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Nicht mehr Staatsgeld fürs Gesundheitssystem

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) weist die Forderung der Krankenkassen nach weiterer krisenbedingter Unterstützung zurück. Die Krankenkassen hätten ein Darlehn von 2,9 Milliarden Euro erhalten. Dies in einen Zuschuss umzuwandeln, der nicht mehr an den Staat zurückgezahlt werden muss, wäre nicht akzeptabel.

Ulla Schmidt im Gespräch mit Martin Steinhage |
    Martin Steinhage: Frau Ministerin, als wir zuletzt vor einem Dreivierteljahr ein Interview der Woche geführt haben, war auch die seinerzeit beginnende Finanz- und Wirtschaftskrise ein Thema dieses Gesprächs. Und damals sagten Sie auf meine Frage, ob diese Krise die Aussichten der SPD auf einen Erfolg bei der Bundestagswahl begünstigen würde - Zitat Ulla Schmidt: "Klar ist, dass dies eine Zeit ist, in der sozialdemokratische Antworten mehr denn je gefragt sind" - Zitat Ende.

    Da haben Sie sich gehörig verschätzt. Ihre SPD steckt inzwischen selbst in einer tiefen Krise. Wie erklären Sie sich die anhaltende Misere der deutschen Sozialdemokratie - gerade jetzt?

    Ulla Schmidt: Erstens noch einmal zu meiner Aussage: Ich bleibe dabei. Weil nur ein Weg aus der Krise führt, der versucht, wieder das Gemeinwohl in den Vordergrund zu stellen. Und der auch in der Perspektive mehr Regeln für die ungezügelten Märkte bringt, mehr Regeln dafür, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf gleicher Augenhöhe sich begegnen können, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und international, weil wir internationale Konzerne haben. Nur mit einer wirklich neuen Finanzmarktstrategie wird ein Weg aus der Krise führen - und dass wir am Ende der Krise eben besser dastehen als vorher.

    Steinhage: Aber das hilft der SPD nicht.

    Schmidt: Im Moment hilft es der SPD nicht. Ich bin ja da auch sehr zuversichtlich, weil ich davon fest überzeugt bin: Der Wahlkampf wird in den letzten sechs Wochen oder acht Wochen entschieden. Und wir brauchen auch die Zuspitzung der verschiedenen Konzepte. Im Moment war auch durch die Europawahl noch mal ganz schwierig die Situation für die SPD.

    Es ist so, dass eigentlich bei allen Umfragen wir mehr%e hatten und mehr Zustimmung hatten, als nachher da war. Das hat auch viele Gründe in der Frage: Warum schaffen wir es nicht, unsere Wähler auch zur Wahlurne zu bringen und dass sie auch ihre Stimme abgeben. Aber in der Auseinandersetzung, wie soll denn dieses Land weiter regiert werden? Soll es eine Regierung haben, die das Gemeinwohl in den Vordergrund stellt, oder brauchen wir eine Regierung - wenn Sie schwarz-gelb nehmen -, bei denen marktradikale Elemente im Vordergrund stehen?

    Diese Auseinandersetzung werden wir führen, und dann wird man einen Großteil unserer Wählerinnen und Wähler, die im Moment noch nicht so richtig wissen, ob es sich lohnt oder nicht, die werden wir auch gewinnen können. Und da wird der Endspurt für die SPD - da war sie immer gut für - noch spannend werden.

    Steinhage: Frank-Walter Steinmeier, der SPD-Spitzenkandidat und derzeitiger Außenminister, will sich verändern und will Bundeskanzler werden. Würden Sie denn gerne unter Kanzler Steinmeier das bleiben, was Sie sind, nämlich Bundesgesundheitsministerin?

    Schmidt: Unter Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat werde ich alles machen, was für die Partei notwendig ist und was auch gut ist und was auch nützt, weil ich sehr viel von ihm halte, sehr lange mit ihm zusammenarbeite und weiß, dass er einer der loyalsten, der fähigsten und auch der besten Köpfe ist, die wir haben hier in Deutschland.

    Steinhage: Die andere Frage kann nicht ausbleiben: Stünden Sie denn auch für ein zweites Kabinett Merkel zur Verfügung, wenn es also zu einer Neuauflage der großen Koalition käme und man Sie riefe?

    Schmidt: Ich werde auf jeden Fall alles dafür tun, dass die SPD auch weiter Regierungsverantwortung hat, und dafür auch kämpfen, denn ich halte es für ganz wichtig, dass wir eine sehr starke soziale Komponente haben. Ich möchte schwarz-gelb nicht, weil ich glaube, dass die Frage, was gerecht ist, völlig anders beantwortet wird, als sie beantwortet wird, wenn Sozialdemokraten dabei sind.

    Und ich möchte, dass wir auch in der Gesundheitspolitik weiterhin als Ziel haben, dass alle Menschen in diesem Land, unabhängig von ihrem Einkommen und von ihren Vorerkrankungen oder Behinderungen und ihrem Alter - dass sie eine Versorgung auf der Höhe des medizinischen Fortschritts erhalten. Und dazu brauchen wir die Sozialdemokratie, weil alle anderen Parteien, die in den Kombinationen auch FDP oder CDU/CSU zur Verfügung stehen, immer wieder auch eine größere Privatisierung der Lebensrisiken in ihren Programmen haben.

    Und wenn wir das anfangen, haben nachher die, die Geld haben, mehr Versorgung und bessere Versorgung als die, die weniger Einkommen haben, aber für die wir genauso eine Verantwortung haben.

    Steinhage: So, jetzt schaue ich nicht länger mit Ihnen nach vorne, sondern noch einmal zurück. Ein wesentlicher Schwerpunkt Ihrer Arbeit in den letzten vier Jahren war die jüngste Gesundheitsreform, die ja so weitreichende Folgen hat, dass sie noch immer kontrovers diskutiert wird.

    Für Ihre Widersacher, Frau Schmidt, bleibt die Reform mehr oder minder ein Flop. Währenddessen könnten Sie mir jetzt bestimmt einen 60-minütigen Vortrag halten über die Vorzüge und segensreichen Wirkungen dieser Reform. - Um es einmal in aller Kürze auf den Punkt zu bringen, wenn es Ihnen möglich ist: Was ist aus Ihrer Sicht der positivste Effekt, den die Reform mit sich gebracht hat?

    Schmidt: Mehr Gerechtigkeit, Stabilisierung auch der Versorgungsangebote der einzelnen Krankenkassen und auch die Ausstattung der Krankenkassen so, dass sie wirklich in der Lage sind, gute Versorgungsangebote für ihre Versicherten zur Verfügung zu stellen. Und gerade, dass wir einen einheitlichen Beitragssatz haben, dass wir das Geld so verteilen, dass dort, wo mehr Kranke und mehr Ältere sind, auch mehr Geld hinfließt, ist eine ganz wichtige Voraussetzung dafür, dass wir auch in dieser Krise jetzt relativ stabil mit dem Gesundheitsfonds agieren können. Und dass wir auch deswegen wirklich gute Diskussionen führen können über Verträge, die geschlossen werden müssen und auch investieren in mehr Service, mehr Angebote für Versicherte.

    Steinhage: Nehmen wir noch einmal das Stichwort "Gerechtigkeit" auf, das Sie nannten. Ein Element der Reform ist der sogenannte Zusatzbeitrag. In dieser Woche wurde ja bekannt, dass nur ganz wenige Krankenkassen demnächst diesen Sonderobolus erheben müssen. Das ist natürlich eine gute Nachricht für alle Kassenmitglieder, nur das Grundproblem bleibt doch. Der Einheitsbeitrag für den Fonds wird laut Gesetz erst dann wieder angehoben, wenn die Ausgaben der Kassen nur noch zu 95 Prozent gedeckt sind, so steht es sinngemäß im Gesetz.

    Das heißt in der Konsequenz, Zusatzbeiträge, die die Kassenmitglieder ja alleine aufbringen müssen, sind ja zwangsläufig nur eine Frage der Zeit, und die bisher vorhandene hälftige Finanzierung der Gesundheitskosten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern wird also weiter zurückgedreht - zulasten der Beschäftigten und Rentner. Und das ist ja nun wirklich kein Ruhmesblatt für eine SPD-Ministerin.

    Schmidt: Also erstens: Im Gesetz steht, dass der Fonds spätestens dann wieder mit höheren Beiträgen und mehr Steuergeldern bestückt werden muss, wenn er 95 Prozent nur noch abdeckt. Das heißt, die Entscheidung wird jede Regierung oder jedes Parlament dann immer wieder auch vorgelegt bekommen, wie es im kommenden Jahr dann weitergehen soll.

    Wir brauchen eine Stabilität auch bei den paritätisch aufzubringenden Krankenkosten. Wir haben den Fonds so ausgestaltet, dass die Kassen wirklich mit gut 100 Prozent auch starten können, wir haben in den letzten Jahren…

    Steinhage: Was die Kassen bestreiten.

    Schmidt: Ja gut, wer im Gesundheitswesen sagt eigentlich, er hätte genug Geld? Ich sage Ihnen, so viel Geld können Sie nicht drucken, wie von allen Seiten gefordert wird. Tatsache ist, dass die Kassen das erste Vierteljahr mit 1,1 Milliarden Überschuss abgeschlossen haben.

    Steinhage: Da sagen die Kassen: Sondereffekte - schmilzt weg bis Jahresende auf null.

    Schmidt: Das mag ja sein, ob es bis Ende des Jahres - das wird man sehen. Aber auf jeden Fall sind sie nicht zu niedrig eingestuft gewesen, denn wir haben ja ein neues System - 167 Milliarden Euro werden an die Kassen verteilt. Da, wo mehr Kranke sind, fließt mehr Geld hin. In der jetzigen Krise mit all der Zunahme an Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, all den Problemen, die wir haben, ist das die sicherste Bank, die man haben kann - zu wissen: Dieses Geld fließt jedes Jahr, jeden Monat.

    Denn wenn wir Konjunktureinbrüche haben und deswegen auch Einnahmeeinbrüche, steht der Staat mit Steuergeldern gerade, dass man diese Einnahmen auch absichern kann.

    Das Zweite: Das, was der Einzelne für Gesundheit aufbringen muss, kann in einer Gesellschaft mit mehr älteren Menschen und mit mehr Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts nicht weniger werden. Sondern wir werden uns überlegen müssen, wie kommen wir zu einer möglichst gerechten Aufteilung der finanziellen Belastungen. Ich gehöre zu denjenigen, die sagen: Ich möchte das Leistungsangebot der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten, und ich glaube, dass das durch die 1-Prozent-Begrenzung letztendlich besser ist für die Menschen, so zu agieren, als wirklich ganze Teile, die wir heute abgesichert haben, nicht mehr abzusichern. Das sagen im Übrigen auch alle Umfragen.

    Steinhage: Krisenbedingt haben die Krankenkassen ein Darlehn gekriegt vom Staat von 2,9 Milliarden Euro. Dieses sollen die Kassen 2011 zurückzahlen. Die Kassen wollen aber, dass dieses Darlehn in einen Zuschuss gewandelt wird. Bleiben Sie bei Ihrem klaren Nein?

    Schmidt: Im Jahr 2009 sich schon hinzustellen, dass man sagt: 2011 können wir das gar nicht zurückzahlen, weil wir einen Zuschuss brauchen jetzt, damit wir uns gar nicht damit befassen müssen - das halte ich, gelinde gesagt, für etwas, was man so nicht akzeptieren kann.

    Die Kassen haben eine Absicherung, dass in diesem Jahr das, was an Einnahmeausfällen da ist, durch einen zinslosen Kredit aufgefangen wird. Wir wissen gar nicht, ob es 2,9 sind, vielleicht sind es auch weniger, wir müssen ja mal sehen. Das ist ja nur der Rahmen.

    Steinhage: Aber wir wissen, Frau Ministerin, was nächstes Jahr kommt, denn dann schlägt die Krise voll auf den Arbeitsmarkt durch.

    Schmidt: Im kommenden Jahr kommen 1,5 Milliarden mehr Steuergelder, im übernächsten Jahr kommen 1,5 Milliarden mehr Steuergelder, und ich habe da eine ganz andere Position dazu.

    Ich wünsche mir, dass die Kassen sich mit uns und mit den Ärzten an einen Tisch setzen und sagen, bei - wenn man noch die landwirtschaftlichen Kassen nimmt - mehr als 170 Milliarden Euro: "Sind wir eigentlich durch ein bisschen mehr Effizienz im System nicht in der Lage, auch vielleicht eine Milliarde einzusparen?"

    Und wenn es dann so ist, dass die Krise stärker wird und dass man wirklich nicht kann, dann muss man 2010 sich darüber unterhalten: "Leute, was ist denn jetzt die richtige Antwort darauf?" - dass wir vielleicht mit einem Aufhäufen an Problemen umgehen, aber nicht von vornherein sagen: "Wir wollen das als Zuschuss, wir machen uns gar keine Gedanken darüber, ob es auch andere Wege gibt, sondern wir verlassen uns darauf, dass die Steuerzahler da gradestehen."

    Steinhage: Vielleicht könnte die Politik aber auch noch mehr Einfluss darauf nehmen, dass der Ausgabenanstieg im Gesundheitswesen nicht so dramatisch an mehreren Positionen weitergeht, wie das in der Vergangenheit der Fall war und immer noch der Fall ist.

    Das Stichwort "Arzneimittel" vielleicht als Erstes: Der alljährliche Kostenanstieg geht munter weiter. Wäre da nicht ein weiteres Arzneimittel-Sparpaket längst nötig gewesen - und ebenso ein Mechanismus, demzufolge jedes Präparat erst dann zugelassen wird, wenn eine objektive Kostennutzungsbewertung gründlich abgeschlossen ist?

    Schmidt: Wir haben ja viele Mechanismen. Wir haben die Möglichkeit, über Preisverhandlungen den Kassen, den Vertragspartnern gegeben. Wir haben mit dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen jetzt in der letzten Zeit daran gearbeitet: Wie kann denn eine Kostennutzungsbewertung entwickelt werden und auch dazu führen, dass dann anschließend wirklich nur der Mehrnutzen bezahlt wird und nicht null Prozent Mehrnutzen, aber 300 Prozent mehr Preis - wie das ja lange war; umgesetzt wird.

    Und wir haben diese Auseinandersetzungen, die wir immer führen - nehmen Sie mal die Diabetiker bei den kurzfristigen Insulinanaloga oder bei der herkömmlichen Humaninsulinabgabe. Da hat ja auch der gemeinsame Bundesausschuss dann aufgrund der Vorarbeiten gesagt: Mehrnutzen ist nicht erkennbar. Und deshalb können auch Präparate nur verordnet werden, wenn sie preislich genauso sind wie die Humaninsuline: Riesendiskussion, aber es hat dazu geführt, dass die Arzneimittelhersteller Rabattverträge machen und die Preise senken. Und dieser…

    Steinhage: Trotzdem steigen die Preise immer noch - Arzneimittel plus zehn Prozent im letzten Jahr.

    Schmidt: Ja, aber es sind weniger. Das ist im Vergleich - international haben wir moderate Anstiege, aber da ist natürlich Luft drin. Und deshalb sage ich ja: Die Kassen sollen sich überlegen: Wie kriegen wir die Verträge bei patentgeschützen Arzneimitteln, können wir uns da zusammenschließen? Und da sind Möglichkeiten der Einsparungen drin.

    Steinhage: Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Frau Schmidt, zweiter Punkt, nehmen wie die Arzthonorare. Die niedergelassenen Ärzte bekommen mehrere Milliarden Euro zusätzlich und sind trotzdem hochgradig unzufrieden.

    Woran liegt das eigentlich, dass die Ärzte trotz einer objektiven Vergrößerung des Honorartopfs so sauer sind? Liegt da ein großes Missverständnis vor ärztlicherseits? Oder geht es um unmäßige Gier? Oder handelt es sich vielleicht eben doch um nachvollziehbare Forderungen, für deren Erfüllung Sie aber nicht noch mehr Geld bereitstellen wollen oder können?

    Schmidt: Es ist vor allen Dingen ein innerärztliches Verteilungsproblem. Die Arzthonorare zu verteilen ist eine ureigene Aufgabe der ärztlichen Selbstverwaltung. Da hat der Gesetzgeber überhaupt keine Handlungskompetenz daran.

    Wir haben nur die Rahmen für das neue Honorarsystem gemacht: Dass es eine Euro-Cent-Gebührenordnung geben muss, dass jede Leistung bezahlt wird und dass es eine bundeseinheitliche Angleichung geben muss, weil wir ja in den neuen Bundesländern über Jahre hinweg mindestens 15 bis 20 Prozent weniger an Honorar hatten, als zum Beispiel in den westlichen Ländern.

    Als Gesundheitsministerin bin ich auch dafür verantwortlich, dass nicht aus Thüringen oder Sachsen noch mehr Ärzte abwandern, weil sie glauben, in einem anderen Bundesland verdienen sie mehr Honorar, sondern ich muss ja auch da die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen. Deshalb braucht man auch ausgeglichene Verhältnisse in diesem Bereich.

    Was ich den Ärzten nur raten kann: Erstens abwarten, die Abrechnung für das erste Quartal, die kommt jetzt. Und da ist es so, dass auch aus den Meldungen, aus den KVen schon deutlich wird, dass ein Großteil der Ärzteschaft wirklich auch mehr hat, auch mit dem neuen System. Immerhin sind im ersten Vierteljahr 9,5 Prozent mehr Arzthonorare geflossen als im letzten ersten Quartal.

    Ich meine, das Geld muss ja irgendwo angekommen sein. Es ist ja von den Kassen und den Versicherten bezahlt. Das zweite ist, der Bewertungsausschuss von Ärzten und Krankenkassen hat ja festgelegt, dass, wenn die Daten bekannt sind, sehr genau untersucht wird, wo führt das neue System vielleicht zu Ungerechtigkeiten zwischen den Arztgruppen oder innerhalb einer Arztgruppe, weil man eben sehr viel genauer hinschauen muss, wie ist der Bedarf in der einzelnen Praxis und wie setzt sich das zusammen. Bis Ende des Jahres muss da der Ausgleich geschaffen sein und da rate ich auch zu etwas Geduld mit einem neuen System.

    Steinhage: Die Krankenkassen haben auch bemängelt, dass Sie als zuständige Ministerin den Krankenhäusern mit zusätzlichen 3,5 Milliarden Euro helfen - mit der Folge, dass man dort ähnlich wie bei den Kassenärzten sagt: 'Nette Geste, reicht aber bei Weitem nicht.' Sind eigentlich solche Rangeleien Teil des Spiels oder läuft in der Finanzierung des Gesundheitswesens grundsätzlich etwas schief?

    Schmidt: Also, es ist zumindest Teil des Spiels, weil jeder glaubt, bei seiner eigenen Klientel damit punkten zu können. Es ist schon so, dass Funktionäre, glaube ich manchmal, die Haftung zum Boden verloren haben in einer Situation, wo die Krankenhäuser 3,5 Milliarden Euro mehr bekommen, wo sie aus dem Konjunkturpaket noch einmal zusätzliche Leistungen bekommen für notwendige Investitionen, die ja eigentlich Länderaufgabe sind, aber wo der Bund auch Geld zur Verfügung gestellt hat.

    Die Krankenkassen sagen, in den nächsten drei Jahren zahlen wir 90 Prozent der Kosten für die Einstellung von fast 17.000 neuen Krankenschwestern oder -pflegern im Krankenhaus. Da muss ich sagen, da ist es manchmal schon ein Stück zu viel, einfach nur zu hören: "Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es nützt nichts." Und ich glaube, genug Geld haben sie nie. Und deshalb werden sie immer eine Diskussion um die Verteilung von begrenzten Ressourcen haben. Aber in Deutschland sind diese Ressourcen sehr hoch und sie müssen reichen.

    Steinhage: Vor knapp zwölf Monaten ist die Reform der Pflegeversicherung in Kraft getreten. Sie bringt einen ganzen Strauß an Verbesserungen für die Betroffenen mit sich, und im Gegenzug steigt der Beitragssatz zur Pflegeversicherung, wie ich finde, moderat. In aller Kürze: Was sehen Sie nach einem Jahr Reform als besonders gelungen an und wo erkennen Sie Defizite?

    Schmidt: Also was, da wo es eingerichtet ist, unheimlich gut angenommen wird sind die Pflegestützpunkte, weil man sieht, es ist ein großer Bedarf da. Ich finde, ein guter Erfolg ist die Einstellung von Betreuungsassistenten in den stationären Alteneinrichtungen, damit wir wirklich für die Menschen, die demenziell erkrankt sind, eine Betreuung haben.

    Es beginnt besser zu laufen der Aufbau und die Weiterentwicklung der ambulanten Strukturen für die Betreuung demenziell Erkrankter zu Hause durch die neuen Leistungen. Es beginnt langsam die Diskussion über neue Wohnformen. Es beginnt jetzt - das braucht ja immer seine Zeit - die Diskussion über die Zusammenlegung oder auch Beschäftigung von Einzelkräften. Da tun sich ganz neue Felder auf: Wie kann man eigentlich eine gute Versorgung organisieren?

    Und ich bin froh, dass wir die ersten Schritte gemacht haben, dass es wirklich zu einer bundeseinheitlichen Bewertung der Pflegeeinrichtungen kommt, und zwar mit dem Schwerpunkt Pflege. Und auch die Kriterien für die Veröffentlichung entwickelt wurden, damit man wirklich damit arbeiten kann und auch in der Arbeit sehen kann, wo es weiter entwickelt werden muss.

    Steinhage: Und an der Stelle sagt Ihr Koalitionspartner CSU, was man da vorhat, das ist reine Volksverdummung, denn die Einflussmöglichkeiten der Pfleger und Betreiber seien viel zu groß. Schwere Missstände könnten leicht unter den Teppich gekehrt werden. Der Pflege-TÜV sei eigentlich etwas, was nichts taugt.

    Schmidt: Ich empfehle da den Faktencheck von "Hart aber fair", wo ich mit der CSU-Ministerin war. Und da sah sie anschließend nicht so gut aus bei diesen Vorwürfen. Das kann man im Internet nachschauen.

    Und wir sind nicht zuständig für die Entwicklung der Kriterien. Aber wir haben darauf geachtet: Kann eine schlechte Pflege durch etwas anderes verändert werden? Das kann sie nicht. Die schlechte Pflege und Betreuung macht 80 Prozent der Bewertung aus und das kann nicht mit zehn Prozent für soziale Angebote oder für Hygiene aufgefangen werden.

    Das Zweite ist, wir haben ein System, wo erst mal deutlich wird: Wie sind die Leistungen. Und wir waren uns einig, jetzt wollen wir das auf den Weg bringen und dann sehen, kommen die Menschen damit zurecht? Weiterentwickeln und verbessern kann man immer. Aber jetzt zu sagen, wir werden uns noch ein Jahr hinsetzen und das entwickeln, das bedeutet, dass wir dann nicht die Überprüfung der Qualität - auch wie wir sie wollen und wie sie auch dokumentiert werden soll - anfangen können. Und ich glaube, das ist die richtige Entscheidung. Aber die bayerische Staatsregierung ist immer schon mal etwas anders als andere.

    Steinhage: Noch einmal zurück zu meiner Eingangsfrage, bei diesem Themenkomplex: Wo sehen Sie Defizite, wo läuft die Reform noch nicht so, wie Sie sich das vorstellen?

    Schmidt: Ich hätte gerne noch mehr auch an Einstellungen der Betreuungsassistenten [verändert], dass es noch schneller geht auch in der Frage der Umsetzung durch die Krankenhäuser. Ich hätte natürlich gerne mehr Dynamik bei den Pflegestützpunkten.

    Und für mich ist das Allerwichtigste jetzt, wir haben ja die Leistungsstrukturen verbessert, wir haben auch gesagt, es gibt Leistungen auch für Menschen, die demenziell erkrankt sind, selbst wenn sie keine Pflegestufe haben. Das, was wir jetzt entwickelt haben, auch parallel dazu der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, dass schon in der Begutachtung ein ganzheitlicher Ansatz stattfindet. Dass wir nicht mehr sagen, wo sind die körperlichen Defizite, sondern was muss getan werden, um die Selbstständigkeit des Einzelnen so lange wie möglich erhalten zu können, dass wir das jetzt diskutieren und umsetzen.

    Wenn wir diese Neuordnung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes haben und dazu eben Leistungsstrukturen - die wir auf den Weg gebracht haben, die dem auch dienen nachher in der Versorgung - zusammenbringen können, dann wäre wir einen Riesenschritt weiter. Und ich hoffe, dass wirklich die Gesellschaft eine breite Diskussion einmal darüber führt, wie wollen wir denn eigentlich selber gepflegt werden und was müssen wir dazu heute tun, damit da wirklich die guten Strukturen aufgebaut werden.

    Und da ist diese Vorlage des Beirats für den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ein Meilenstein. Wenn man wirklich ernst nimmt, dass es um humane Pflege geht und dass wir einen Bereich schaffen wollen, wo auch junge Menschen gerne in den Beruf gehen und sagen, "unter diesen Bedingungen arbeite ich auch gerne mit pflegebedürftigen Menschen zusammen".

    Steinhage: Sie sprechen damit schon eine Großbaustelle der nächsten Legislaturperiode an, oder um es vornehmer mit Ihren Worten auszudrücken, einen Paradigmenwechsel in der Pflegeversicherung überhaupt. Nun muss ich da auch wieder Wasser in den Wein gießen: Das Ganze kostet logischerweise Geld.

    Geschätzt wird, dass die Pflegeversicherung sich um über 20 Prozent verteuern könnte, und da wären noch gar nicht die kostentreibenden Folgen der fortschreitenden Überalterung mit immer mehr Pflegefällen enthalten. Woher soll das Geld denn kommen?

    Schmidt: Also erstens wird es nicht mehr als 20 Prozent kosten, aber es kostet insofern, als man mindestens für zwei, drei Jahre zwei Systeme nebeneinander sich entwickeln lassen muss. Hier haben wir Bestandsschutz für die, die sagen, ich will im alten System bleiben. Und für Neue bauen sie ein neues System auf. Und sie müssen dazwischen auch die Möglichkeit geben, dass die, die wechseln wollen, das auch können.

    Das kostet Geld, aber das ist ein vorübergehendes Geld. Es gibt viele Möglichkeiten. Der Beirat hat fünf Vorschläge gemacht zwischen relativ kostenneutral oder Mehrkosten. Aber wir müssen die Diskussion über Kosten führen. Ich habe dazu eine einfache Antwort.

    Steinhage: Bürgerversicherung?

    Schmidt: Ja. In der Pflegeversicherung haben alle, egal ob sie privat oder gesetzlich versichert sind, den gleichen Anspruch auf Leistung. Und wenn wir dazu kämen, dass auch alle den gleichen Anteil ihres Einkommens in die soziale Pflegeversicherung einzahlen würden, dann könnten wir damit eine ganze Menge an Mehrleistungen auch finanzieren, weil alle Risiken füreinander einstehen.

    Es ist ungerecht, dass die Menschen, die in der sozialen Pflegeversicherung sind - und die mehr ältere Menschen versichern als zum Beispiel die private Krankenversicherung - dass hier fast 20 Milliarden Euro, die an Beiträgen aufgebracht werden, immer wieder auch in die Versorgung fließen und kaum Rücklagen ausgebildet werden, sondern wir seit Jahren auch ein Stück von den Rücklagen wieder wegnehmen müssen. Während in der privaten Pflegeversicherung, die ja eigentlich zehn Prozent der Leistungen tragen müsste, weil sie zehn Prozent der Versicherten hat, nur 30 Prozent von dem, was sie an Beiträgen hat, wirklich in die Versorgung fließt und alles andere auf die hohe Kapitaldecke gelegt wird.

    Und da sage ich, während die einen die Zinsen anschaffen können, obwohl sie alle den gleichen Leistungsanspruch haben, müssen die anderen immer wieder über Beitragsanhebungen vielleicht darüber nachdenken, welche Leistungen man ausbessern kann; alle zu gleichen Bedingungen einzahlen und alle füreinander einstehen.

    Allein mit dem Geld, das die private an Zinsen hat, könnten wir wahrscheinlich 20.000 Altenpfleger und Altenpflegerinnen einstellen. Und deswegen: Die zwei Milliarden, die dort an Beiträgen aufkommen, auch noch in die Versorgung, dann haben wir eine ganze Menge mehr.

    Steinhage: Ihr Noch-Koalitionspartner hat ja schon konkrete Pläne in der Schublade, wie es in der Gesundheitspolitik nach der Bundestagswahl und ohne Ulla Schmidt weitergehen soll. Wir müssen das jetzt nicht im Einzelnen durchdeklinieren.

    Was aber sollte denn nach Ihrer Auffassung gleich nach der Wahl geschehen? Wo würden Sie ansetzen? Was hätte da Priorität?

    Schmidt: In der Gesundheitspolitik ist der Schwerpunkt: Wie organisieren wir die wohnortnahe Versorgung, die haus- und fachärztliche Versorgung in der Fläche? Wie müssen wir die Netze aufbauen und weiterentwickeln, die Strukturen?

    Wir haben viele Gesetze, das muss umgesetzt werden: Wie sorgen wir dafür, dass wir auch in ländlichen Regionen Ärzte haben, die sich dort ansiedeln, und wie können wir das attraktiver machen? Dazu haben wir die Maßnahmen auf den Weg gebracht, das muss umgesetzt werden. Wie sorgen wir für eine wohnortnahe Krankenhausversorgung in der Grundversorgung?

    Das sind, glaube ich, die Hauptaufgaben, die es in der Gesundheitspolitik gibt, weil die unmittelbar die Menschen betreffen, damit wir hier eine gute Versorgung gerade der älteren Bevölkerung auch sicherstellen können.

    Steinhage: Ich bedanke mich für das Gespräch.