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Nicht nur Holocaust-Mahnmal

Wer sich von der Straße kommend dem Eingang nähert, findet sich zunächst zwischen drei hohen Mauern wieder. In hellen Marmor sind da Name, Vorname und Geburtsjahr von 76.000 Menschen eingraviert - die Namen der 76.000 jüdischen Frauen, Männer und Kinder, die von 1942 bis 1944 aus Frankreich deportiert und in Auschwitz ermordet wurden. Diese "Mauer der Namen" soll den Besuchern auf einen Blick das Drama der Shoah begreiflich machen - so Eric de Rothschild, Präsident des "Memorial de la Shoah":

Von Kathrin Hondl |
    Mit der Mauer schenken wir diesen Menschen eine Art Grabstätte, sagt er. Einen Grabstein. Alle diese Personen kamen in Auschwitz ums Leben und wurden in den Öfen dort verbrannt. Ihre Familien und Freunde hatten bisher keinen Ort der Besinnung. 76.000 Menschen sind keine namenlose Masse - es sind 76.000 Individuen. Und das wollen wir hervorheben: das gebrochene Schicksal dieser Menschen, die während der Shoah verschwunden sind.

    Dieser Blick auf Einzelschicksale setzt sich im Eingangsbereich des neuen Gedenk-, Dokumentations- und Forschungszentrums fort. Unter dem Titel "Des noms et des vies" - "Namen und Leben" sind auf eine Wand Fotografien projiziert. Großformatige, leicht unscharfe Aufnahmen zeigen etwa einen Mann in Motorradmontur, einen Rabbiner beim Gebet, lachende Frauen und Kinder am Strand - dann folgen noch einmal dieselben Bilder, scharf, im Ausschnitt: die lachenden Mädchen im Badeanzug, lesen wir, heißen Arlette, Rose, Margarete und Liliane Bloch. Sie wurden in Auschwitz ermordet.

    Auch die Dauerausstellung über die Geschichte der französischen Juden während des Zweiten Weltkriegs stellt mit zahlreichen Dokumenten, Filmen und Augenzeugenberichten das Schicksal einzelner Menschen in den Vordergrund.
    Am 27. Januar, dem 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, soll das "Memorial de la Shoah" feierlich eröffnet werden. Ein Datum, das allerdings auch verdeutlicht, wie isoliert sich die Überlebenden der Shoah im Frankreich der unmittelbaren Nachkriegszeit fühlten, sagt Jacques Fredj, Direktor des Pariser Shoah-Gedenkzentrums:

    Wir sind immer noch sehr zurückhaltend was den Begriff Liberation - Befreiung angeht. Denn die Befreiung von Auschwitz, die Befreiung von Paris - das waren Momente, die die Juden völlig anders erlebten. Für die französische Bevölkerung waren das verständlicherweise freudige Ereignisse. Für die Juden aber war es ein Moment der Trauer, man zählte die Toten, versuchte Familienangehörige wiederzufinden, die Waisenkinder, die in Verstecken überlebt hatten. Die jüdische Gemeinde war kleiner geworden.

    Die Gleichgültigkeit der französischen Nachkriegsgesellschaft war sehr schmerzhaft für die Überlebenden der Shoah. Zu ihnen gehörte auch die spätere Gesundheitsministerin und heutige Präsidentin der Stiftung für das Gedenken an die Shoah, Simone Veil. Im April 1945 wurde sie aus dem KZ Bergen-Belsen befreit und kehrte nach Frankreich zurück. Eine ihrer Schwestern hatte als Resistance-Kämpferin im KZ Ravensbrück überlebt. In einem Interview erzählt sie, wie die Schwester bei der Rückkehr nach Frankreich als Heldin gefeiert wurde - während sich im Gegensatz dazu niemand für das Schicksal der Überlebenden des Holocaust interessierte. Resistance-Kämpfer waren gern gesehene Helden im Nachkriegsfrankreich - Holocaust-Überlebende aber erinnerten an die Rolle der französischen Vichy-Regierung, die die Deutschen bei der Verfolgung der Juden in Frankreich tatkräftig unterstützte. Die kollektive Amnesie der französischen Gesellschaft währte 50 Jahre.

    Erst 1995 geschah es, dass ein französischer Staatschef die Verantwortung des französischen Vichy-Staates für die Verfolgung der Juden in Frankreich anerkannte, erinnert Jacques Fredj. 50 Jahre mussten wir darauf warten. Erst dann war das Gedenken sozusagen "befriedet". Denn erst dann konnte man beginnen, echte Fragen zu stellen. Von diesem Moment an wurde den Opfern der Opfer-Status zuerkannt. Als der französische Staat seine Verantwortung eingestand, konnte die Arbeit der Erinnerung, der historischen Auseinandersetzung und die Trauerarbeit der jüdischen Familien erst wirklich beginnen. Ich nenne das eine "Befriedung". Denn seit der Erklärung des Staatspräsidenten fühlen sich viele Juden mit ihrer Geschichte versöhnt, mit der Geschichte ihres Landes, des Landes, in dem sie leben.

    Im Zeichen dieser "Befriedung" steht auch die Neu-Eröffnung des Pariser Gedenkzentrums. Denn dieses Memorial hat eine lange Geschichte hinter sich. 1943 gründeten Mitglieder der jüdischen Gemeinde das Centre de documentation juive contemporaine - verschafften sich Dokumente der Gestapo über die Verfolgung der Juden in Frankreich. In den Fünfziger Jahren folgte dann im historischen Marais-Viertel die Errichtung des Pariser Mahnmals für die Opfer der Shoah, das Gebäude wird auch die Heimat des jüdischen Dokumentationszentrums - seit Jahrzehnten eine wichtige Adresse für die jüdische Gemeinde und für Historiker.

    60 Jahre nach Kriegsende will das erweiterte und neu konzipierte "Memorial de la Shoah" nun heraus aus der Isolation - will, auch angesichts aktueller anti-semitischer Ressentiments und Gewalt, die Referenz-Institution in Europa werden - neben dem Holocaust-Museum in Washington und Yad Vashem in Jerusalem. Konkurrenz aus Deutschland - im Hinblick etwa auf das Berliner Mahnmal-Projekt - fürchten die Verantwortlichen nicht. Denn, so sagt Jacques Fredj, heute werden keine eindrucksvollen Monumente gebraucht, sondern Bildungseinrichtungen.