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"Neue Chancen für Selbstbestimmung"

Nicht nur auf die Gefahren schauen, sondern auch auf die Chancen, empfiehlt Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, mit Blick auf die Situation in Libyen. Man sollte mit militärischen Optionen zurückhaltend umzugehen: Jeder Anschein müsse vermieden werden, dass der Westen erneut in einem arabischen Land intervenieren wolle.

Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 01.03.2011
    Dirk-Oliver Heckmann: US-Präsident Barack Obama scheint nicht bereit zu sein, die anhaltende Gewalt in Libyen zu akzeptieren. Das machte er in einem Telefonat mit Kanadas Premierminister Harper klar. Zuvor beriet er sich mit UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon.

    Am Telefon begrüße ich Wolfgang Ischinger, den Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, ehemals Botschafter in Washington. Guten Morgen, Herr Ischinger.

    Wolfgang Ischinger: Guten Morgen!

    Heckmann: Herr Ischinger, erst Tunesien, dann Ägypten, jetzt Libyen und eine ganze Reihe anderer Staaten in der Region. Abgesehen davon, dass viele Menschen aus Mitgefühl und Solidarität in die Region blicken, wie groß ist die Gefahr für die Sicherheit, die ausgeht?

    Ischinger: Natürlich bringt Wandel, bringt Revolution, bringt Bürgerkrieg, wie wir das jetzt auf dem Fernsehschirm miterleben können, Instabilitäten, Gefahren und Gefahren für den Ölpreis und so weiter mit sich. Aber ich denke, wir müssen sehr sorgfältig auch im Blick behalten, dass das, was sich hier seit Wochen vor unseren Augen abspielt, zunächst in Tunesien, dann in Ägypten, in anderen Staaten der arabischen Welt, und jetzt sicherlich auch in Libyen, dass das auch enorme Chancen enthält. Hier brechen Strukturen auf, hier setzt sich – ich will das Wort Volkswille gar nicht als großes Wort in den Mund nehmen -, hier setzt sich doch ein Bewusstsein durch, das auch neue Chancen für Selbstbestimmung und für größere Offenheit und vielleicht sogar für Demokratie bildet. Also ich denke, man sollte nicht nur auf die Gefahren schauen.

    Heckmann: Sie sprechen ganz bewusst von den Chancen, denn noch ist ja völlig ungewiss, ob es in Libyen wirklich ein glückliches Ende der Entwicklung nimmt. Herr Ischinger, die USA hatten ja bereits vor Tagen Sanktionen verhängt. Selbst der UNO-Sicherheitsrat hat sich sehr schnell auf Strafmaßnahmen einigen können, obwohl etwa China mit ins Boot genommen werden musste. Gestern erst folgte die Europäische Union. Ist die EU also dabei, einmal mehr zu versagen in dieser Krise?

    Ischinger: Das würde ich so nicht sagen. Ich muss gestehen, ich war vom Krisenmanagement der EU in der Ägypten-Krise nicht beeindruckt. Da waren wir anscheinend nicht fähig, rechtzeitig sofort das Gespräch mit allen Beteiligten zu suchen, das überließ man den USA.

    Heckmann: Nicht fähig, oder nicht willens?

    Ischinger: Vielleicht weder noch. Jetzt in der aktuellen Entwicklung in Libyen kann ich nicht erkennen, dass die Europäische Union den Dingen hinterherhängt. Natürlich ist es immer zu 27 ein kleines bisschen schwieriger, den Konsens herzustellen, als wenn man das alleine in Washington im Situation Room des Weißen Hauses entscheiden kann, aber ich denke, die EU liegt jetzt sicher richtig. Ich denke allerdings, dass diejenigen recht haben, die vor allzu lockerem Umgang mit dem Thema der militärischen Intervention warnen, denn schlussendlich ist doch das, was sich hier vollzieht, eine arabische Selbstverwirklichung und es wäre ganz schlimm, wenn sich hinterher die Legende bilden lassen könnte, hier habe mal wieder – ich weiß es nicht – die CIA, die USA, die NATO, der Westen die Hand im Spiele gehabt und die Dinge von außen manipuliert. Das wäre ganz, ganz schlimm. Deswegen, glaube ich, muss man sehr, sehr vorsichtig und sehr zurückhaltend mit potenziellen militärischen Optionen umgehen.

    Heckmann: Ein Pentagon-Sprecher hat gestern angekündigt, dass die US-Armee ihre Marine- und Luftwaffeneinheiten um Libyen herum umgruppiere, für den Fall, dass entsprechende Entscheidungen getroffen würden. Sie haben sie gerade eben erwähnt, die militärische Option ist weiterhin auf dem Tisch. Kündigt sich damit ein Eingreifen der Amerikaner an?

    Ischinger: Ich denke, es kann natürlich nicht falsch sein für die USA, aber auch für uns, für Europa, für den Worst Case, nicht wahr, wie man so schön sagt, für den schlimmsten Fall zu planen. Was wäre denn, wenn es tatsächlich zu schlimmsten massenhaften Massakern kommen würde?

    Heckmann: Diesen Punkt sehen Sie jetzt noch nicht erreicht? Diese Schwelle ist für Sie noch nicht überschritten, dass die internationale Gemeinschaft wirklich einschreiten müsste wie im Kosovo beispielsweise 99?

    Ischinger: Es ist ganz schwer, hier die Linie zu definieren, ab der man einschreiten sollte. Ich denke, die Grenze für eine sogenannte humanitäre Intervention, die darf man aber nicht fahrlässig niedrigsetzen, sondern man muss sich darüber im Klaren sein, was man da tut. Zunächst mal wäre ja die Frage, liegt dafür ein Mandat vor. Wir haben ein Mandat der Vereinten Nationen jetzt für umfassende wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen und so weiter. Eine Flugverbotszone alleine ist auch vermutlich keine hinreichende Lösung. Denken Sie daran, dass wir nicht den Fehler machen dürfen, die Option sozusagen nur aus westlicher Sicht durchzuspielen. Wir brauchen, wie übrigens bei allen anderen Krisen, egal ob das auf dem Balkan oder in Afghanistan war, immer den regionalen Ansatz. Wie reagieren denn die Nachbarstaaten? Was sind deren Interessen? Lassen die sich ins Boot, in unser Boot holen? Kann man mit ihnen gemeinsam eine Politik zur Stabilisierung der Region, zur Eindämmung der Vorgänge in Libyen konstruieren ja oder nein? Das ist in dieser Region angesichts der Ereignisse in Tunesien, im Sudan und so weiter zurzeit sicherlich besonders schwierig, aber trotzdem bleibt es immer richtig, immer ein gutes Rezept, die Staaten der Region, die Nachbarstaaten in jede Form der Intervention, in jede Form des gemeinsamen Vorgehens mit einzubeziehen.

    Heckmann: Aber, Herr Ischinger, muss eine Flugverbotszone nicht wirklich endlich her, damit die Gaddafi-Treuen nicht die Demonstranten weiter bombardieren und damit nicht weiterhin Söldner eingeflogen werden, die das Regime stabilisieren?

    Ischinger: Ich habe kein Problem mit der Vorstellung einer Flugverbotszone, aber ich weise darauf hin, dass eine Flugverbotszone natürlich voraussetzt, um Ihren Punkt aufzugreifen, dass Söldner dann nicht etwa über die sudanesische Grenze von Süden aus oder von wo auch immer weiter nach Libyen hereingeholt werden können. So etwas setzt voraus, dass man einen umfassenden Ansatz hat und dass man weiß, was man macht. Wir dürfen nicht gestikulieren und deswegen noch einmal: Es ist sicher richtig, solche Optionen durchzuspielen, es ist aber genauso wichtig und richtig, dass der Westen jeden Anschein vermeidet, hier erneut in einem arabischen Land zu intervenieren, solange nicht der Zwang, sozusagen der moralisch-humanitäre Zwang überwältigend groß ist und solange nicht aus der arabischen Welt heraus, von den Nachbarstaaten dieser Druck mit uns geteilt wird. Ich rate also hier zu großer Vorsicht und Zurückhaltung, nicht einfach intervenieren.

    Heckmann: Der Westen hat die Diktatoren der Region mit Milliarden unterstützt in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, diese Diktatoren, gegen die die Menschen jetzt aufbegehren. Brauchen wir also insofern eine völlig neue Politik gegenüber den Mittelmeer-Anrainern? Wie müsste die aussehen und wird die wirklich kommen aus Ihrer Sicht?

    Ischinger: Wissen Sie, Herr Heckmann, es ist das schwierigste Thema der Außenpolitik und der Krisenpolitik, zwischen der Notwendigkeit einer realpolitischen Steuerung der Tagespolitik und der Verwirklichung hehrer moralischer, humanitärer Ziele die richtige Balance herzustellen. Ich erinnere zum Beispiel daran, dass in einer extremen Notlage der Bundesrepublik Deutschland vor etwa einem Dutzend Jahren, vor zehn oder elf Jahren, ausgerechnet die Regierung Gaddafi uns geholfen hat. Damals, als die deutsche Familie Wallert von Rebellen auf den Philippinen mit dem Tode bedroht war und uns eigentlich keine Mittel zur Verfügung standen, um diese Familie aus dieser Lage zu befreien, kam Hilfe, kam Rat aus Libyen – sicherlich nicht aus altruistischen Gründen, sondern um sich eine weiße Weste zu verschaffen im Westen. Aber war es falsch, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen? War es falsch, damals die Hand Gaddafis zu schütteln als Preis dafür, die Familie Wallert frei zu bekommen?

    Ich denke also, auch hier muss man sozusagen das Maß behalten. Wir müssen natürlich mit Regimen zusammenarbeiten in vielen Teilen der Welt, mit denen man am liebsten nichts zu tun haben wollte. Ich habe kürzlich in einem Zeitungsaufsatz geschrieben, wenn wir mit all denen, die Diktatoren sind, die Menschenrechte massiv verletzen, nicht zusammenarbeiten wollten, dann müssten wir die Beziehungen zu etwa der Hälfte der Welt einfrieren. Das kann die Antwort leider ja auch nicht sein.

    Heckmann: Über die Lage in Libyen und die Optionen, die auf dem Tisch liegen, haben wir gesprochen mit Wolfgang Ischinger, dem Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. Herr Ischinger, ich danke Ihnen für das Gespräch!

    Ischinger: Danke Ihnen sehr!

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