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Neue Klänge zu alter Musik

Was kommt dabei heraus, wenn man Werke alter Musik in die Hände heutiger Musiker und Komponisten gibt? Drei CD-Neuerscheinungen aus den Bereichen Ensemblemusik, Elektronik und Jazz geben spannende Antworten.

Von Frank Kämpfer | 30.11.2008
    " Tiedemann /Villmow, Kreuzüber Menuett
    CD CCn'C 03281, LC 009763
    Take 15 "

    Der erste Klang-Eindruck trügt: dass ein klassischer Interpret hier Bachs erste Violoncello-Suite intoniert, und dass sich ein Saxophonist anschließt, um dann dezent swingend das Original zu umspielen, getragen vom Hall des Sacralraums - das wäre als Grundkonzept ganz gewiss zu banal. Unstrittig allerdings ist: zwei Musiker verschiedener Sparten nähern sich Johann Sebastian Bach gemeinsam auf verschiedene Weise, und bugsieren ein Werk, das knapp 290 Jahre alt ist, spielerisch und assoziativ in die heutige Zeit.

    Siegfried Palm-Schüler Gunther Tiedemann, Jahrgang 1968, obliegt es dabei, die Suite BWV 1007 im Original darzubieten - was spannungsreich und sehr differenziert wirkt, wenn Klänge anderer Art die sechssätzige Folge unterbrechen. Tiedemann spielt gelegentlich auch an der Orgel, vor allem jedoch im Duett mit dem international erfahrenen Jazzer Michael Villmow. Der eigentliche Sinn und Ertrag beider Zusammenarbeit besteht weniger in eigenen Kompositionen, als vielmehr in grenzüberschreitenden Kommentaren. Jeder der sechs Bach'schen Instrumentalsätze erhält so eine musikalische Anmerkung, in denen Villmow und Tiedemann über Bachs Motivik zu improvisieren beginnen. Das bleibt dezent, ein Crossover ein wenig wie aus dem Lehrbuch. Allerdings, tradierte Hörerwartungen wie Cello = Barock = original und Saxophon = spielerisch = modern brechen Stück um Stück auf; Stile überlagern sich, Instrumente tauschen die Rollen. Die Radikalität hält sich in engen Grenzen, aber die Erlebnisqualität für den an solcherlei interessierten Zuhörer ist dennoch enorm: Die Produktion ist von zwei Seiten aus rezipierbar: als Annäherung an ein Werk des frühen 18. Jahrhunderts ebenso wie als ein Aufbruch davon; der (bei Bach übrigens nicht vorgesehene) Kirchraum überdies verleiht dem Ganzen den Charme einer knapp einstündigen akustischen Meditation, die unmerklich Wohlgefühl auslöst.

    " Tiedemann /Villmow, Kreuzüber Menuett
    CD CCn'C 03281, LC 009763
    Take 15 "

    "Kreuzüber Bach" - Jazz und Improvisationen über Bachs Cello-Suite Nr.1 von und mit Gunther Tiedemann (Violoncello und Orgel) und Michael Villmow (Saxophon). Die Aufnahmen erfolgten im Mai 2006 in der Herz-Jesu-Kirche in Mönchengladbach und sind in diesem Jahr beim westfälischen Label CCn'C erschienen.

    Eine gänzlich andere Qualität der Annäherung an Musik vergangener Zeit birgt die nächste CD:

    " Aus dem 'Glogauer Liederbuch': Der Entepris
    CD Coviello contemporary COV 60812, LC 12403
    Take 08 "

    Musik des 15./16. Jahrhunderts - auf Instrumenten der Gegenwart musiziert. Das Angespielte findet sich auf einer CD, die allein ob ihrer Interpreten aufmerken lässt: das Freiburger Ensemble recherche - eine Spitzenformation der Neuen Musik - interpretiert zeitgenössische Auseinandersetzungen mit Renaissancemusik und frühem Barock. Die reizvolle Platte - ein Resultat bereits mehr-jähriger Beschäftigung mit Alter Musik im Rahmen der Freiburger Ensemble-Akademie - versammelt bemerkenswerte Kombinationen: Peter Maxwell Davies komponiert instrumentale Motetten, Charles Wuorinen bearbeitet das Glogauer Liederbuch, Harrison Birtwistle transkribiert Johannes Ockeghem.

    Interessant an diesem Projekt (und darüber informiert auch der ausführliche Booklet-Beitrag) ist, dass selbst international renommierte Neutöner die Begegnung mit sehr alten Musiktraditionen nicht scheuen, und dass das Studium vergessener Partituren aus anderer Zeit zu deren Wiederaufführung beiträgt. Weniger spannend hingegen, dass viele der musikalischen Reanimationen der Platte sehr nah an den Originalen verbleiben und mehr oder weniger Instrumentierungen sind.

    Die erfreuliche Ausnahme bildet ein Kompositionsauftrag des Westdeutschen Rundfunk an Georg Kröll, der sich schon länger kreativ mit ‚alten Meistern' beschäftigt und hier einen Cantus firmus aus Thomas Tallis' "Fitzwilliam Virginal Book" von 1564 aufgearbeitet hat. Zweifellos reicht die Eigenleistung Krölls weit ins Umgestaltende, wiewohl sie mit ihren Brüchen und Wechseln vor allem Tallis' Modernität hervortreten lässt.

    " Georg Kröll, Felix namque es. Tallis Transkription
    CD Coviello contemporary COV 60812, LC 12403
    Take 04 "


    "Renaissance Transcriptions" - eingespielt vom Ensemble Recherche für das Darmstädter Label Coviello contemporary - eine Koproduktion mit dem Westdeutschen Rundfunk.

    Die dritte und letzte neue CD, die ich Ihnen heute anspielen will, führt zurück zu Johann Sebastian Bach. Zugrunde liegen Bach berühmte Goldberg-Variationen, die in Dmitriy Sitkovetskys Bearbeitung ein Wiener Streichtrio spielt. Hier interessieren elektroakustische Bearbeitungen, für die der Wiener Elektroniker Karlheinz Essl einsteht. Essl, Jahrgang 1960, Schüler von Friedrich Cerha und Dieter Kaufmann, analysierte Bachs Werk, reduzierte es auf sein harmonisches Gerüst und lies dieses im Studio aufnehmen. Mit dem so gewonnenen Material begann Essl live-elektronisch zu improvisieren. Bachs Variationskonzept galt es, in klanglichen Bereichen weiter zu denken. Die so entstandenen drei Arie Electronice und zwei elektronischen Variationen führen in eine gänzlich andere, faszinierende Klangwelt, in der zeitliche Dehnungen, Obertonstrukturen, Flageolettklänge und elektronische Sounds vorherrschend sind.

    Um seine Ergebnisse darzustellen, entschied sich Essl, Bachs Original und seine elektroakustische Lesart streng voneinander zu trennen. Das Streichtrio hatte demnach frontal vor dem Publikum zu agieren, während die elektronischen Klänge aus dem Notebook zunächst den Weg zur Kirchendecke und hernach erst von oben herab zum Publikum nahmen. Auch auf der in 2008 bei Preiser Records erschienenen CD Gold.Berg.Werk sind die zwei musikalischen Sphären klar unterscheidbar, wie das abschließende Hörbeispiel anschaulich zeigt.

    " Karlheinz Essl, Aria Electronica II
    CD Preiser records PR 90753, LC 12403
    Take 05 (Ausschnitt) /Take 06 komplett "

    Gold.Berg.Werk. Eine Interpretation von Bachs Goldberg-Variationen für Streichtrio und Live-Elektronik von Karlheinz Essl - veröffentlicht beim Wiener Label Preiser Records. Zuvor habe ich Ihnen die bei CCn'C editierte CD Kreuzüber Bach sowie bei Coviello erschienenen Renaissance-Transkriptionen mit dem Ensemble Recherche angespielt.

    Tiedemann /Villmow, Kreuzüber Menuett
    CD CCn'C 03281, LC 009763

    Aus dem 'Glogauer Liederbuch': Der Entepris
    CD Coviello contemporary COV 60812, LC 12403

    Georg Kröll, Felix namque es. Tallis Transkription
    CD Coviello contemporary COV 60812, LC 12403

    Karlheinz Essl, Aria Electronica II
    CD Preiser records PR 90753, LC 12403