktischen Leben verwendet, etwas benutzen, was unabhängig von Ort und Zeit ist, und was überall das gleiche Messergebnis liefert, egal wie man das System herstellt."

    Nun soll die Silizium-Kugel aber nicht einfach nur das neue Urkilogramm werden. Vielmehr wollen die Physiker mit ihr bestimmen, wie viele Atome exakt ein Kilogramm ergeben: Über eine Vergleichswägung mit dem Urkilogramm können sie ermitteln, wie schwer die Kugel ist – und dann über die Zahl der Atome in der Silizium-Kugel per Dreisatz berechnen, wie viele Atome sich im Urkilogramm befinden.

    Die Kugel-Physiker stehen aber in einem scharfen wissenschaftlichen Wettbewerb: Britische und amerikanische Kollegen wollen das Kilogramm mit einer sogenannten Watt-Waage neu definieren: Dabei handelt es sich um eine High-Tech-Balkenwaage, mit Gewichten auf der einen Seite und einem speziellen Elektromagneten auf der anderen Seite. Mit einem solchen Experiment würde das Kilogramm nicht über die Zahl der Atome sondern über elektrische Messgrößen definiert werden. Ian Mills von der Universität Reading meint allerdings, dass man sich nicht nur auf eine Watt-Waage allein wird verlassen können.

    "I would suppose that there’ll be at least 3 or 4 really good watt balances. And they’ll each be used to weigh the mass of the international prototype."

    Er erwartet, dass man drei oder vier unabhängige Experimente mit Watt-Waagen brauchen wird. Erst dann könne man sicher sein, dass man die Masse des Urkilos richtig abgewogen hat. In den vergangenen Jahren hatten die Physiker allerdings ein noch größeres Problem: Die Messergebnisse der beiden konkurrierenden Verfahren - Watt-Waage und Silizium-Kugel – schienen sehr weit auseinander zu liegen. An eine Abschaffung des Urkilos war darum nicht zu denken. Jetzt aber hat sich die Lage geändert. Die Kugelphysiker haben einige ihrer Messverfahren überarbeitet und wiederholt. Ergebnis: Die Werte der beiden Experimente liegen nun sehr nah beieinander. Peter Becker von der PTB in Braunschweig.

    "Wir können wirklich mit gutem Gewissen sagen, dass wir da sicherlich noch ein Wörtchen mitreden können, wenn die Neudefinition des Kilogramms ansteht."

    Der Weg für die Abschaffung des Urkilos ist also frei - und im Jahr 2011 wird es ernst: Dann tagt die Weltversammlung der Maßhüter in Paris und entscheidet über mögliche Neuerungen in unserem Einheitensystem. Ob aber die Kugel oder die Wattwaage am Ende das Rennen macht, ist noch nicht entschieden. Gut möglich ist aber auch, dass beide Ansätze in der neuen Definition berücksichtigt werden.