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Neue Forschungen zum 40. Todestag von Ho Chi Minh

Den Namen des kleinen Mannes auf der Rednertribüne kannte kaum jemand. Trotzdem waren fast eine Million Menschen am Morgen des 2. September 1945 auf den Ba-Dinh Platz in Hanoi geströmt.

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann | 03.09.2009
    "Vietnam hat das Recht, frei und unabhängig zu sein, und ist tatsächlich frei und unabhängig geworden. Das vietnamesische Volk ist entschlossen, all seine geistigen und materiellen Kräfte aufzubieten, Leben und Besitz zu opfern, um sein Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit zu behaupten."

    Als Ho Chi Minh war der Redner angekündigt worden, in den Jahren zuvor hatte er sich Nguyen Ai Quoc genannt. Auch so hieß er nicht wirklich, aber unter diesem Namen war er 1919 in Versailles schon einmal vor die Weltöffentlichkeit getreten, um die Loslösung seiner Heimat von der Kolonialmacht Frankreich zu fordern. Damals wollte niemand ihn anhören. Bald verschwand er wieder im Untergrund, wo er, verfolgt vom französischen Geheimdienst, immer wieder seine Spuren verwischte und seinen Namen wechselte. Historiker schreiben ihm heute 50 bis 60 Pseudonyme zu und können weite Abschnitte seines Lebens immer noch kaum nachvollziehen.
    Ein gutes Jahr nach dem Auftritt in Hanoi tauchte er schon wieder im Dschungel unter. Frankreich wollte Vietnam nicht aus seinem Kolonialreich entlassen und begann deswegen den ersten Indochinakrieg. Der Rest der Welt schaute tatenlos zu.

    "Ho, Ho, Ho Chi Minh!"

    Weltberühmt wurde er Ende der 60er-Jahre. Die Franzosen hatte er da längst besiegt und im Norden des Landes eine sozialistische Volksrepublik ausgerufen. Jetzt wollten die USA Vietnam im Kampf gegen den Kommunismus, wie sie sagten, in die Steinzeit zurückbomben.

    Aus Protest gegen diesen Krieg gingen rund um den Globus Studenten auf die Straße. Auch Wolfgang Kraushaar war dabei, der heute am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitet. Wie viele seiner Generation hätte auch er schon damals gerne mehr über den hageren alten Mann mit dem langen Kinnbart gewusst.

    "Ho Chi Minh ist so etwas wie die Verkörperung des Anti-Kolonialismus gewesen und zur Zeit des Vietnamkrieges die Verkörperung der Gegnerschaft zum US-Imperialismus. Und gleichzeitig jemand, der für ein einfaches Volk auftrat und jemand, der keine Art von Reichtum oder von Protzerei und sonst irgendetwas an den Tag gelegt hat, sondern sehr asketisch gewesen sein muss, das sind so Assoziationen, die es damals gab. Das Wissen über Ho Chi Minh ist sehr begrenzt gewesen. Es sind im Grunde mehr Schlagworte oder Stichworte gewesen."

    Und dabei ist es weitgehend geblieben. Ho Chi Minh starb am 2. September 1969, die USA zogen 1973 ihre Truppen ab, seit 1975 war ganz Vietnam kommunistisch. Die Partei riegelte das Land nach außen ab, Ho geriet im Westen wieder in Vergessenheit.
    Mit Pièrre Brocheux und William Duiker legten vor knapp zehn Jahren zwar unabhängig voneinander zwei Historiker Biografien von ihm vor. Doch weil sie sich vorwiegend auf französische Quellen stützen mussten, weiß die Forschung bis heute nicht genau, welche persönlichen und ideologischen Motive Ho Chi Minh antrieben, konstatiert Wolfgang Kraushaar.

    "Ich glaube, das Entscheidende an Ho Chi Minh ist dessen Unabhängigkeitswille gewesen. Wenn man so will, kann man ihn als einen Nationalisten bezeichnen. Er war sicherlich aber auch ein überzeugter Marxist und Kommunist geworden in den 20er-Jahren. Die Frage, wie Ho Chi Minh einzuordnen ist, ist häufig erörtert worden, auch unter Biografen... und die ist bis auf den heutigen Tag nicht wirklich gelöst, diese Frage."

    Rechtzeitig zu Hos 40.Todestag soll eine neue Biografie Licht ins Dunkel bringen. Der Autor, Hellmut Kapfenberger, war als Korrespondent der DDR-Nachrichtenagentur ADN insgesamt zehn Jahre in Vietnam.

    Die Frage, Nationalist oder Kommunist beantwortet er in gelernter dialektischer Manier.

    "Sein Ideal war die nationale Befreiung. Vietnam muss frei werden, der Kolonialismus muss überwunden werden. Die kommunistische Partei war die führende Kraft. Es hat in den 30er-Jahren und Anfang der 40er in Vietnam keine andere politische Kraft gegeben, die das Land in die Unabhängigkeit hätte führen können. Es konnte nur die kommunistische Partei machen."

    Der Nationalist musste Kommunist werden, um als Nationalist erfolgreich sein zu können.

    Diese These durchzieht Kapfenbergers Schilderung von Hos Leben: aufgewachsen in einer Lehrerfamilie in Hué, schon als Schüler Teilnahme an illegalen patriotischen Versammlungen, mit 21 Flucht nach Frankreich, später Stationen in mindestens acht weiteren Ländern, im Gepäck die Schriften Lenins, den er zu seinem Vorbild erklärte.

    "Es gibt kein Tagebuch von ihm. Ho Chi Minh selbst hat einmal eine Arbeit zu Papier gebracht, ... 'L'Oncle Ho'. Dort, ... unter einem Pseudonym, sind Skizzen aus dem Leben eines Mannes beschrieben, ... als hätten das Augenzeugen zum Besten gegeben. Inzwischen weiß jeder, Ho Chi Minh in der dritten Person hat das selbst zu Papier gebracht. Das ist allerdings in Vietnam nie gesagt worden. Es ist mir auch gesagt worden, sag das bitte nicht so. Warum weiß ich nicht. Aber es gibt von ihm selbst ganz, ganz wenig bis auf diese skizzenartigen Aufzeichnungen, in denen er selbst sagt und nun reißt der Film wieder ab, nun wissen wir wieder nicht mehr, wo er war – schreibt er selbst. ... Bei Ho Chi Minh ist ... ganz offenkundig, dass auch die vietnamesische Geschichtsschreibung noch große Lücken hat."

    Die Partei braucht ihn als Integrationsfigur. In Hanoi hat sie ihm ein Mausoleum gebaut. Jeden Morgen spielt davor eine Militärkapelle die Nationalhymne, alte Kämpfer mit grauen Bärten und junge Leute in Blauhemden stehen Schlange, um an seiner einbalsamierten Leiche vorbei zu defilieren. Sie sollen an ihn glauben, dafür brauchen sie keine Details zu kennen. Die Akten aus fünf Jahrzehnten Unabhängigkeitskampf bleiben fast vollständig verschlossen.

    Auch für Hellmut Kapfenberger. Dennoch hat er versucht, auch die im Dunkeln liegenden Abschnitte von Hos Biografie auszuleuchten. Dazu gehören die Jahre 1934 bis 1938, als er sich in Moskau aufhielt. Es war die Zeit der großen Schauprozesse.

    "Er wohnte in einem Internat der KPdSU, er hatte das Glück, nicht im Hotel Lux wohnen zu müssen, in dem sehr viele ausländische Kommunisten vom Geheimdienst abgeholt worden sind. Es ist nicht vorstellbar, dass er von diesem Terror nichts mitgekriegt hat. Das kann nicht sein. Er hat sich dazu natürlich nicht geäußert."

    Dabei hätte es einiges zu erzählen gegeben. Wie Kapfenberger schreibt, wurde Ho Chi Minh 1938 als angeblicher Rechtsabweichler vor eine Disziplinarkommission zitiert, nach kontroversen Beratungen aber freigesprochen. Den meisten gelang das damals nur, wenn sie andere denunzierten.

    Wie Ho sich verhalten hat, lässt sich nicht nachvollziehen. Die Akten der Komintern durfte Kapfenberger nicht einsehen. Er hält es für ausgeschlossen, dass er vietnamesische Genossen verraten haben könnte, da kein einziger von ihnen Stalins Terror zum Opfer fiel. Aber Ho war auch Mitglied der französischen KP, und in deren Reihen suchten die Kommissare ständig nach angeblichen Verrätern.

    Ho Chi Minh selbst wurde seinerzeit auch mal verdächtig, britischer Agent zu sein. Kapfenberger sagt, das hätte nicht zu ihm gepasst.

    Wirklich nicht? Immerhin stand Ho später, ab 1944 unter dem Decknamen "Lucius", auf der Mitarbeiter-Liste des amerikanischen OSS, dem Vorläufer der CIA. Kapfenberger spielt die Bedeutung dieser Beziehung herunter, aber tatsächlich ist sie eines der spektakulärsten Kapitel in Hos Leben. Die Historikerin Dixee Bartholomew-Feis von der Buena Vista University in Iowa hat es in einer umfassenden Studie anhand von amerikanischen Quellen aufgeklärt.

    Vietnam war seit 1940 von Japan besetzt. Die USA bombardierten dessen Truppen aus der Luft. Ho Chi Minh attackierte sie am Boden mit einer kleinen Guerilla-Truppe der Viet Minh, der vietnamesischen Unabhängigkeitsbewegung. Er hoffte auf eine Zusammenarbeit mit der US-Armee und am 11. November 1944 ergab sich die Gelegenheit für einen ersten Kontakt, berichtet Dixee Bartholomew-Feis.

    "Die Viet Minh hatten einen amerikanischen Piloten gerettet, der über Nordvietnam von den Japanern abgeschossen worden war. Und Ho Chi Minh ließ es sich nicht nehmen, diesen Mann persönlich zu einem amerikanischen Stützpunkt im Süden Chinas zurückzubringen."

    Die Geheimagenten und Offiziere dort hatten längst von dem Befreiungskämpfer Ho Chi Minh gehört und intern bereits diskutiert, ob er ihnen nicht Informationen über die japanischen Truppen liefern könnte, die im Dschungel Vietnams für sie fast unsichtbar waren.

    "Er sagte, ja, wir können euch Informationen liefern. Wetterberichte, die damals für die Piloten überlebenswichtig waren. Wir können euch Truppenbewegungen melden. Aber dafür brauchen wir gute Funkgeräte und unsere Leute müssen daran ausgebildet werden."

    Mehrere Funkgeräte konnte er auf dem Rückweg gleich mitnehmen. Bald darauf sprangen die ersten US-Ausbilder mit dem Fallschirm über Gebieten ab, die die Viet Minh kontrollierten. Sie brachten den Kämpfern nicht nur den Umgang mit Funkgeräten bei, sondern auch mit Waffen.
    Die Amerikaner wussten, dass sie einen Kommunisten unterstützten. Aber Ho Chi Minh lieferte schnellere und präzisere Berichte als alle anderen Quellen aus Vietnam. Also schwand ihr Misstrauen schnell und nach ein paar Monaten erfüllten sie ihm sogar den Wunsch, dem Oberkommandierenden der Piloten persönlich vorgestellt zu werden, erzählt Dixee Bartholomew-Feis.

    "Der General hatte zunächst große Scheu, Ho zu empfangen, weil der ja nicht nur erklärter Feind der Japaner, sondern auch der Franzosen war, mit denen die USA wiederum in Europa verbündet waren. Politisch war das Treffen also heikel, aber Ho war viel zu klug, um um Hilfe im Kampf um Unabhängigkeit zu bitten. Alles, was er wollte, war ein Foto mit Widmung, das ihm der General nur zu gern gab und das für Ho nützlich war."

    Er war schwer krank. Es gab Rivalen in den Reihen der Viet Minh, die ihn verdrängen wollten. Aber als er persönliche Geschenke und dann sogar ein paar Waffen von Vertretern der stärksten Macht der Erde erhielt, zweifelte niemand mehr seine Führungsrolle an.
    "Ho Chi Minh hätte sich innerhalb der Viet Minh vielleicht auch ohne die Hilfe der Amerikaner durchgesetzt, aber ich würde sagen, sie hat es ihm erleichtert und ihm war diese Zusammenarbeit sehr wichtig. Schließlich ließ er 1945 keine Gelegenheit aus, sich mit Amerikanern zu zeigen und fotografieren zu lassen."

    Als Japan im August 1945 kapitulierte, hatten die USA nur ein kleines Kommando von Militärs und Geheimdienstlern in Vietnam. Zu den wichtigsten hatte Ho Chi Minh freundschaftliche Beziehungen aufgebaut, er hoffte, dass ihnen bald größere Einheiten folgen würden. Doch die Amerikaner überließen die Entwaffnung der japanischen Besatzer ihren Verbündeten: im Norden der chinesischen Guomindang-Miliz, im Süden den Briten. Die wiederum erlaubten dem erst kürzlich von den Alliierten befreiten Frankreich, neue Soldaten nach Vietnam zu schicken.

    So konnte Ho Chi Minh zwar die Unabhängigkeit seines Landes verkünden, aber seine Regierung war sofort wieder von der übermächtigen alten Kolonialmacht bedroht. In dieser Notlage sollen ihm die USA angeboten haben, seine Demokratische Republik Vietnam offiziell anzuerkennen und damit vor französischen Ansprüchen zu schützen, wenn er das Land im Gegenzug für amerikanische Investoren öffnen würde. Ho, schreibt Hellmut Kapfenberger, habe abgelehnt.

    "Man sah die Gefahr, dass die wirtschaftliche Hilfe beispielsweise der Amerikaner beim Aufbau der Infrastruktur erkauft worden wäre mit Einschränkungen der Unabhängigkeit. Das wollte man nicht. Die Opfer, die bis dahin gebracht worden waren, die waren zu groß, dass man da irgendwelche Zugeständnisse machen konnte. Man wollte einfach nicht die eine ausländische Dominanz gegen eine andere ausländische Dominanz eintauschen."

    Wenn das stimmt, dann wäre Ho sicher mehr Kommunist als Nationalist gewesen. Dann hätte er um einer kommunistische Gesellschaftsordnung willen sehenden Auges sein Volk in einen Krieg schlittern lassen, der neun Jahre dauern und Hunderttausende Opfer kosten sollte.

    Auch Dixee Bartholomew-Feis kennt diese Geschichte, weil 1945 die französische Presse empört darüber berichtet hatte, die USA wollten Paris mit ihrer Offerte ausbooten. In den Archiven des OSS und des State Departments hat sie aber keinerlei Beleg dafür gefunden, dass es einen solchen Plan je gegeben hat.

    "Für die Entscheidungsträger in Washington spielte Vietnam gar keine Rolle. Sie beschäftigte die Frage, wie sie Europa neu ordnen und was sie mit Japan machen sollten. Aber über Ho Chi Minh machten sie sich keinerlei Gedanken. Nach meinen Recherchen wurde deshalb auch niemals ein solches Angebot unterbreitet."

    Nach dieser Version hätte er gar keine Chance auf Frieden und gute Beziehungen zu den USA gehabt. Ihm blieb nur die Hoffnung auf Hilfe von der Sowjetunion. Aber in Moskau stieß er auf taube Ohren.

    "Stalin hatte von Ho Chi Minh eine sehr schlechte Meinung. Er nannte ihn einen kommunistischen Höhlenmenschen, also nicht etwa einen revolutionären Führer, sondern kommunistischen Höhlenmenschen, strafte ihn mit Missachtung. Ho Chi Minhs Bitte, ein Besuch möge doch als Staatsbesuch gewertet und behandelt werden, wurde brüsk zurückgewiesen von Stalin."

    Erst fünf Jahre später, 1950, erkannte die Sowjetunion Vietnam an. Wirtschaftliche Hilfe kam noch später, erst unter Chruschtschow, und sie war verbunden mit Einmischungsversuchen.

    Sowjetische Berater drängten nach Kapfenbergers Recherchen Vietnams KP zur Bildung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften. Wer seine Scholle nicht aufgeben wollte, wurde als Großgrundbesitzer vertrieben oder verhaftet, manchmal auch gefoltert oder gar getötet. In vielen Dörfern brachen spontane Aufstände los. Die Partei war drauf und dran, das Volk, das zu 90 Prozent aus Bauern bestand, gegen sich aufzubringen.

    "Das hat Ho Chi Minh dann auf einem Kongress, vielleicht sehr spät, aber trotzdem sehr scharf angeprangert. Und es ist dann auch korrigiert worden. Es sind dann viele rehabilitiert worden. Nur die, die wirklich zu Schaden gekommen waren, für die war es zu spät. Aber die entscheidende Kurskorrektur, die ging von ihm aus."

    Wenn es um die Umsetzung kommunistischer Doktrinen ging, war er eher vorsichtig. Seine Partei hat wenig von ihm gelernt. Nach der Eroberung Saigons 1975 probierte sie es noch einmal mit einer Kollektivierung und stürzte Vietnam in eine Hungersnot. Zehn Jahre später riss sie das Steuer vollständig herum und liberalisierte die gesamte Wirtschaft.

    Sozialistische Errungenschaften wie freie Bildung und kostenlose Gesundheitsfürsorge, die Ho Chi Minh eingeführt hatte, sind heute verschwunden. Anders als für die Studentenbewegung 1968 ist er nach den Beobachtungen von Wolfgang Kraushaar deshalb für moderne soziale Bewegungen nicht mehr attraktiv.

    "Er hat nichts, was er an Anstoß, an Motiven hätte weitervermitteln können für eine Anti-Globalisierungsbewegung. Ich kenne niemanden, der im Zuge der Anti-Globalisierungsbewegung auf die Idee gekommen wäre, Ho Chi Minh hervorzuzaubern."

    Wegen seiner Bedeutung für die Epoche der Dekolonialisierung hätte er es verdient, dass irgendwann einmal eine wirklich umfassende Biografie über ihn geschrieben würde, findet Kraushaar. Aber das wird unmöglich bleiben, solange die Archive in Hanoi und Moskau nicht für unabhängige Forscher geöffnet werden.