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Nicht nur ein Radlerparadies

Ferrara ist eine Stadt, in der Fahrradfahren Kult ist. Breite Mauern umgeben das alte Stadtzentrum: Auf den neun Kilometer langen Mauern kann um die gesamte Altstadt geradelt werden. Doch Ferrara ist auch eine Stadt der Kunst und Kultur.

Von Conrad Lay |
    Ferrara ist ein seltenes Kleinod, eine der schönsten und besterhaltenen Renaissancestädte Europas, dabei nur wenige Kilometer von den großen Touristenrouten entfernt. In den kälteren Monaten werden die alten Gemäuer magisch verzaubert durch die Nebel der Po-Ebene, die in die Stadt hereindrücken und sie in ein nahezu unwirkliches, surrealistisches Licht rücken, als ob man sich im Traum - oder in einem Film - befände.

    Ausgangspunkt unseres Spaziergangs ist das nördliche Stadttor, das sogenannte "Engelstor": Hier beginnt die alte Prachtstraße der Stadt, der Corso Ercole I d'Este. Er ist von prächtigen Palästen und Residenzen gesäumt und mit den Flusssteinen des nahegelegenen Po gepflastert. Mit seinen roten Backsteinfassaden hat der Corso sein ursprüngliches Bild bewahrt und weist keinerlei Geschäfte auf. Manch ein Besucher bezeichnet ihn als die schönste Straße Italiens.

    Wenige Schritte von hier ist der Schauplatz von Giorgio Bassanis berühmtesten Roman "Die Gärten der Finzi-Contini". Doch wer die Gärten aufsuchen will, wird sie nicht finden. Immer und immer wieder denkt man, hier muss es doch gewesen sein, wo die bezaubernde Micòl mit ihren jungen Freunden Tennis spielte. Hinter diesen hohen Mauern hatten sie sich zurückgezogen, nachdem den Juden untersagt worden war, auf dem öffentlichen Tennisplatz der Stadt zu spielen. Aber ob es wirklich hier war?

    "Wir befinden uns hier an einem der Punkte der Stadt, die Bassani für seinen Roman 'Die Gärten der Finzi-Contini' verwendet hat. Aber nicht in einem naiven naturalistischen Sinne, sondern er hat sie literarisch mit anderen Orten der Stadt verbunden. Die Größe von Bassani besteht darin, den Schauplätzen seines Romans eine Glaubwürdigkeit zu geben, sodass man, wenn man durch Ferrara läuft, in jedem Augenblick einen Ort von Bassani aufzufinden glaubt."

    Paolo Ravenna, inzwischen hochbetagt, Freund und Kenner Bassanis, Repräsentant der jüdischen Gemeinde, Rechtsanwalt.

    "Ich habe Giorgio Bassani mit 12, 13 Jahren kennengelernt, heute bin ich über 80. Die Verbindung mit Bassani geht auf das Jahr 1939, 1940 zurück, ich war damals sein Schüler. Nach Mussolinis Rassegesetzen des Jahres 1938 wurden wir jüdischen Schüler aus den öffentlichen Schulen verwiesen. Die jüdische Gemeinde richtete damals eine eigene Schule ein, dort lehrte Bassani, denn auch er konnte als jüdischer Lehrer nicht mehr an öffentlichen Schulen lehren."

    Bassani habe immer davor gewarnt, provinziell zu werden, erzählt Ravenna, er habe auf die Öffnung zur Welt gesetzt.

    "Wir lebten in einer sehr schwierigen Welt, umzingelt von den Faschisten, isoliert. Aber durch Bassani haben wir eine umfassende Kultur kennengelernt. Schon mit 13, 14, 15 Jahren hat er uns das Fenster zur Welt geöffnet. 'Die Welt ist nicht nur jener kleiner Ausschnitt der Faschisten, die uns umzingeln', sagte Bassani, 'sie ist viel größer'. Er machte uns mit ausländischen Autoren bekannt, mit amerikanischer, russischer, auch deutscher Literatur, mit 15 Jahren lasen wir Rainer Maria Rilke, den wir nicht kannten."

    Sowohl Giorgio Bassani wie auch Paolo Ravenna waren jahrzehntelang in der Bürgervereinigung "Italia Nostra" aktiv, die sich sowohl für Denkmal- wie auch Naturschutz einsetzt, zum Beispiel für die Erhaltung der Stadtmauern und ihres grünen Anlagerings. In Ferrara hat ein Italien überlebt, das sich seiner Traditionen sicher weiß. Paola Bassani, die Tochter des Schriftstellers, erinnert sich:

    "Das Konzept von Italia Nostra ist sehr innovativ. Mein Vater hatte verstanden, dass man nicht in die Landschaft eingreifen darf, dass sie eine historische Funktion hat, einen historischen Wert, den darf man nicht gefährden. Man muss sie achten, das ist eine italienische Erkenntnis. Die großen Anstrengungen der UNESCO, das Weltkulturerbe zu schützen, gehen auf eine Idee von Italia Nostra zurück."

    Der Einfluss Italia Nostras hat sich auch in umgekehrter Richtung ausgewirkt: Heute ist die Renaissancestadt Ferrara von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt. Nach außen hin eine unnahbare Festung offenbart sich die Stadt beim Betreten als freundlich, als Ort der kurzen Wege, als charmante Studentenstadt - schließlich hat in Ferrara eine der ältesten Universitäten ihren Sitz.

    Wir spazieren auf dem Corso Ercole I d'Este weiter und kommen zum "Museum Michelangelo Antonioni". Der neben Bassani zweite große Sohn der Stadt wurde 1912, also vor genau 100 Jahren, hier geboren. Er gilt nicht nur mit "Blow up" und "Zabriskie Point", sondern auch mit seinen neorealistischen Frühwerken als einer der Väter des modernen Films. Die Landschaft der Po-Ebene, das Netz von Kanälen und Wasserläufen, und immer wieder der Nebel, geben seinen Filmen etwas Geheimnisvolles, zum Teil Bedrohliches. Unterstrichen wird diese Stimmung durch die Filmmusik Giovanni Fuscos, etwa in den Klassikern "Der Schrei" und "Die rote Wüste".

    Mitten in der Altstadt Ferraras befindet sich das alte jüdische Getto: Rote Backsteinhäuser kauern hier eng aneinander. Vor der Synagoge in der Via Mazzini, der Hauptstraße des Gettos, spielen Straßenmusikanten. Heute ist in der Synagoge ein Museum untergebracht. Rita Neri von den jüdischen Gemeinden erzählt:

    "Die Schlüssel zu den Toren des Gettos gehören der katholischen Kirsche. Das ist ziemlich einmalig. Als das Getto 1859 aufgelöst und die Tore geschleift wurden, blieben die Schlüssel im Eigentum des Papstes, dem weltlichen Herren des Kirchenstaates, zu dem Ferrara gehörte. Auch wenn sich in jüngster Zeit die Beziehungen zwischen jüdischer Gemeinde und katholischer Kirche verbessert haben, so bleiben die Schlüssel doch ein einzigartiges Dokument in unserem Museum."

    Am nächsten Morgen ist die Stadt in dichten Nebel gehüllt. Wir hoffen auf besseres Wetter und planen einen Abstecher auf den Spuren von Riccardo Bacchelli. Sein Roman "Die Mühle am Po", in Italien Schullektüre und ähnlich bekannt wie "Die Verlobten" von Manzoni, spielt wenige Kilometer entfernt. Am Ufer des Po angekommen, führt ein Holzsteg zu einem merkwürdigen, aus zwei Booten bestehenden Schiff, das am Ufer festgezurrt ist.

    Das Schiff ist eine Mühle, deren Rad von der Strömung angetrieben wird. Es handelt sich um einen originalgetreuen Nachbau einer Mühle aus dem Jahr 1850, die Bacchelli als Vorbild diente. Mühlenwärter Leonardo Baraldi erzählt:

    "Der Müller Lazzaro, die Symbolfigur dieses Romans, ist eine für unsere Gegend sehr typische Person: Ein einfacher Mann, der sich selbstständig macht, der niemals Kompromisse akzeptiert, der dafür kämpft, etwas aus sich zu machen. Er erlebt die Missgeschicke jener, die nichts haben und sich irgendwie durchschlagen müssen. Als er später Geld genug hat, um sich eine eigene Mühle zu kaufen, ist er sich nicht zu fein, weiterhin als Hilfsarbeiter in den Getreidelagern der österreichischen Armee zu arbeiten. Er lebt von den Brosamen, die dabei abfallen, und von gerösteten Mäusen."

    Im 19. Jahrhundert, berichtet Baraldi, wurde in der "Mühle am Po" zweierlei Mehl gemahlen, je nachdem ob die Bauern vom südlichen oder nördlichen Ufer des Pos kamen:

    "Man kann von zwei verschiedenen Esskulturen sprechen. Im Kirchenstaat, also am südlichen Flussufer, baute man Getreide an und aß Brot. Auf der Seite der Österreicher, also am nördlichen Ufer, hatten die Venezianer den Mais eingeführt, aßen also Polenta. Doch da die wenig Proteine aufweist, führte das zu speziellen Hautkrankheiten. Die bekamen Leute, die nur Polenta aßen. Auf der Seite des Po dagegen wurde Getreide gemahlen, hier starben die Leute an einer anderen Krankheit: nämlich der Malaria, die von Stechmücken übertragen wurde."

    Inzwischen hat sich die Sonne gegen den Nebel durchgesetzt, nur über dem Wasser halten sich noch letzte Schwaden. Während der Mühlenwärter das Mahlwerk anstellt, ist Filippo Parisini auf das Schiff gekommen.

    Der junge Bürgermeister der naheliegenden Ortschaft Ro Ferrarese hat dafür gesorgt, dass sich die zahlreichen Radwanderer stärken können, die auf ihrer Tour entlang des Po hier einen Halt einlegen: mit Ferrareser Brotspezialitäten und regionalen Salami-Arten.

    "Ich glaube, das eindrucksvollstes Element dieser Landschaft ist der Nebel. Er verhüllt alles, aber wenn er dann der Sonne weicht, explodiert das italienische Licht, wirklich."