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Neuerscheinungen über das nationalsozialistische Deutschland, u.a. Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch

Um zeitgeschichtliche Neuerscheinungen geht es in unserer heutigen Revue politischer Literatur, um den Jahrhundertrückblick von Mark Mazower, um eine Studie über den Ersten Weltkrieg und um Neuerscheinungen über das nationalsozialistische Deutschland. Am Mikrophon ist Hermann Theißen. Guten Abend.

    Als Kaiser Wilhelm II. am 1. August 1914 keine Parteien mehr kannte, sondern nur noch Deutsche, fielen die Zehntausende, die sich vor dem Berliner Schloss versammelt hatten, in ekstatische Verzückung. Als die Mobilmachung verkündet wurde, jubelte die Nation, und selbst in den Hinterhöfen des roten Wedding wehte die Nationalflagge. Die differenzierte Gesellschaft mutierte zur formierten Volksgemeinschaft. 65 Millionen Männer standen während des Ersten Weltkriegs unter Waffen, acht Millionen fanden den Tod, und 21 Millionen kehrten als Verwundete aus der Völkerschlacht zurück. Dennoch gelang es den Propagandisten der Nation, den "Geist von 1914" zu mythologisieren, und fortan gehörte er zum Stehsatz nationaler Propaganda. Von der Konstruktion der Kriegsbegeisterung handelt der Band "Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg". Kurt Flasch hat ihn im Berliner Alexander Fest Verlag herausgebracht. Hören Sie die Rezension von Stephan Wehowsky.

    Am Anfang seines Buches leistet sich Kurt Flasch einen fast schon makabren Hinweis. Er datiert sein Vorwort auf den 28. August 1999. Das ist der 250. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe. Das Buch wiederum handelt vom Versagen der deutschen Intellektuellen im Ersten Weltkrieg, einem Versagen, das bis heute weder verstanden noch aufgearbeitet worden ist. Mit dem Namen Goethes markiert Flasch die Fallhöhe. Und man geht sicher nicht fehl, wenn man Kurt Flasch so versteht, dass sich ein großer Teil der Intellektuellen auch heute noch im freien Fall befindet. Mehr als 1.300 Schriften aus dem Ersten Weltkrieg hat Flasch inzwischen in einer Bibliographie erfasst. Umso größer ist der Kontrast, den er am Ende seines Buches aufzeigt: Obwohl die Philosophen, Theologen, Historiker und Schriftsteller den Ersten Weltkrieg mit zahllosen Reden und Schriften begleitet haben, spielt der Krieg in den gängigen Darstellungen der Philosophie des vergangenen Jahrhunderts so gut wie keine Rolle. Als hätte dieses Ereignis, das die Grundlagen unserer Kultur wie kein zweites erschüttert hat, für die Philosophie keinerlei Bedeutung.

    In den Kriegsreden wurde die "Sinngebung des Sinnlosen" betrieben, wie der 1933 von den Nationalsozialisten ermordete Philosoph Theodor Lessing formuliert hat. Die feinsinnigen Denker versuchten ihren Zuhörern einzuhämmern, dass der Krieg gerecht sei. Er sei deswegen gerecht, weil die feindlichen Mächte angetreten seien, Deutschland zu vernichten. Dieses Argument zieht sich wie ein roter Faden durch alle Reden, von denen Kurt Flasch ganz besonders die der Philosophen Rudolf Eucken und Max Scheler sowie des Theologen Ernst Troeltsch unter die Lupe nimmt. Dessen Botschaft lautete:

    Unser Kampf ist gerecht, denn wir sind überfallen worden.

    Flasch kommt zu dem Ergebnis, dass sich diese Herren nicht im mindesten um die tatsächlichen Gründe der Kriegsentstehung gekümmert haben. Deutschland war nicht überfallen worden, vielmehr war es selbst ein Aggressor, der von sich aus Russland und Frankreich den Krieg erklärt hatte und, um Frankreich zu schlagen, in das neutrale Belgien eingefallen war. Das nächste Argument:

    "Weil unsere Sache gerecht ist, werden wir siegen", verkünden die Redner, und die meisten begründen ihre Siegeszuversicht nicht weiter. Der Germanist Gustav Roethe fasst sein Gefühl lapidar zusammen: "Wir müssen siegen! Also werden wir siegen." Sowohl beim Rückblick auf den Kriegsbeginn als auch beim Ausblick auf den Sieg werden so gut wie nie faktische Vorgänge und faktische Wahrscheinlichkeiten erörtert; diese kommen nur im Hinblick auf ihre psychische Motivation zur Sprache. Tücke und Neid haben zum Ausbruch des Krieges geführt, behaupten die Redner, doch sei der Sieg gewiss, wenn nur ein Volk sich treu bleibt.

    In den Augen der Redner, die namentlich im August 1918 in überfüllten Aulen oder auf voll besetzten öffentlichen Plätzen sprachen, hatte die Rechtfertigung des Krieges aber noch eine andere Seite. Es ging dabei um das deutsche Wesen, das tiefer gegründet sei als die Volkscharaktere der Kriegsgegner. Während bei denen Sittenverfall und eine kalte, bloß formale Freiheit und eine oberflächliche demokratische Ordnung herrschten, seien die Deutschen durch Goethe und den deutschen Idealismus geprägt, was ihnen ihren "kräftigen und mannhaften Charakter, ihre zugleich ernste und freudige Art" verliehen habe. Kühn formulierte Rudolf Eucken:

    Mögen daher zahllose Feinde sich gegen uns verbünden, mögen sie Neid und Hass, Verschlagenheit und Wildheit aufeinander häufen, wir haben die Überlegenheit innersten Wesens, und diese Überlegenheit wird uns vollauf die Kraft gewähren, allem Ansturm gewachsen zu bleiben. Stehen wir nur fest auf uns selbst, ergreifen wir den tiefsten Grund und die innerste Kraft unseres Wesens, dann wird unser Genius mit uns sein und uns zum Siege führen, dann können die Pforten der Hölle uns nicht bewältigen.

    Der Theologe Ernst Troeltsch setzte da noch eins drauf. Er rief der hingerissenen Hörerschaft zu:

    Sei deutsch, bleibe deutsch, werde deutsch!

    Dieses deutsche Wesen, an dem die Welt bekanntlich genesen sollte, gab sich ganz unpolitisch, tatsächlich aber hatte es eine hochpolitische Spitze gegen die westlichen Demokratien. Troeltsch schrieb und sprach in diesem Zusammenhang von der "deutschen Idee der Freiheit". Er erklärte seinen Lesern und Hörern, dass sie einen außergewöhnlichen Ordnungssinn mit strengem Einordnungs- und Pflichtgefühl verbänden. Mit anderen Worten: Der Deutsche habe einfach ein tieferes Gemüt als seine Gegner. Man kämpfte in diesem Krieg gegen die Moderne oder, wie man damals formulierte, gegen die Zivilisation. Der Krieg wurde dadurch zu einem Kulturkampf. Die intellektuellen Kriegstreiber wiederum - die Analysen von Kurt Flasch legen diesen Ausdruck nahe - vermengten bewusst oder unbewusst ihrer eigenen intellektuellen Ambitionen mit den politischen und militärischen Kriegszielen. Die abgelehnte Kultur des Gegners hatte ja Namen, Namen von Schriftstellern, Künstlern und Philosophen. Die deutschen Intellektuellen steigerten sich nun in das Gefühl hinein, mittels der Gewehre und Kanonen die längst fällige Abrechnung mit Leuten wie George Bernard Shaw, Gabriele D'Annunzio oder auch René Descartes und Voltaire zu vollziehen.

    Ein nicht weniger wichtiges Element in allen Kriegsreden war die Behauptung, dass der Krieg einer sittlichen Erneuerung des deutschen Volkes diene. In immer neuen Wendungen wurde die Dekadenz der Friedenszeiten beklagt und der Aufbruch an die Front bejubelt. Das ganze Volk sei nun vereint, die Egoismen des Einzelnen seien überwunden. Und auch nachdem eine erste Ernüchterung eingetreten war, man die ersten Toten und Verwundeten zu beklagen hatte, fanden die Redner bemerkenswerte Worte. Einer der bedeutendsten evangelischen Theologen jener Zeit, Adolf von Harnack, sprach Sätze, für die man sich heute noch schämt:

    Blut und Tränen! Aber wie? Sucht nach den Weinenden; findet ihr sie von trostlosem Schmerz verzehrt? Nein! Wohl sah ich schon viele liebe Augen tränenvoll; aber es waren Tränen, wie ich sie noch nie in meinem Leben geschaut habe, Tränen, auf denen der Glanz eines freudigen Stolzes lag, Tränen, die in fester Zuversicht schimmerten, ja sogar in Dankbarkeit. Wer solche Tränen geschaut und in solche Augen geblickt hat, der hat den Eindruck des Ewigen und Seligen mitten in dem Leid! Und nicht traurig nur, nein, fromm und feierlich zugleich wird uns zumute, wenn wir wieder von einem Todesopfer hören. Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel?

    Flasch führt nicht nur solche Tiefpunkte pseudophilosophischer und pseudoreligiöser Rede an, sondern er untersucht in breitangelegten Analysen die Gründe dafür, dass sich die Autoren derartig verrannt haben. Dabei bringt er immer wieder seine Überzeugung zum Ausdruck, dass allein eine sorgfältige Analyse des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Geschehens die Intellektuellen davor bewahrt hätte, sich in derartige verblasene Formulierungen zu verlieren.

    Der Philosophiehistoriker und Spezialist für die Philosophie des Mittelalters Kurt Flasch hat an diesem Buch seit Beginn seines Studiums Anfang der fünfziger Jahre mit Leidenschaft und Trauer gearbeitet: "Ich zetere nicht; ich berichte", schreibt er ganz am Anfang. Ihm ist ein wichtiger Bericht zu verdanken.

    Stephan Wehowsky über Kurt Flasch, "Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg". Der Band ist im Alexander Fest Verlag in Berlin erschienen, umfaßt 447 Seiten und kostet DM 68,--.

    Von der Rezeption dieser Kriegspropaganda und von den strukturellen Bedingungen des Kaiserreichs, die die Konstruktion einer totalitär gesteuerten Öffentlichkeit erst möglich machten, handelt ein anderer Band, der hier nur empfohlen werden kann: "Der Geist von 1914 und die Erfindung der Volksgemeinschaft" ist er überschrieben. Jeffrey Verhey ist sein Autor, und erschienen ist das 416 Seiten starke Werk in der Hamburger Edition.

    Das Ende des Ersten Weltkriegs ist Ausgangspunkt für Mark Mazowers großen Rückblick auf das vergangene Jahrhundert. Nach dieser Völkerschlacht und nach der Abdankung der Könige, so Mazower, wetteiferten drei Ideologien um die Vorherrschaft: die liberale Demokratie, der Kommunismus und der Faschismus. Während viele Historiker und Soziologen dazu neigen, die Geschichte Europas als eine der Durchsetzung der Demokratie zu schreiben, verweigert sich Mazower solchen Deutungen, die den Prozeß vom Ergebnis her interpretieren.

    Wenn das Jahr 1989 den Sieg der Demokratie über den Kommunismus markiert, so ist das ein Erfolg, der ohne den früheren vollständigen Triumph des Kommunismus über den Nationalsozialismus nicht möglich gewesen wäre. Es war somit nicht vorherbestimmt, daß die Demokratie am Ende den Sieg über Faschismus und Kommunismus davontragen würde, so wie immer noch abzuwarten bleibt, welche Art von Demokratie Europa aufbauen kann und will. Kurz: Was ich hier darstelle, ist eine Geschichte knapper Entscheidungen und unerwarteter Wendungen, nicht aber unvermeidlicher Siege und stürmischer Märsche.

    So Mark Mazower in seinem Jahrhundertrückblick "Der dunkle Kontinent". Hören Sie die Rezension von Helga Hirsch:

    Mit dem Selbstverständnis der Europäer ist es zur Jahrtausendwende nicht zum Besten bestellt. Lange Zeit, sagt Mark Mazower, habe sich der Kontinent idealisiert, seine dunklen Seiten verdrängt und ein arrogantes Überlegenheitsgefühl entwickelt: Europa verstand sich als ein allgemeingültiges Zivilisationsmodell und leitete daraus die Berechtigung einer weltweiten Mission ab. Dann jedoch begruben die traumatischen Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Kommunismus jeden Glauben an die überragende Bedeutung europäischer Kultur und Werte - die Folge waren eine allgemeine Desillusionierung und der Verzicht auf jede Utopie. Heute schwanken die Zukunftsvorstellungen zwischen einem ganz und gar nicht-visionären, bürokratisch vereinten Brüsseler Europa einerseits und einem ständig von alten Nationalitätenkonflikten und neuen Kriegen bedrohten Kontinent andererseits. Obwohl sich Europa einer seltenen Kombination von individueller Freiheit, gesellschaftlicher Solidarität und Frieden erfreut, fühlt es sich nach dem Zusammenbruch der alten Feindbilder und dem Verlust der früheren Vormachtstellung stark verunsichert und ohne kohärentes Selbstbild.

    Mark Mazower hat mit seinem Buch über die europäische Geschichte des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts keinen chronologischen Abriss vorgelegt, keine Geschichte der einzelnen europäischen Nationalstaaten, auch keine Sozial- oder Ideengeschichte des Kontinents geschrieben. Sein Interesse gilt vielmehr der Frage, in welchem Maß die drei großen Systeme, die Europa im 20. Jahrhundert prägen - die liberale Demokratie, der Nationalsozialismus und der Kommunismus -, Antworten auf die Grundbedürfnisse ihrer Zeit fanden: ob und wie weit sie ihren Bürgern einen wachsenden Wohlstand boten, ihre sozialen Erwartungen erfüllten, ob sie ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl zum eigenen Staat ermöglichten oder ethnische Spannungen entschärfen konnten.

    Allzu schnell, meint Mazower, habe uns die politische und wirtschaftliche Stabilität in den letzten 50 Jahren vergessen lassen, wie wenig verwurzelt und wie anfällig die liberale Demokratie zu Beginn des Jahrhunderts in Europa gewesen sei, als sie nach der Auflösung der vier großen Monarchien - dem Zarenreich, der Osmanischen Türkei, Österreich-Ungarn und Hohenzollern-Deutschland - ihren großen Siegeszug antrat. Vor dem Ersten Weltkrieg hat es in Europa nur drei Republiken gegeben, 1928 waren es bereits achtzehn.

    Den Siegen allerdings folgten die Niederlagen manchmal nach nur wenigen Monaten, als erstes in Russland, wo die Bolschewiki die Regierungsgewalt schon Ende 1917 von der Provisorischen Regierung übernahmen, später auch in Mittel- und Westeuropa, wo sich der Prozess der Aushöhlung der Demokratie bis in die 30er Jahre zog.

    Für Mazower war das Versagen der parlamentarischen Demokratie ebenso unaufhaltsam wie selbstverschuldet. Denn die damalige Demokratie, sagt Mazower, sei an ihrer Laissez-faire-Haltung zugrunde gegangen, an ihrem ökonomischen Liberalismus und ihrem Verzicht auf staatliche Eingriffe. Statt die Nation zu einigen, spaltete sie sie mit zahllosen Parteien und mit Kabinetten, die sich im Durchschnitt nicht einmal ein Jahr hielten. Selbst in Krisenzeiten wünschten die Liberaldemokraten nicht mehr Macht für den Staat, sondern sahen in ihm selbst dann noch einen Feind, der nie genug geschwächt werden konnte, als die Rechte seine Grundlagen untergrub.

    Versagt hat der Liberalismus nach Mazower auch in der nationalen Frage. Versailles hatte ein System von Nationalstaaten geschaffen, obwohl Europa keine "reinen", ethnisch homogenen Nationen kannte. 25 Millionen Menschen wurden nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Kontinent zu Minderheiten. Zwar entstand zur Verteidigung ihrer nationalen und kollektiven Rechte der Völkerbund als internationale Schiedsstelle. Doch da seinen westlichen Mitgliedsländern der politische Wille zur Einmischung in die Souveränität anderer Staaten fehlte, konnte der Völkerbund diese Rechte nicht geltend machen. Aufgrund langjähriger Enttäuschung, des Gefühls von Ohnmacht und teilweise auch Revanchegelüsten hielten zunehmend mehr Europäer den Bruch mit Versailles und eine autoritäre Neuordnung des Kontinents für erstrebenswert.

    Seine Sensibilität für nationale Fragen lässt Mazower eher als Konservativen erscheinen, seine Sensibilität für sozio-ökonomische Fragen hingegen als Linken oder Linksliberalen. Selbst die beiden totalitären Systeme dieses Jahrhunderts, den Faschismus und den Kommunismus, beurteilt er weitgehend nach ihren Fähigkeiten, Vollbeschäftigung, Wiederaufbau der Länder, technischen Fortschritt durchzusetzen, und gesteht der "geplanten Volkswirtschaft" des einen wie des anderen Systems durchaus zeitweilige Erfolge zu. Erst als sich "die rassische Ideologie gegenüber der ökonomischen Vernunft durchgesetzt hatte", heißt es beispielsweise in bezug auf den Nationalsozialismus, "wurde immer klarer, welche extreme Gewalt dem Vorhaben der Nationalsozialisten, Europa neu zu ordnen, innewohnte." Damit unterstellt Mazower, Hitler scheiterte, weil ihn der Rassenwahn forttrug; der Kommunismus aber brach zusammen, weil ein kluger Herrscher den wirtschaftlichen Bankrott des Systems eingestand. Die Dimension des Politischen spielt bei dieser Betrachtungsweise nur eine sekundäre Rolle.

    Selbst wenn man Mazowers These zustimmt, dass das zentrale "Dilemma der Kommunisten in den 80er Jahren darin (bestand), dass ein wirtschaftlicher Wandel zwar unerlässlich, aber unmöglich war", erklärt sich daraus nicht automatisch die freiwillige Selbstaufgabe - der Selbstmord, wie es bei ihm heißt. Leszek Kolakowski und viele andere hatten schon in den 70er Jahren den Bankrott des Sozialismus diagnostiziert - aber ohne Widerstand im Innern und dank der Hilfe des westlichen Auslands rettete sich das totalitäre System über weitere zwei Jahrzehnte. Warum kollabierte der Kommunismus ausgerechnet Ende der 80er Jahre? Da Mazower die Freiheit nur zum Ergebnis des Umsturzes, aber nicht auch als seine Ursache erklärt, vermag er auf diese Frage nur eine unbefriedigende Antwort zu geben. Die Freiheitssehnsucht der Menschen spielt bei ihm so gut wie keine Rolle.

    Eine Geringschätzung des Politischen gegenüber den sozialen und wirtschaftlichen Strukturen zeigt sich auch, wenn Mazower über die Aufarbeitung von nationalsozialistischer und kommunistischer Vergangenheit urteilt. Im Westen Deutschlands, sagt Mazower, hätten die Alliierten weder mit Entnazifizierung noch Umerziehung nennenswerten Erfolg erzielt. In Ostdeutschland hingegen hätten strukturelle Reformen tatsächlich eine Basis für die Entnazifizierung geschaffen. Heute wissen wir allerdings, dass die SED einen höheren Anteil an ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in ihren Reihen duldete als jede Partei im Westen und dass autoritäres Denken im Osten weit länger überlebte als im Westen, wo die Studentenbewegung die alten Strukturen nachhaltig zerstörte.

    Doch diese Einwände sind eher marginaler Natur. Mazowers Buch zeugt nicht nur von einem überaus vielseitigen, ganz und gar uneitel präsentierten Wissen. Es beeindruckt auch durch die Ausgeglichenheit des Urteils, die innere Distanz gegenüber theoretischen Konstrukten und das große Verständnis für das Bedürfnis von Gesellschaften sowohl nach nationaler Identität wie nach sozialer Absicherung.

    Sein Urteil über die Zukunft fällt gemäßigt optimistisch aus: Der Krieg in Jugoslawien ist für ihn nicht der Beginn wachsender nationalistischer Spannungen, sondern "das Endstadium der Friedenregelung des Ersten Weltkrieges". Im Zusammenbruch des Kommunismus sieht er weniger den Anfang eines erschreckenden Abstiegs des Ostens in Chaos und Bürgerkrieg, sondern eine der letzten Szenen im Drama der europäischen Entkolonisierung. Die laufende Globalisierung des Kapitalismus erfordert nach Mazower auch nicht den Abschied von den vertrauten Nationalstaaten. Vielmehr - so seine These - brauche der Kapitalismus den Nationalstaat, weil er selbst nicht jenes Zugehörigkeitsgefühl erzeugen könne, das die Menschen gegenüber dem Staat empfinden bzw. empfinden wollen, in dem sie leben. Mazower hat eine beruhigende, weitherzige und doch in die Pflicht nehmende Analyse vorgelegt: Er ist überzeugt davon, dass die Demokratie den Herausforderungen der neuen Zeit gewachsen ist. Doch ob und in welchem Maß dies gelingt, hängt nicht vom System an sich ab, sondern von der Lernfähigkeit seiner Akteure. Also von uns.

    Helga Hirsch über Mark Mazower, "Der dunkle Kontinent, Europa im 20 Jahrhundert". Das 639 Seiten umfassende Werk ist im Alexander Fest Verlag erschienen und kostet DM 38,--.

    Friedrich Wilhelm Heinz leitete im Adenauer - Deutschland den Nachrichtendienst im "Amt Blank" und konnte wie die meisten der dort versammelten Konspirateure auf eine äußerst bizarre Biographie zurückblicken. Nach dem Ersten Weltkrieg schloss Heinz sich den militant rechtsradikalen Freikorps an und bemühte sich nach Kräften um die Bekämpfung der Demokratie. Natürlich zählte er zu den Nationalsozialisten der ersten Stunde, doch dann geriet er in Opposition zum Hitler-Regime, nicht etwa weil er sich in einen "streitbaren Demokraten" gewandelt hätte - dieses Etikett ließ er sich erst später anheften -, sondern weil Hitler ihm nicht reaktionär genug war. Von Friedrich Wilhelm Heinz und seinesgleichen handelt der Band "Nationalsozialisten gegen Hitler", den Susanne Meinl im Siedler Verlag vorgelegt hat. Unser Rezensent ist Wolfram Wette.

    Hat es "Nationalsozialisten gegen Hitler" gegeben? Gar als eine organisierte Opposition innerhalb der NSDAP? Was gemeint ist, macht der Untertitel der geschichtswissenschaftlichen Bochumer Dissertation von Susanne Meinl deutlich.

    "Die Entwicklung der Nationalrevolutionäre am Beispiel der politischen Karriere des Friedrich Wilhelm Heinz."

    Mit dem Begriff "Nationalrevolutionäre" bezeichnet die Autorin die rechtsradikalen deutschen Nationalisten der Zwischenkriegszeit, die legale Methoden des politischen Kampfes ablehnten und die als schwächlich diffamierte Republik von Weimar mit Gewalt bekämpften. Zeitweise waren sie Teil der nationalsozialistischen Bewegung und trugen zum Aufstieg der Partei Hitlers nicht unwesentlich bei. In bestimmten Phasen der Geschichte des NS-Staates standen sie in Opposition zu Hitler. Erfahren in der Organisation von Attentaten, Putschen und geheimer Untergrundtätigkeit, pflegten die Nationalrevolutionäre auch im NS-Staat in konspirativer Weise ihre alten kameradschaftlichen Verbindungen, gerieten in partiellen Gegensatz zum realen Nationalsozialismus und beteiligten sich 1938 und 1944 an der Vorbereitung von Attentaten gegen Hitler.

    Wir haben es mit schillernden Figuren zu tun, deren Denken und Handeln sich heute nur noch mit Mühe nachvollziehen läßt. Aber es ist wichtig, diese revolutionären Leute von rechts zu kennen. Denn sie repräsentieren einen der problematischsten Stränge in der deutschen Geschichte zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Die zentrale Figur des Buches der Historikerin Susanne Meinl ist jener heute kaum noch bekannte Friedrich Wilhelm Heinz. Im Klappentext des Buches wird er vorgestellt als

    "der Idealtypus des zwischen links und rechts, Rebellion und Abenteuer, Anpassung und Widerstand schwankenden nationalrevolutionären Freikorpskämpfers".

    An gleicher Stelle werden wir davon unterrichtet, daß Heinz auch im Nachkriegsdeutschland eine Rolle spielte. Trotz seiner Vergangenheit als republikfeindlicher Rechtsradikaler wurde er nun wieder gerufen, um seine jahrzehntelangen konspirativen Erfahrungen in den Aufbau des militärischen Nachrichtendienstes im "Amt Blank" einzubringen, aus dem im Jahre 1955 bekanntlich das Bundesministerium der Verteidigung hervorging. Meinls Buch selbst behandelt die Nachkriegszeit nicht mehr, sondern es schließt mit einem Kapitel über den Offizierswiderstand des 20. Juli 1944 ab.

    Die Vita von Friedrich Wilhelm Heinz ist die wechselvolle Geschichte eines deutschen Offiziers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Jahre 1899 geboren, wurde er in dem militaristisch geprägten Milieu der wilhelminischen Zeit sozialisiert.

    "Ich wuchs auf in der bürgerlichen Vorkriegserziehung durch Schule, Elternhaus und Pfadfinderkorps: nationalistisch, antidemokratisch, kriegsbegeistert."

    Bei den Pfadfindern erlebte er die vormilitärische Jugenderziehung, die von Heeresoffizieren geleitet wurde. Als Siebzehnjähriger meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst, machte als ehrgeiziger Leutnant eine Panzerschlacht mit und verachtete die Kameraden, die kriegsmüde waren und vom Hurra-Patriotismus längst nichts mehr wissen wollten. Noch während des Krieges trat er der rechtsradikalen "Vaterlandspartei" bei. In der Revolutionszeit sah man Heinz auf der Seite der konterrevolutionären Freikorps, wo er mit den Offizieren zusammentraf, die für sein weiteres Leben bestimmend werden sollten: Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt, Kommandeur der 2. Marinebrigade, später charismatischer Freikorpsführer und Putschist, Chef der terroristischen Organisation Consul, in den 20er Jahren Gegenspieler und Konkurrent Hitlers im völkischen und nationalistischen Lager. Dann ein weiterer Marineoffizier: Kapitänleutnant Wilhelm Canaris, 1919 im Stabe der konterrevolutionären Garde-Kavallerie-Schützen-Division in Berlin sowie im persönlichen Stab des Reichswehrministers Gustav Noske tätig: auch er, Canaris, ein militanter Nationalist, der unter Hitler zum Chef der Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht avancieren sollte. Des weiteren traf er dort General Erich Ludendorff, dessen ehemaligen Stabschef Oberst Max Bauer, den radikalen Hauptmann Waldemar Pabst, der den Befehl zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gab; dann den Hauptmann und späteren SA-Führer Ernst Röhm und den Führer der bayerischen Einwohnerwehren Georg Escherich. Weiterhin den Kapitänleutnant Karl Tillessen, der 1920 auf Befehl von Ehrhardt und zusammen mit seinem Marineoffizierskameraden Heinrich Schulz den Reichsfinanzminister Matthias Erzberger ermordete. Leutnant Heinz nahm im März 1920 in der Brigade Ehrhardt - in welcher man das Hakenkreuz auf dem Stahlhelm trug - am Kapp-Lüttwitz-Putsch gegen die Republik teil. Er hatte im Hintergrund mit den Attentaten auf Scheidemann und Rathenau zu tun. Später trat er dem nationalistischen Bund "Wiking" bei und wurde Hauptschriftleiter der Zeitung des rechten Frontsoldatenverbandes "Stahlhelm". In der zweiten Hälfte der 20er Jahre gehörte Friedrich Wilhelm Heinz zu der Literatengruppe um Ernst Jünger, die für einen sogenannten "soldatischen Nationalismus" eintrat. Zusammen mit Jünger, Franz Schauwecker, Ernst Salomon und Friedrich Hielscher zählte Heinz zu den später so genannten "fünf Aposteln des Neuen Nationalismus". 1928 trat er, wie andere ehemalige Offiziere der "Organisation Consul" und des Wiking-Bundes, der NSDAP bei und schlug sich in den innerparteilichen Richtungskämpfen auf die Seite der Brüder Strasser, womit zugleich Heinz' Konfliktgeschichte innerhalb der NSDAP begann. Nach 1933 wurden die ehemaligen Nationalrevolutionäre und Putschisten der Freikorpszeit in der Stärke von etwa 5.000 Mann als "Brigade Ehrhardt im Verband der SS" unter Himmlers Fittiche genommen. Dessen Gehilfe Reinhard Heydrich war ebenfalls ein ehemaliger Marineoffizier. Er machte 1932 seinen ehemaligen Marinekameraden, den Erzberger-Mörder Heinrich Schulz, zu seinem Adjutanten. Man sieht die Kontinuitätslinie: Sie führt von der kaiserlichen Kriegsmarine über die konterrevolutionären Freikorps und die nationalistischen Geheimorganisationen in die SS, die SA und in die NSDAP und ab 1935 auch in die Wehrmacht. Canaris, der in all den Jahren seine schützende Hand über die früheren Freikorpskameraden gehalten hatte - überraschenderweise auch dann, wenn sie jüdischer Abstammung waren -, holte im Jahre 1936 auch Friedrich Wilhelm Heinz in das Amt Abwehr des Reichskriegsministeriums, wo er im Laufe der Jahre zum Oberstleutnant avancierte.

    Ausführlich schildert Susanne Meinl die Formierung der Militäropposition im Amt Ausland/Abwehr des OKW in den Jahren 1935 bis 1938 und stellt dabei besonders die Rolle von Canaris, Oster und Heinz heraus. Die Motive und Ziele ihrer oppositionellen Haltung bleiben - sieht man einmal von deren unrealistischen Hoffnungen auf die Restauration einer Monarchie ab - letztlich diffus. Auch die nationalrevolutionären Widersacher Hitlers waren eben Nationalsozialisten; nur hatten sie zum Teil noch reaktionärere Vorstellungen als Hitler. Ein besonders interessantes Kapitel des Buches ist der legendenumwobenen "Division Brandenburg" gewidmet, die im Befehlsbereich des Amtes Ausland/Abwehr aufgebaut wurde und in der Heinz während des Krieges als Bataillonskommandeur eingesetzt war. Dort trafen noch einmal etliche alte Freikorpskämpfer zusammen. Allerdings waren sie - entgegen der Legende - nicht in der Lage, aus diesem Verband so etwas wie eine Verfügungstruppe der nationalrevolutionären Militäropposition zu machen. Nach dem 20. Juli 1944 wurde auch die Widerstandsgruppe in der Abteilung Abwehr systematisch zerschlagen. Nur ganz wenige erlebten das Kriegsende.

    Die Stärke der Historikerin Susanne Meinl ist das erzählerische Element der Geschichtsschreibung. Dagegen vermißt man etwas die systematische Analyse struktureller Zusammenhänge. Wir erhalten durch ihr Buch einen differenzierten Einblick nicht nur in den Werdegang des Nationalrevolutionärs, Schriftstellers und Offiziers Friedrich Wilhelm Heinz, sondern auch in die Lebensläufe vieler seiner Kameraden, die als "Nationalsozialisten gegen Hitler" allesamt gescheitert sind.

    Wolfram Wette über Susanne Meinl, "Nationalsozialisten gegen Hitler". Der 446 Seiten umfassende Band ist im Berliner Siedler Verlag erschienen und kostet DM 58,--.

    Im vergangenen Jahr hat die Freiburger Historikerin Karin Orth in der Hamburger Edition unter dem Titel "Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager" eine - so auch der Untertitel - "politische Organisationsgeschichte" vorgelegt. Ergänzend dazu hat sie nun in einem neuen Band das Personal der Organisation untersucht. "Die Konzentrationslager SS" ist er überschrieben, und er verspricht im Untertitel "Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien". Sven Kramer:

    Als die Konzentrationslager befreit waren, gingen die schockierenden Bilder aus Majdanek, Auschwitz, Bergen-Belsen und den anderen Stätten des systematisch betriebenen Massenmordes um die Welt. Man fragte sich, wie Menschen ihresgleichen so etwas antun konnten. Noch heute, nach Ruanda und den Kriegen auf dem Balkan, bleibt diese Frage aktuell. Wer die Massenmörder waren und welches Selbstverständnis sie mit ihren Taten verband, untersucht Karin Orth in einer instruktiven Studie über die in den Konzentrationslagern eingesetzte SS. Nach Auswertung umfangreichen Quellenmaterials, darunter sämtlicher erreichbaren Personalakten, weist sie nach, dass es sich auf der Ebene der Abteilungsleiter um eine relativ eigenständige Gruppe innerhalb der SS handelte, die besondere Ausbildungswege durchlief, einen eigenen Jargon entwickelte und ein dichtes Netz von persönlichen Beziehungen aufspannte. Die Gruppenzugehörigkeit festigte das Weltbild und unterstützte das aus ihm abgeleitete Handeln der Mitglieder.

    In biographischen Studien über ausgewählte Kommandanten zeigt Orth, dass die Konzentrationslager-SS aus der Mitte der Weimarer Gesellschaft, und zwar aus dem Kleinbürgertum, hervorging. Schon früh bekannten sich ihre späteren Mitglieder zur politischen Rechten. Wie der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, lernten viele den Umgang mit der Gewalt im Ersten Weltkrieg oder in den Freikorps kennen. Sofern sie der Kriegsjugendgeneration angehörten, erhielten sie ihre militärische und ideologische Erziehung in den SS-Junkerschulen. Die Ausbildung zum KZ-Fachmann jedoch führte sie in das von Theodor Eicke geleitete Lager Dachau, das als Musterlager fungierte. Karin Orth schreibt:

    »Eicke gewöhnte die SS-Rekruten gezielt daran, Gewalt auszuüben. Er ließ sie zum Vollzug der Prügelstrafe antreten, sie lernten, mit eigenen Händen zu foltern und zu töten. […] Im Grunde erwies sich die ›Dachauer Schule‹ als Initiationsritus, der die SS-Männer unempfindlich gegen ihre eigenen Gefühle – und die Qualen der Gefolterten – machen, vor allem jedoch in die Gruppe der Täter integrieren sollte. Die gemeinsam begangenen Verbrechen schweißten die Gruppe zusammen.«

    Eickes Verständnis von der Funktionsweise der Konzentrationslager beruhte auf einem Feindbild von den politischen Gegnern des Nationalsozialismus, die es mit eiserner Faust zu dominieren gelte. Die Folter, in Form von Auspeitschungen oder dem berüchtigten Baumhängen, setzte er systematisch als Disziplinierungsmaßnahme ein. Darüber hinaus entwarf er eine Lagerordnung, die während der dreißiger Jahre auf die meisten KZs übertragen wurde. Wer in Dachau zu Eickes Zufriedenheit gearbeitet hatte, durfte sich Hoffnungen auf die Zuweisung einer Kommandantur durch Himmler machen. Gegen Ende der dreißiger Jahre änderten sich die Verfolgungsschwerpunkte und seit 1941 auch die Mechanismen der Verfolgung. Sogenannte Asoziale wurden eingewiesen, durch den Krieg gelangten gefangene Soldaten in die Lager, und die Ermordung der europäischen Juden zeichnete sich ab. Wurden Tausende sowjetischer Kriegsgefangener noch per Genickschussanlage umgebracht, experimentierte man bald mit Gas. Das KZ-Sachsenhausen löste Dachau als Leitlager ab. Den neuen Typus des Kommandanten verkörperte Höß.

    »Eicke und Höß sahen nicht dieselben Personengruppen als gefährlich an […]. Die ›wirklichen Gegner des Staates‹, die ›Asozialen‹ und ›Berufsverbrecher‹, hätten die ›alten Dachauer‹ […] gar nicht wahrgenommen. Diesen Häftlingsgruppen sprach Höß jede ›Erziehungsfähigkeit‹ ab, sie müßten […] dauerhaft ›verwahrt‹ oder ›ausgemerzt‹ werden.«

    Gefragt waren nun reibungslos funktionierende Todesfabriken, in denen das Führungspersonal emotionslos die als richtig erkannten Maßnahmen umsetzte. Höß perfektionierte dieses System in Auschwitz, wo er in der sogenannten »Höß Aktion« binnen kürzester Frist Hunderttausende ungarischer Juden vergaste. Die Konzentrationslager-SS begleitete die von ihr verlangte Radikalisierung zustimmend. Karin Orths verdienstvolle, kompetente Studie macht plausibel, wie diese SS zu einer ›verschworenen Gruppe von Experten des Massenmords‹ wurde, der externe Maßstäbe abhanden kamen. Noch nach dem Krieg zweifelten die ehemaligen Kommandanten weder an der generellen Notwendigkeit von Konzentrationslagern noch räumten sie ein, sich persönlich schuldig gemacht zu haben. Die wenigen Überlebenden der Lager dagegen sahen in ihnen die bestialischen Handlanger einer barbarisierten Gesellschaft. Die Alliierten machten ihnen den Prozess und richteten die meisten von ihnen hin. Wer zunächst untertauchte und später vor bundesrepublikanische Gerichte gelangte, kam dagegen mit unerheblichen Gefängnisstrafen davon oder wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

    Sven Kramer über Karin Orth, "Die Konzentrationslager - SS, sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien". Der Band ist im Wallstein Verlag erschienen, umfaßt 335 Seiten und kostet DM 58,--.

    1986 erschien in den USA Robert Jay Liftons Abhandlung "The Nazi Doctors, Medicalized Killing and the Psychology of Genocide". Zwei Jahre später lag unter dem schlichten Titel "Ärzte im Dritten Reich" die deutsche Übersetzung vor. Zehn Jahre brauchte es hingegen, bis ein anderes Standardwerk zum Thema in Deutschland erscheinen konnte. Sein Titel: "Ärzte als Hitlers Helfer". Verfasst wurde dieser umfangreiche Band von dem deutsch-kanadischen Historiker Michael H. Kater, der vor 34 Jahren in Heidelberg eine fundierte Dissertation über die Wissenschaftsorganisation der SS, das "Ahnenerbe", vorgelegt hatte. Hören Sie die Rezension von Monika Köhler:

    Das Thema von Robert Jay Lifton sind die Ärzte in Konzentrationslagern, die grausamen Menschenversuche, vor allem aber die psychischen Mechanismen, die diese Handlungen ermöglichten. Kater will dagegen den ganz normalen Arzt beschreiben, wie er als Lehrender an Hochschulen oder täglich in der Praxis seine Arbeit tat. Nur - gab es den normalen Arzt in dieser Ausnahme-Zeit? Das versucht Kater, mit seiner umfangreichen Studie zu ergründen. Er recherchierte im Bundesarchiv und im Document-Center in Berlin. Ebenfalls in Berlin fand er Akten der Bundesärztekammer Köln, die man dort nicht kannte oder für verbrannt hielt: Akten der Reichsärztekammer, der Kassenärztlichen Vereinigungen. Sie lagen verstaubt und unbeachtet auf einem Schrank. Es ging meistens um Ausschlußverfahren von jüdischen Kollegen. Ein wichtiges Kapitel befaßt sich mit diesem Thema: "Die Verfolgung der jüdischen Ärzte", die irgendwann nur noch "Krankenbehandler’ genannt wurden. Der Antisemitismus war unter Ärzten besonders verbreitet - nicht wenige verkündeten auf ihren Praxisschildern in roter Schrift, dass sie "reinrassig" seien. Fanatisierte Studenten gingen schon im März 1933 gegen jüdische Kommilitonen vor, schreibt Kater, bevor der Staat mit der Gesetzgebung nachkam. Es galt, frühzeitig die Konkurrenz auszuschalten. An den Rassegesetzen hatten Mediziner großen Anteil. Der Jude war der "Parasit" am "Volkskörper", der Arier dagegen der "Heiler". Gerhard Wagner, der Reichsärzteführer, bezeichnete den Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Juden als ebenso widernatürlich wie den zwischen verschiedenen Tierarten. Das Fach "Rassenkunde" gewann immer mehr Einfluß an den Universitäten. Nach Hitlers Verordnung vom 25. Juli 1938 durften Juden ab Oktober nicht mehr approbiert werden. Kater dazu lapidar:

    Ende September verschwanden also die jüdischen Ärzte aus dem deutschen Gesundheitswesen.

    Schon Anfang 1934 hatten 2.600 Ärzte ihre Kassenzulassung verloren, eine Minderheit von Kommunisten eingeschlossen. Die freigewordenen Zulassungen erhielten "arische" Jungärzte, mindestens ein Viertel von Deutschlands jüdischen Ärzten wurde umgebracht, also über 2.000. Und die deutsch-"arischen" Ärzte? Die vereinigten sich im Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund oder dem Bund Deutscher Ärztinnen, fanden sich in der SA oder SS wieder oder in der Partei und - sie machten Karriere. Die Medizinerinnen, denen ein eigenes Kapitel gewidmet ist, hatten es schwerer. Reichsärzteführer Gerhard Wagner war frauenfeindlich. Er forderte schon im Dezember 1933 Zulassungsbeschränkungen für Ärztinnen. Anfangs gab es genug Ärzte, und die männlichen Kollegen meinten, dass Heirat und Mutterschaft wichtiger seien als der Erfolg im Beruf. Während des Krieges änderte sich das jedoch, da wurde jeder Mediziner gebraucht. Über den "alltäglichen" Kampf gegen Krankheiten lesen wir einen der Sätze bei Kater, die irritieren:

    Auch das Fleckfieber und der Typhus wurden erfolgreich bekämpft, konnten jedoch bis zum Ende des Krieges nicht völlig ausgerottet werden.

    Kein Hinweis auf Fleckfieber-Versuche, Versuche an Häftlingen in KZs, die Ärzten ein Betätigungsfeld boten, sich zu profilieren am Menschenmaterial. Erst im Schlußkapitel werden einige Ärzte oder Professoren mit ihren Lebensläufen skizziert. Ärzte, die, ausgehend von der "Rassenkunde", auch als Vertreter der antiwissenschaftlichen "Neuen Deutschen Heilkunde" eine Bedeutung erlangten, bis zu den Direktoren des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie und Eugenik, Eugen Fischer und Otmar Freiherr von Verschuer und dessen Assistenten Josef Mengele. Verschuer forderte 1944 eine "neue totale Lösung der Judenfrage". Mengeles Forschungen - wenn man es so nennen kann - in Auschwitz an Zwillingen sind bekannt.

    Bei Mengeles Arbeit in Auschwitz, deren Förderer letztlich Verschuer war, mischte sich Rationales und Irrationales...

    schreibt Kater und erläutert:

    "was die Ergebnisse am Ende wertlos machte."

    Wertlos? So "wertlos" wie die qualvollen und todbringenden Versuche in der Unterdruckkammer, die Dr. Sigmund Rascher für SS und Luftwaffe in München mit Dachauer Häftlingen unternahm? Wertlos für seine Habilitationsschrift, die nicht zustande kam, doch in diesem Fall nicht wertlos für die Forschung. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Mai 1986 ist zu lesen:

    "Die deutsche Luftfahrtmedizin hat, verborgen vor der Öffentlichkeit, in den Jahren vor und während des letzten Krieges hierzu nennenswerte Beiträge geliefert."

    Gemeint ist die Weltraumfahrt, wo die Belastbarkeit des menschlichen Organismus an ihre Grenzen stößt. Ist es nicht absurd und obszön, an Effizienz orientiere Wertmaßstäbe anzulegen im Angesicht des Mordens und der Menschenversuche? Der Leser wird auch informiert über die "eher altruistischen als eigennützigen Ziele" der frühen NS-Bewegung.

    "Zumindest in ihrer Rhetorik riefen diese Gründer eine Tradition des Altruismus ins Leben, die weit ins Dritte Reich hineinreichen sollte. Hochherzige Absichtserklärungen, die praktisch nie widerrufen wurden."

    Ist Kater tatsächlich so naiv? Da wird etwa der Arzt Friedrich Mennecke, allein in seiner Funktion als Ortsgruppenleiter in Eichberg vorgestellt, nur in den Anmerkungen verweist Kater auf weiterführende Literatur über Mennecke. Dass er aber als Direktor der Anstalt Eichberg und T4-Gutachter zuständig für die Euthanasie von Geisteskranken war und in ausführlichem Briefwechsel mit seiner Frau einen Einblick in die "Banalität des Bösen" ermöglicht - davon kein Wort. Nur, fast dreißig Seiten weiter, wird über eine Ärztin der Anstalt Eichberg berichtet, der es gelang, viele ihrer Schützlinge vor dem sicheren Tod zu bewahren, indem sie sie in die Obhut ihrer Verwandten gab, "unter Irreführung des Anstaltsdirektors" - also Friedrich Menneckes. Der Psychiater Karsten Jaspersen, NSDAP-Mitglied seit 1931, war ebenfalls an der Euthanasie beteiligt. Er habe Gewissensbisse bekommen und 1940 zusammen mit dem Münsteraner Bischof Graf von Galen dagegen interveniert:

    "Sogar gemeinsam mit Martin Bormann - ohne Erfolg."

    Als Quelle gibt Kater Ernst Klees Buch "Euthanasie im NS-Staat" an. Doch dort liest man dann das Gegenteil über das Verhalten des Leiters der Parteikanzlei. Bormanns Antwort an Jaspersen ist ein einziges ausführliches Plädoyer für die Euthanasie. Eine Frage drängt sich auf zum Schluss: Gab es wirklich

    "die Verpflichtung von Ärzten zu Sterilisierung, Euthanasie und medizinischem Mord",

    wie Kater glauben macht? Ein Gesetz zur Euthanasie hat es nie gegeben, die beteiligten Ärzte waren nicht nur - wie der deutsche Titel sagt - "Hitlers Helfer’, sie waren, worauf der Titel anspielt - Hitlers willige Helfer, wie die Offiziere und Soldaten der Wehrmacht, die sich am Massenmord beteiligten, obwohl sie sich hätten entziehen können. Kater zeigt selbst in seinen Untersuchungen, dass Ärzte - wenn sie es wollten - Wege fanden, die "Vorschriften des Regimes" zu umgehen - ohne schwerwiegende persönliche Einbußen. Die Beteiligung der Ärzte am nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm erfolgte nach den Prinzipien vorauseilenden Gehorsams, und bei vielen von ihnen gab es ein schon immer vorhandenes Einverständnis mit den rassistischen und biologistischen Grundbegriffen der Nazis.

    Monika Köhler über Michael H. Kater, "Ärzte als Hitlers Helfer". Der Band ist im Europa Verlag in Hamburg erschienen, umfasst 600 Seiten und kostet DM 58,50. Damit sind wir am Ende unserer heutigen Revue politischer Literatur. Für ihr Interesse bedankt sich Hermann Theißen.