Donnerstag, 25. April 2024

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Nhung Dam: "Tausend Väter"
Vietnamesische Flüchtlinge im nasskalten Holland

Seit der Vater fort ist, ist ständig Winter in Beiahêm. Die elfjährige Nhung, Kind vietnamesischer Flüchtlinge, will weg aus dem ungemütlichen niederländischen Küstendorf „am Rande der Welt“. Wie aber kann sie gehen, wenn niemand ihr hilft und ihre Mutter in einer psychiatrischen Einrichtung zurückbleibt?

Von Katharina Borchardt | 23.09.2019
1979 - Vietnamesische Flüchtlinge auf dem Frachter "Huey Fong"
Nhung Dams Erzählerin ist die Tochter vietnamesischer Boat People, die in den 1970er-Jahren in die Niederlande flohen (imago stock&people / ZUMA/Keystone)
Nhung ist elf Jahre alt und Kind vietnamesischer Flüchtlinge. Sie wächst an der niederländischen Küste auf. Kalt und unwirtlich ist die Gegend. Der Winter scheint gar nicht mehr aufzuhören. Fast wie in einem Märchen, das damit beginnt, dass Nhung ein wichtiger Mensch verloren geht.
"Nachdem mein Vater verschwunden war, schneite es ein ganzes Jahr lang in Beiahêm. Von der anhaltenden Kälte hatten die Menschen eine Eisschicht ums Herz, eine hauchzarte, zerbrechliche Schicht wie klarstes Kristall, und wenn sie niesen mussten, hatten sie Angst, ihr Herz könnte zerspringen."
Später schreibt der Vater einen Brief nach Hause: Er habe eine andere Familie gegründet, denn er wolle lieber einen Sohn als eine Tochter. Das müsse man verstehen. Er schickt den Brief seiner Tochter in Beiahêm. Beiahêm ist ein alter Name für Beijum, einen Außenbezirk von Groningen. Ein Migrantenviertel, in dem auch Nhung Dam aufwuchs.
"Das war ein sehr farbiges und lebendiges Viertel. Da passierten viele unheimliche, aber auch komische Sachen. Mich hat das als Kind sehr beeindruckt. Ich hatte manchmal das Gefühl, ich würde in einer Kirmes-Kulisse aufwachsen. Darüber wollte ich schreiben, allerdings strak abstrahierend. Als ich mich in die Geschichte von Beijum einlas, merkte ich, dass ich auf einer Erhöhung aufgewachsen bin. Einer Art Wurt, die ganz früher einmal Beiahêm hieß. Das war der erste Ort in der Umgebung, auf dem sich Menschen niederließen. Sie zogen nicht mehr umher, sondern ließen sich nieder auf diesem Hügel."
Das Recht zu bleiben
Wo darf man sich ansiedeln? Hat man ein Recht darauf, irgendwo zu bleiben? Oder können die, die früher angekommen sind, einem das Bleiberecht absprechen? Zumal in Beiahêm der Platz knapp wird, denn in Nhung Dams Roman nagt das Meer am Dorf, und ein paar Häuser sind schon in den Fluten verschwunden. Auch die Zuwanderer selbst zocken in ihren Spelunken bereits um Grund und Boden. Wäre es nicht vielleicht besser weiterzuziehen? Das sind die Fragen, die Nhung umtreiben:
"Sie hängt da fest auf dieser Insel. Manchmal hat man das doch in seinem Leben, dass man irgendwo drinsteckt und das Gefühl hat: Hier komme ich niemals wieder raus. Bis dann eines Tages ein frischer Wind von außen kommt und einen ein anderes Leben anweht. Jemand kommt aus einer Welt, nach der man sich selbst so sehnt. So ist die Figur Amour entstanden. Und der facht Nhungs Phantasie an und zeigt ihr, dass sie vielleicht doch entkommen kann."
",Beiahêm', sagte der Mann todernst. ,Fantastisch! Das ist der Ort, den ich suche.' Wieder mit einer eigenartigen Betonung auf ,das'.
,Das kann ich mir nicht vorstellen', sagte ich. Fast hätte ich ihn ausgelacht.
,Warum nicht?'
,Es kann gar nicht der Ort sein, den Sie suchen.'
,Wenn das Beiahêm ist, bin ich hier richtig.'
,Wo kommen Sie her? Hier ist niemand richtig.' Wer so was sagt, ist ein knallharter Lügner, dachte ich.
,Da liegt mein Schiff.' Der Mann zeigte zum Fluss, wo ein Segelschiff vertäut lag. Es war etwa achtzehn Schritte lang und schaukelte leicht auf dem Wasser. An Deck sah ich eine offene Weinflasche und ein leeres Glas."
Märchenhafte Elemente
Eine geheimnisvoll-poetische Figur, dieser Segler mit dem lockenden Namen Amour. Wie es überhaupt viele märchenhafte Elemente in diesem Roman gibt. Die örtliche Chinesenmafia etwa hat einen eigenen König, und in Hinterzimmern wird gezockt um Leben und Tod. Goldklumpen wechseln den Besitzer, und selbst die Zeit kann im Dorf manchmal stehenbleiben. Doch bei aller Poesie: Nhungs Situation spitzt sich immer mehr zu. Ihr Vater ist weg, ihre Mutter kommt kurze Zeit später in eine psychiatrische Einrichtung und ist kaum noch ansprechbar. Das Kind ist über längere Zeit ganz allein zuhause, was natürlich niemand wissen darf. Ist dies Nhung Dams eigene Geschichte?
"Ich musste Nhung plottechnisch ganz schön in die Enge treiben, auch um auf das Finale zusteuern zu können. Diese Dramatik stimmt so mit meinem eigenen Leben nicht überein. Aber das Gefühl, total in der Klemme zu sitzen, kenne ich auch. Und das Gefühl, dass man sich als Kind in einer Erwachsenenwelt noch nicht freikämpfen kann. Und dass man als Kind nicht gehört wird, auch wenn man manche Dinge viel klarer sieht als die Erwachsenen. Darin erkenne ich viel von mir selbst, als ich noch klein war."
Nhung Dam wurde 1984 in Groningen geboren. Ihre Eltern waren aus Vietnam geflohen und bauten in Groningen einen Imbiss auf. Nach einigen Jahren ging der Vater nach Vietnam zurück. Mutter und Tochter blieben in den Niederlanden. Nhung Dam besuchte später die Theaterschule in Amsterdam, wo sie heute noch lebt. Sie schreibt Stücke und steht auch selbst auf der Bühne. Und sie hat einen ersten Roman geschrieben – inspiriert von eigenen Erlebnissen und Erfahrungen.
Folgen von Krieg und Flucht
"Tausend Väter" zeigt in einigen Motiven eine Verwandtschaft mit den ebenfalls ganz rezenten Debütromanen von Lize Spit und Marieke Lucas Rijneveld: etwa darin, dass sich ein Mädchen aus vielerlei Nöten freizukämpfen versucht und dass sehr dünnes Eis in allen drei Romanen eine gefährliche Rolle spielt. Andere Motive, wie etwa die Folgen von Krieg und Flucht, verbinden Nhung Dams Roman aber auch mit den Werken vietnamesischstämmiger Autoren weltweit, etwa mit Viet Thanh Nguyen und Kim Thúy, mit Ocean Vuong und Linda Lê. Sie alle schreiben in den Sprachen ihrer neuen Heimatländer.
"Ich habe mich immer total angestrengt und mein Bestes gegeben. Meine Eltern sprachen zuhause nur Vietnamesisch mit mir. Ich sah ja, wie hilflos sie oft waren, weil sie kein Niederländisch konnten und zum Beispiel beim Arzt gar nicht sagen konnten, warum sie da waren. Ich wollte deshalb die Sprache sehr gut beherrschen. Ich dachte: Das ist dann mein Fahrschein ins Glück."
Schon sehr früh begann Nhung Dam, Tagebuch zu führen – auf Niederländisch. Um sich für ihren Roman in die Sicht eines Kindes einzufühlen, hat sie diese Tagebücher noch einmal gelesen. So gelingt es ihr scheinbar mühelos, den verwunderten Blick ihrer erst elf-, später zwölfjährigen Erzählerin zu erfassen. Auch sieht Nhung viele geheimnisvolle Verbindungen zwischen Menschen und Dingen im Ort, entwächst der Kinderwelt aber auch langsam und beginnt, auf eigenen Füßen zu stehen.
Kritisch könnte man anmerken, dass der Roman gelegentlich ein wenig ausufert. Da hätte man sich eine straffende Hand gewünscht. Auch einige sehr poetische Motive – etwa Staub und Sand – hätten noch stärker ausgearbeitet und stringenter durch den Roman gezogen werden können. Die kurzen Zwischenkapitel, in denen man für einen Moment tiefer in Nhungs Inneres eintaucht, hätten qua Erzählposition zudem noch deutlicher vom restlichen Text abgegrenzt werden können; denn fast immer ist es Nhung, die spricht. Darin merkt man dem Roman an, dass er ein Debüt ist. Allerdings ein ganz erstaunliches Debüt, das in seiner schwer-schönen Bildlichkeit fast etwas Biblisches hat. Es erzählt von den schweren Bedrängnissen eines empfindsamen Kindes: von Flucht und Fremdheit, von Einsamkeit und der unstillbaren Sehnsucht nach einem anderen Leben.
Nhung Dam: "Tausend Väter"
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach und Christiane Kuby
Ullstein Verlag, Berlin. 400 Seiten, 20 Euro.