Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister von Ingolstadt! Liebe Mitbürger! Sie haben gegen mein Stück "Pioniere in Ingolstadt" protestiert und es ein gemeines Machwerk, ein Schmähstück, ein Schandstück genannt. Warum denn gleich so hitzig? Sie haben ja die Aufführung nicht einmal gesehen, auch das Stück nicht gelesen, da es niemand zugänglich war: Waren Sie da nicht ein bißchen leichtsinnig, Herr Oberbürgermeister? [...]
Aus Ingolstadt schrieb man mir sogar, daß man mich dort totschlagen würde. Seid doch nicht so derb, liebe Leute. Es ist nicht fein, wenn man ein Mädchen totschlägt. Es ist auch dann noch nicht fein, wenn dies Mädchen zufällig in Berlin aufgeführt wird. Die Mädchen genießen heute größere Freiheit. Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Hexenprozesse. [...]
Es wird Frühling und die Säfte steigen. Mir scheint, daß Sie in dieser unruhigen Zeit an einem etwas bösen Furunkel leiden. Wenn dies Furunkel aufgegangen ist, werden Sie wieder gesünder sein. ... Marieluise Fleißer
Eigentlich wollte sie gar nicht provozieren. Sie schrieb nur über das, was sie sah, was sie empfand und was sie beschäftigte. Dies genügte allerdings, um sie ein Leben lang zwischen zwei Stühle zu setzen: einerseits ihre Wurzeln in kirchlichkonservativer Provinz, andererseits ihre Vorstellungen von der Liebe, der Literatur und dem Theater.
Eine spielerische Annäherung an die "Fleißerin" - wie Bertolt Brecht sie nannte - haben Elfi Hartenstein und Annette Hülsenbeck unter dem schönen Titel "Leben im Spagat" zusammengestellt.
Vielleicht ist dies überhaupt das Motto für den 100. Geburtstag von Marieluise Fleißer, "Leben im Spagat" - ein Leben zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen schriftstellerischer Ambition und materieller Not, zwischen einer Karriere in Berlin und ihrer Haßliebe zu Ingolstadt, hin- und hergerissen zwischen bravem Ehemann und künstlerischen Exzentrikern wie dem "linken" Macho Brecht und dem "rechten" Egomanen Draws-Tychsen -
In ihren Liebesbeziehungen war Fleißer auf der Suche nach dem Unbedingten, nach dem Überwältigtwerden durch eine höhere Macht. Sie sucht die Vitalität eines anderen, um sich daran reiben, um sich selbst spüren zu können, sie sucht durch das Genie Anregung und Förderung für ihr Schreiben. Marieluise Fleißer braucht für sich die Verbrüderung mit mächtigen anderen, allein fällt es ihr schwer, die Grenzen bürgerlicher Lebensvorstellungen zu überschreiten.
Durchaus kritische Einschätzungen und unkonventionelle Interpretationen machen den Reiz von Hartenstein/Hülsenbecks "Leben im Spagat" aus. Die beiden Autorinnen gaben ihrem großformatigen Text-Bild-Band den Untertitel "Eine biographische und literarische Collage mit Texten, Bildern und Fotografien von Marieluise Fleißer, Bertolt Brecht, Therese Giehse, Lion Feuchtwanger, Rainer Werner Fassbinder, Franz Xaver Kroetz und anderen."
Der Band huldigt keiner Jubilarin, sondern zeigt die "Fleißerin" in ihrer leidenschaftlichen Widersprüchlichkeit. Warum las sie einerseits so gerne Hemingway und fiel auf ichbesessene Männer wie Brecht herein? Und warum war sie andererseits immer wieder überrascht, von diesem Typ Mann eingeschränkt, bevormundet und ausgenutzt zu werden? Um sich vor Enttäuschungen zu bewahren, habe sich Marieluise Fleißer später mit Essays über männliche Genies begnügt. Ergänzt wird auch das Bild von Brechts Antipoden Hellmut Draws-Tychsen: Ohne ihn charakterlich aufzuwerten, schildern ihn die Autorinnen als zumindest literarisch aufgeschlossenen Gefährten Fleißers, der sich für den völlig verkannten Expressionisten Ernst Wilhelm Lotz und den krausen Bohèmien Paul Scheerbart eingesetzt hat.
Oft unter neuen Aspekten betonen Elfi Hartenstein und Annette Hülsenbeck - ganz im Sinne Brechts - jene Modernität des Werks, das Marieluise Fleißer selbst lange, viel zu lange in Frage gestellt hat.
Fast manisch beschäftigt sie sich [...] mit der Überarbeitung ihrer alten Texte für den Sammelband von Erzählungen, der 1969 bei Suhrkamp erscheint. Therese Giehse, die Freundin, findet diese Überarbeitungen schrecklich. Marieluises Angst, ihre Texte seien ‚altmodisch', teilt sie nicht, denn es ‚ kann nie altmodisch sein, was wirklich gut ist.
Anders als Carl-Ludwig Reicherts Fleißer-Biographie, die den Forschungsstand referiert und kundig auf Fragwürdiges und Unerforschtes hinweißt, erhebt die Collage der beiden Autorinnen keinen wissenschaftlichen Anspruch. Sie wenden sich an Laien und Leser der "Fleißerin", wollen ihr sachlich gerecht werden und sind doch unverhohlen subjektiv. Das macht den Charme dieser Collage aus.
Bürgerlich, fast bieder nach außen, im Kopf aber einen unbeugsamen Trotz gegen jede Form entwürdigender Anpassung das war die Fleißer, der man jetzt in ihrem Briefwechsel mit Kritikern, Verlegern, Regisseuren, Dramaturgen - vor allem aber mit ihren diversen, recht "diversen" Männern wieder begegnet.
Aus ihrer Korrespondenz spricht die sensible Zeitzeugin, die willenstarke Frau, aber auch die Schutz Suchende, die kompromißlos Liebende, aber auch die scheinbar zerbrechliche Künstlerin, die - trotz größter Geldnot - für ihre Art zu schreiben, kämpfte.
Herausgeber des "Briefwechsel 1925-1974" ist Günther Rühle. Er ist inzwischen siebenundsiebzig Jahre alt, möchte aber "seine Fleißer" keinem jüngeren Kollegen überlassen. Mit einem nachdenklichen Blick auf ihr Krankenbett des Jahres 1973 gipfelt Rühles Nachwort in der "klassischen" Formulierung:
Ihr Schriftwechsel ging damit zu Ende. Und kurze Zeit später auch ihr Leben.
Rühles Nachwort lenkt alle Aufmerksamkeit auf sich. Nicht, daß es brillant zu nennen wäre, im Gegenteil, es fasziniert durch bizarre Satzgebilde:
Das ‚Fräulein Fleißer', Studentin in München, hatte längst zu schreiben begonnen, bevor ihre Briefe davon zeugen konnten.
Dann ist's passiert:
Die entscheidenden Berührungen waren geschehen.
Zu den entscheidenden "Berührungen" - womit der Nachwortautor wohl "Begegnungen" meint - gehört bald schon Lion Feuchtwanger. Rühle stellt fest:
Die Berührung mit ihm wird zur lebenslangen Zuneigung und bringt ihr die mit dem jungen Brecht ein...
"Berührung" reiht sich an "Berührung" bis der Herausgeber zusammenfaßt:
Kurz: die Briefe aus dem Jahre 1925/26 benennen eine wunderbare Erscheinung im literarischen Feld. Natürlich hat sie Folgen. Nicht nur, weil Brecht die Hand nach ihr reckt und sie in seine Gefilde von Liebe zieht.
Was ist los mit Günther Rühle? Was ist los mit dem Suhrkamp Verlag? Ich erinnere mich nicht, jemals ein derart öde rekapitulierendes und schlampig formuliertes Nachwort gelesen zu haben. Auch Kritiker sollten erkennen, wann ihre Zeit vorüber ist, nicht nur Models und Leistungssportler - doch damit zurück zu Marieluise Fleißer, die ihrem Buch "Mehlreisende Frieda Geier", den schönen Untertitel gab: "Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen".
Um all das geht es auch in ihren Briefen. Die unbefangensten stammen von "Bepp" Haindl, dem Leistungsschwimmer aus "Frieda Geier". Mit ihm war die Adressatin verlobt, von ihm trennte sie sich, kam zurück, trennte sich wieder und heiratete ihn schließlich. Es ging nicht gut. Wie rührend sie aber miteinander umgingen, der brave Spießer aus der Provinz und die Skandalautorin aus der Klosterschule, und wie schonungslos sie einander verletzten, das erzählt der Briefwechsel authentisch und ungeschönt. Fleißers Neffe und Rechtsnachfolger Klaus Gültig entschied sich nach langem Zögern, auch sehr private Briefe, etwa von "Bepp" Haindl, dem Herausgeber nicht zu verweigern. Überhaupt verdanken wir viele der jetzt veröffentlichten Briefe Klaus Gültig.
Nachdem Tod von Marieluise Fleißer zog seine Mutter in die Wohnung ihrer Schwester. Alles blieb wie es war, nur ein paar Möbel kamen dazu. Als seine Mutter vor vier Jahren starb, entdeckte Gültig beim Räumen der Wohnung hinter Stoffballen rund sechshundert Briefe von und an Marieluise Fleißer. Ein sensationeller Fund. Es geht darin ums "Lieben und Verkaufen", um Trennungen und um den Tod, oft aber einfach um Alltäglichkeiten.
Herausgeber Günther Rühle wählte für seinen Band knapp fünfhundert von über zweitausend erhaltenen Briefen der Schriftstellerin aus.
Keine überzeugende Auswahl: Viele Schreiben - vor allem nach 1945 - beziehen sich zu sehr auf das "Verkaufen". Sie sind daher in erster Linie für die Rezeptionsgeschichte von Belang und hätten von Interessierten in den jeweiligen Archiven eingesehen werden können. Auch bedürfte manch einer der ausgewählten Briefe - für Leserinnen und Leser markiert - einer Kürzung. Ein Briefband ist kein Materialienband für Studenten und Dramaturgen.
Erwähnenswert ist, daß Fleißers Briefwechsel der Jahre 1925 bis 1974 keineswegs nur vom Verlag finanziert worden ist. AUDI, Ingolstadt und die Marieluise Fleißer-Gesellschaft haben den Suhrkampband gesponsert...
Neben Persönlichem, das Fleißers literarisches Werk illustriert, ist es vor allem ihr schriftlicher Dialog mit Zeitgenossen, der die Lektüre der Korrespondenz lohnt: mit den Kritiker-Dioskuren Herbert Ihering und Alfred Kerr, mit Lion Feuchtwanger, Hans Henny Jahnn und Robert Musil, mit ihren Freundinnen Helene Weigel und Therese Giehse - und natürlich mit Bertolt Brecht, ihrer großen Liebe.
Als er 1955 hörte, wie schlecht es ihr ging, fragte er vorsichtig an, ob sie nicht nach Ostberlin kommen wolle. Doch Marieluise Fleißer entschied sich für Ingolstadt. Sie fürchtete Brecht, Berlin und die Kulturfunktionäre der DDR. Marieluise Fleißer blieb sich treu.
Ingolstadt hat längst einen Oberbürgermeister ohne Furunkel, und wo man sie einst totschlagen wollte, hat man der Fleißerin ein Museum errichtet und feiert ihren 100. Geburtstag.
Aus Ingolstadt schrieb man mir sogar, daß man mich dort totschlagen würde. Seid doch nicht so derb, liebe Leute. Es ist nicht fein, wenn man ein Mädchen totschlägt. Es ist auch dann noch nicht fein, wenn dies Mädchen zufällig in Berlin aufgeführt wird. Die Mädchen genießen heute größere Freiheit. Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Hexenprozesse. [...]
Es wird Frühling und die Säfte steigen. Mir scheint, daß Sie in dieser unruhigen Zeit an einem etwas bösen Furunkel leiden. Wenn dies Furunkel aufgegangen ist, werden Sie wieder gesünder sein. ... Marieluise Fleißer
Eigentlich wollte sie gar nicht provozieren. Sie schrieb nur über das, was sie sah, was sie empfand und was sie beschäftigte. Dies genügte allerdings, um sie ein Leben lang zwischen zwei Stühle zu setzen: einerseits ihre Wurzeln in kirchlichkonservativer Provinz, andererseits ihre Vorstellungen von der Liebe, der Literatur und dem Theater.
Eine spielerische Annäherung an die "Fleißerin" - wie Bertolt Brecht sie nannte - haben Elfi Hartenstein und Annette Hülsenbeck unter dem schönen Titel "Leben im Spagat" zusammengestellt.
Vielleicht ist dies überhaupt das Motto für den 100. Geburtstag von Marieluise Fleißer, "Leben im Spagat" - ein Leben zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen schriftstellerischer Ambition und materieller Not, zwischen einer Karriere in Berlin und ihrer Haßliebe zu Ingolstadt, hin- und hergerissen zwischen bravem Ehemann und künstlerischen Exzentrikern wie dem "linken" Macho Brecht und dem "rechten" Egomanen Draws-Tychsen -
In ihren Liebesbeziehungen war Fleißer auf der Suche nach dem Unbedingten, nach dem Überwältigtwerden durch eine höhere Macht. Sie sucht die Vitalität eines anderen, um sich daran reiben, um sich selbst spüren zu können, sie sucht durch das Genie Anregung und Förderung für ihr Schreiben. Marieluise Fleißer braucht für sich die Verbrüderung mit mächtigen anderen, allein fällt es ihr schwer, die Grenzen bürgerlicher Lebensvorstellungen zu überschreiten.
Durchaus kritische Einschätzungen und unkonventionelle Interpretationen machen den Reiz von Hartenstein/Hülsenbecks "Leben im Spagat" aus. Die beiden Autorinnen gaben ihrem großformatigen Text-Bild-Band den Untertitel "Eine biographische und literarische Collage mit Texten, Bildern und Fotografien von Marieluise Fleißer, Bertolt Brecht, Therese Giehse, Lion Feuchtwanger, Rainer Werner Fassbinder, Franz Xaver Kroetz und anderen."
Der Band huldigt keiner Jubilarin, sondern zeigt die "Fleißerin" in ihrer leidenschaftlichen Widersprüchlichkeit. Warum las sie einerseits so gerne Hemingway und fiel auf ichbesessene Männer wie Brecht herein? Und warum war sie andererseits immer wieder überrascht, von diesem Typ Mann eingeschränkt, bevormundet und ausgenutzt zu werden? Um sich vor Enttäuschungen zu bewahren, habe sich Marieluise Fleißer später mit Essays über männliche Genies begnügt. Ergänzt wird auch das Bild von Brechts Antipoden Hellmut Draws-Tychsen: Ohne ihn charakterlich aufzuwerten, schildern ihn die Autorinnen als zumindest literarisch aufgeschlossenen Gefährten Fleißers, der sich für den völlig verkannten Expressionisten Ernst Wilhelm Lotz und den krausen Bohèmien Paul Scheerbart eingesetzt hat.
Oft unter neuen Aspekten betonen Elfi Hartenstein und Annette Hülsenbeck - ganz im Sinne Brechts - jene Modernität des Werks, das Marieluise Fleißer selbst lange, viel zu lange in Frage gestellt hat.
Fast manisch beschäftigt sie sich [...] mit der Überarbeitung ihrer alten Texte für den Sammelband von Erzählungen, der 1969 bei Suhrkamp erscheint. Therese Giehse, die Freundin, findet diese Überarbeitungen schrecklich. Marieluises Angst, ihre Texte seien ‚altmodisch', teilt sie nicht, denn es ‚ kann nie altmodisch sein, was wirklich gut ist.
Anders als Carl-Ludwig Reicherts Fleißer-Biographie, die den Forschungsstand referiert und kundig auf Fragwürdiges und Unerforschtes hinweißt, erhebt die Collage der beiden Autorinnen keinen wissenschaftlichen Anspruch. Sie wenden sich an Laien und Leser der "Fleißerin", wollen ihr sachlich gerecht werden und sind doch unverhohlen subjektiv. Das macht den Charme dieser Collage aus.
Bürgerlich, fast bieder nach außen, im Kopf aber einen unbeugsamen Trotz gegen jede Form entwürdigender Anpassung das war die Fleißer, der man jetzt in ihrem Briefwechsel mit Kritikern, Verlegern, Regisseuren, Dramaturgen - vor allem aber mit ihren diversen, recht "diversen" Männern wieder begegnet.
Aus ihrer Korrespondenz spricht die sensible Zeitzeugin, die willenstarke Frau, aber auch die Schutz Suchende, die kompromißlos Liebende, aber auch die scheinbar zerbrechliche Künstlerin, die - trotz größter Geldnot - für ihre Art zu schreiben, kämpfte.
Herausgeber des "Briefwechsel 1925-1974" ist Günther Rühle. Er ist inzwischen siebenundsiebzig Jahre alt, möchte aber "seine Fleißer" keinem jüngeren Kollegen überlassen. Mit einem nachdenklichen Blick auf ihr Krankenbett des Jahres 1973 gipfelt Rühles Nachwort in der "klassischen" Formulierung:
Ihr Schriftwechsel ging damit zu Ende. Und kurze Zeit später auch ihr Leben.
Rühles Nachwort lenkt alle Aufmerksamkeit auf sich. Nicht, daß es brillant zu nennen wäre, im Gegenteil, es fasziniert durch bizarre Satzgebilde:
Das ‚Fräulein Fleißer', Studentin in München, hatte längst zu schreiben begonnen, bevor ihre Briefe davon zeugen konnten.
Dann ist's passiert:
Die entscheidenden Berührungen waren geschehen.
Zu den entscheidenden "Berührungen" - womit der Nachwortautor wohl "Begegnungen" meint - gehört bald schon Lion Feuchtwanger. Rühle stellt fest:
Die Berührung mit ihm wird zur lebenslangen Zuneigung und bringt ihr die mit dem jungen Brecht ein...
"Berührung" reiht sich an "Berührung" bis der Herausgeber zusammenfaßt:
Kurz: die Briefe aus dem Jahre 1925/26 benennen eine wunderbare Erscheinung im literarischen Feld. Natürlich hat sie Folgen. Nicht nur, weil Brecht die Hand nach ihr reckt und sie in seine Gefilde von Liebe zieht.
Was ist los mit Günther Rühle? Was ist los mit dem Suhrkamp Verlag? Ich erinnere mich nicht, jemals ein derart öde rekapitulierendes und schlampig formuliertes Nachwort gelesen zu haben. Auch Kritiker sollten erkennen, wann ihre Zeit vorüber ist, nicht nur Models und Leistungssportler - doch damit zurück zu Marieluise Fleißer, die ihrem Buch "Mehlreisende Frieda Geier", den schönen Untertitel gab: "Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen".
Um all das geht es auch in ihren Briefen. Die unbefangensten stammen von "Bepp" Haindl, dem Leistungsschwimmer aus "Frieda Geier". Mit ihm war die Adressatin verlobt, von ihm trennte sie sich, kam zurück, trennte sich wieder und heiratete ihn schließlich. Es ging nicht gut. Wie rührend sie aber miteinander umgingen, der brave Spießer aus der Provinz und die Skandalautorin aus der Klosterschule, und wie schonungslos sie einander verletzten, das erzählt der Briefwechsel authentisch und ungeschönt. Fleißers Neffe und Rechtsnachfolger Klaus Gültig entschied sich nach langem Zögern, auch sehr private Briefe, etwa von "Bepp" Haindl, dem Herausgeber nicht zu verweigern. Überhaupt verdanken wir viele der jetzt veröffentlichten Briefe Klaus Gültig.
Nachdem Tod von Marieluise Fleißer zog seine Mutter in die Wohnung ihrer Schwester. Alles blieb wie es war, nur ein paar Möbel kamen dazu. Als seine Mutter vor vier Jahren starb, entdeckte Gültig beim Räumen der Wohnung hinter Stoffballen rund sechshundert Briefe von und an Marieluise Fleißer. Ein sensationeller Fund. Es geht darin ums "Lieben und Verkaufen", um Trennungen und um den Tod, oft aber einfach um Alltäglichkeiten.
Herausgeber Günther Rühle wählte für seinen Band knapp fünfhundert von über zweitausend erhaltenen Briefen der Schriftstellerin aus.
Keine überzeugende Auswahl: Viele Schreiben - vor allem nach 1945 - beziehen sich zu sehr auf das "Verkaufen". Sie sind daher in erster Linie für die Rezeptionsgeschichte von Belang und hätten von Interessierten in den jeweiligen Archiven eingesehen werden können. Auch bedürfte manch einer der ausgewählten Briefe - für Leserinnen und Leser markiert - einer Kürzung. Ein Briefband ist kein Materialienband für Studenten und Dramaturgen.
Erwähnenswert ist, daß Fleißers Briefwechsel der Jahre 1925 bis 1974 keineswegs nur vom Verlag finanziert worden ist. AUDI, Ingolstadt und die Marieluise Fleißer-Gesellschaft haben den Suhrkampband gesponsert...
Neben Persönlichem, das Fleißers literarisches Werk illustriert, ist es vor allem ihr schriftlicher Dialog mit Zeitgenossen, der die Lektüre der Korrespondenz lohnt: mit den Kritiker-Dioskuren Herbert Ihering und Alfred Kerr, mit Lion Feuchtwanger, Hans Henny Jahnn und Robert Musil, mit ihren Freundinnen Helene Weigel und Therese Giehse - und natürlich mit Bertolt Brecht, ihrer großen Liebe.
Als er 1955 hörte, wie schlecht es ihr ging, fragte er vorsichtig an, ob sie nicht nach Ostberlin kommen wolle. Doch Marieluise Fleißer entschied sich für Ingolstadt. Sie fürchtete Brecht, Berlin und die Kulturfunktionäre der DDR. Marieluise Fleißer blieb sich treu.
Ingolstadt hat längst einen Oberbürgermeister ohne Furunkel, und wo man sie einst totschlagen wollte, hat man der Fleißerin ein Museum errichtet und feiert ihren 100. Geburtstag.