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Neue Stücke aus Europa

Dass in diesen geldknappen Zeiten ein aufwendiges Festival wie die Biennale neugegründet werden konnte, grenzt an ein kleines Wunder - denn die 25 neuen Stücke aus Europa sind kein Angebot für ein Massenpublikum. Wer sich darauf einläßt, muss sich grundsätzlich dafür interessieren, was Menschen in Norwegen, Lettland, Spanien, der Türkei oder Serbien-Montenegro bewegt - und wie sich das dann im Theater niederschlägt. Das Themenspektrum reicht von den Folgen des Krieges, von Arbeitslosigkeit und Identitätsproblemen im Zeitalter der Globalisierung, Sinnsuche im postkapitalistischen Zeitalter über Stücke, die radikal die Perspektive von Kindern einnehmen, oder die Frage provozieren: Was ist überhaupt in Theater-Stück - in Zeiten, in denen Regisseure alte Texte längst zertrümmert haben und neue selten überzeugen.

Von Ursula May |
    Am weitesten geht der lettische Regisseur Alvis Hermanis. Wenn wir jetzt nicht über das hier und heute sprechen wann dann? Seine in Riga entstandene Produktion "Langes Leben" kommt zweieinhalb Stunden ohne Worte aus: Fünf junge Schauspieler haben sich mit den Bewegungen, Ritualen, Gewohnheiten und Macken sehr alter Menschen auseinandergesetzt. Die Zuschauer blicken auf eine Art Cinemascopebühne, drei Zimmer ohne Stellwände, in denen alles auf kleinstem Raum gestellt ist: Küche, Bad, Schlafgelegenheiten, Esstisch, alles ist vollgestellt mit Gegenständen und Nippes. Einen Tag lang begleiten wir diese fünf Personen, beobachten, wie sie Aufstehen, sich Anziehen, Wäsche Waschen, Essen zu bereiten, einen Geburtstag feiern und ansonsten ihren Marotten nachgehen - eine der Frauen hat all ihre Accessoires in Plastiktüten eingewickelt und packt sie nun umständlich wieder aus, einer der Männer klettert ohne Unterlass unbeholfen auf Schränke, versucht die Decke zu streichen, ein Bild aufzuhängen - ein anderer bemüht sich als Karaoke-Sänger.

    Auf kleinstem Raum passiert viel und dennoch nichts spektakuläres zwischen diesen fünf Personen - groteske Situationen, die mit einem großen Ernst betrieben werden - genau beobachtet, Theater als Mikrokosmos, als Abbild einer existentiellen Situation, das ein Lachen evoziert, das einem im Halse stecken bleibt- schließlich ist die Chance groß, dass wir eines Tages genauso enden. Bei dem zweiten Stück von Alvis Hermanis auf der Wiesbadener Biennale - Nachtasyl nach Gorki, geht der lettische Regisseur ähnlich vor: Der Zuschauer beobachtet eine Gruppe von Menschen in einem Kubus aus Glas - es könnte sich um eine heruntergekommene Jugendherberge handeln oder eine Wohngemeinschaft in einem besetzten Haus: Drei Ebenen werden miteinander verwoben: Gorkis gedankenschweres und handlungsarmes Stück Nachtasyl mit seinen gescheiterten Existenzen, es wird die Situation reflektiert, dass sich hier Schauspieler und ein Regisseur sich anhand dieses Stückes mit dem Theaterspielen auseinandersetzen - und: Die Schauspieler haben die Textvorlage mit ihrer eigenen Wirklichkeit konfrontiert.

    Alvis Hermanis erscheint als ein Regisseur, der sehr viel von seinen Schauspielern fordert: Videoaufnahmen vom Probenprozess machen seine Art Programmatik deutlich. Wer nicht bereit ist, so sich durch die Theaterarbeit zu verändern, der möge doch bitte gleich die Probebühne verlassen. Der Regisseur als Zuchtmeister, der sich sehr wohl im klaren ist, dass es sich kaum ein Schauspieler ein Aufmucken leisten kann. Faszinierend ist die Genauigkeit, mit der Alvis Hermanis jeder Situation auf den Grund geht - der lange Fluss, der sich daraus entwickelt ist für das Publikum ein anstrengender Prozess, die Intensität lässt sich das durchaus mit Arbeiten von Tadeuzs Kantor oder einem frühen Marthaler vergleichen.

    Selbstredend sind nicht alle Stücke auf der Wiesbadener Biennale auf diesem Niveau. Die holländische Produktion Gaga zum Beispiel, die sich sehr frei nach Calderons Das Leben ein Traum mit durchaus witzigen szenischen Einfällen der Frage widmet, was man heutzutage mit einem arbeitslosen Messias macht, kommt als allzu bemüht daher. Auch der norwegische Beitrag "Das Wäldchen" hat nicht wirklich überzeugt: Aus der Perspektive von Kindern wird hier versucht, dem Verschwinden eines Mädchens nachzugehen, Missbrauch liegt möglicherweise vor, aber was als Text versucht, die Heimlichkeiten und Verdrängungen herauszuarbeiten, wirkt als Theaterarbeit belanglos und voraussehbar - diese Mixtur aus überzeugendem und weniger gelungenen gab es auch schon, als die Biennale noch in Bonn veranstaltet wurde - das entscheidende aber ist: Hier wurde ein Festival erfolgreich von Bonn nach Wiesbaden verpflanzt, das den europäischen Nachbarn bekannt macht - und das wie kaum ein zweites konsequent auf einem Diskussionsprozess beharrt: wo steht das Theater Europas und wohin bewegt es sich hin.