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Neues Album von Arcade Fire
Tanzen und denken

13 Jahre nach dem Release ihres ersten Albums legt die Band Arcade Fire zum vierten Mal nach: "Everything Now" heißt das neueste Werk der Kanadier. Mit Fake-Website, düsterer Social Media Kritik und musikalischer Unterstützung durch Daft Punk ist "Everything Now" mehr Kunstprojekt als Album.

Von Helen Malich | 05.08.2017
    Régine Chassagne von Arcade Fire im blauen Overall bei einem Konzert der Band in Mailand im Juli 2017 (Bild: imago stock&people / Elena Di Vincenzo)
    Sängerin Régine Chassagne sorgt für die beseelten Momente des Albums. (imago stock&people / Elena Di Vincenzo)
    Mitte der 00er Jahre: Melancholische Mädchen und Jungen können sich auf eine Band einigen: Arcade Fire, mal triumphierend, mal getragen, immer ein Stückchen heile Welt im Chaos des Alltags. Selbst Musikfreund Mehmet Scholl ist Fan und dieser Band sogar hinterher gereist.
    Ein konsequentes Kunstprojekt
    13 Jahre und vier Alben später haben die Kanadier den Indiesound abgelegt. Jetzt mischen Daft Punk mit im Studio und viele Musiker mit breitem Musikspektrum unterstützen Arcade Fire bei der Produktion des neuen Albums. Noch immer sind die Songs tanzbar, pendeln jetzt zwischen 70er Disco-Flair und 80er Synthiesounds.
    Tatsächlich ist "Everything Now" aber viel mehr. Arcade Fire haben, wie auch schon beim Vorgänger "Reflektor" vor drei Jahren, ein Kunstprojekt erschaffen. Diesmal noch konsequenter. Sie haben Produkte erfunden - wie ein Müsli mit Ritalin und den E-Commerce Konzern Everything Now Corp, der die Social Media Accounts der Band übernommen hat, weil sie sich selbst zu schlecht vermarkten. Das Ergebnis: Ein Musikvideo, in dem so viele Werbebanner und Pop-up Ads auftauchen, wie es im schlimmsten YouTube-Albtraum nicht passieren könnte. Wie der Albumtitel schon sagt: Es gibt alles, und das sofort. Everything now.
    Verstopfte Köpfe
    Ein weiteres Thema: Fake News. Die Homepage Stereoyum ist gestaltet wie eine Musikwebsite, die es wirklich gibt - Stereogum. Hier findet sich eine persiflierte Vorab-Rezension des Albums - die tatsächliche Albumrezension der Original-Website klingt wirklich erschreckend ähnlich. Dazu zahlreiche Links und Querverweise zu weiteren Artikeln, die sich mit der Band befassen; ein Werbebanner mit einem Pinot Grigio, der aus dem Death Valley kommt. Beim Durchklicken muss man schon zwei mal hinsehen, um zu erkennen, ob es echte Artikel sind oder Fake. Ein bissiger Kommentar auf das digitale Zeitalter, in dem alles, was wir tagsüber lesen, unseren Kopf befüllt, ja verstopft.
    Es geht auch noch deutlicher: Der Song "Infinite Content, Infinitely Content" spielt mit der Konsumgesellschaft: Content - das englische Wort für Inhalt oder Kram; content - die Zufriedenheit. Was macht eigentlich wirklich glücklich?
    Kein sicherer Hafen
    Für die kritische Metaebene haben Arcade Fire also gesorgt. Für tanzbare Songs, die das Publikum zum Wabern bringt, ebenfalls. Nur was ist mit der menschlichen Seele, die bei dem Überangebot, den blinkenden Werbebannern, ein bisschen zerbricht? Sie findet nur zwischen den sarkastischen Zeilen Zuflucht. Im Song "Electric Blue", bei dem Sängerin Régine Chassagne das Rampenlicht bekommt und ihr Ehemann Win Butler, der sonst tönt, zurücktritt.
    "Everything Now" ist ein Kunstprojekt, musikalisch eine konsequente Weiterentwicklung für eine Band, die schon immer für große Hymnen und große Gefühle stand. Es gibt Fans, die sich in der aktuellen Weltlage vielleicht von Arcade Fire nicht Sarkasmus, sondern heile Segen und einen sicheren Hafen gewünscht hätten. Aber genaues Hinsehen ist besser als den Kopf in den Sand der Filterblase zu stecken, die uns eine heile Welt nur vorgaukelt.