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Nie bei Rotlicht gehen!

Calgary boomt. Mit dem Öl kamen die Einwanderer aus aller Welt. Heute ist die kanadische Stadt multikulturell - und eine der sichersten Millionenstädte in ganz Nordamerika. Gerade einmal 13 Morde hat es hier im vergangenen Jahr gegeben. Auch ein Verdienst der örtlichen Polizei.

Von Tom Noga und Flora Jörgens |
    Streifenpolizist Eric Urban fährt mit dem Finger über den Stadtplan von Calgary. Er ist groß und kräftig, in blauer Uniformhose, mit schwarzem, millimeterkurzem Haar.

    "Mein Bezirk, Distrikt 3, ist nach Süden begrenzt vom Bow River, der sich von West nach Ost durch die Stadt zieht. Die Schnellstraße Deerfoot, das ist unsere östliche Grenze."

    Im Norden endet der Bezirk an einem kahlen Präriehügel, dem Nose Hill Park, im Westen an einer anderen Schnellstraße, dem Crowchild Trail. Das ergibt ein Gebiet von knapp 50 Quadratkilometern mit 110.000 Einwohnern. Insgesamt leben gut eine Million Menschen in Calgary.

    Eric Urbans blonde Kollegin Tanya Miller mahnt zur Eile.

    "Dann gehen wir doch mal raus und gucken."

    Ihr Weg führt durch ein Großraumbüro in dem jetzt, um sieben Uhr abends, niemand mehr arbeitet, hinaus auf einen eingezäunten Hof.

    "Warte ich schmeiß nur kurz mein Zeug rein."
    Wer fährt? Kann ich machen, sagt Tanya, und so zwängt sich Eric Urban auf den Beifahrersitz des blauweißen Streifenwagens. Seit anderthalb Jahren ist Eric, geboren in Hagen, aufgewachsen in einem badischen Dorf, Streifenpolizist in der Stadt der Olympischen Winterspiele von 1988. Als deutscher Staatsbürger.

    "Beim Öl-Boom, der vor 20 Jahren angefangen hatte und vor 5, 6, 7 Jahren auf seinem Höhepunkt war, da kam so ein Bevölkerungszuwachs, dass sie einfach keine Rekruten mehr gefunden haben in Kanada. Dann hat man angefangen, in England Polizisten zu rekrutieren. Und das wurde dann so geändert, dass sich auch Ausländer bewerben dürfen, ohne bereits einen gültigen Aufenthaltstitel zu haben."

    Ausländer wie Eric Urban. Er ist verheiratet, hat keine Kinder und war schon in Deutschland Polizist, in der Leitstelle für grenzübergreifende Einsätze in Rastatt. Und trotzdem war da immer der Wunsch nach Veränderung.

    "Wir haben immer schon ... meine Frau nach vielem Reisen nach Kanada und ich nach meiner Zeit als 17-jähriger Austauschschüler, den Wunsch gehabt zurückzukehren. Das war auch nie vom Tisch, und es hat sich so ergeben, dass es bei uns rein gepasst hat und wir gesagt haben, jetzt oder nie."

    Johanna Pennington lächelt verheißungsvoll: Garantieren kann sie natürlich nicht, dass wir einem Geist begegnen. Aber, ein Blick aus der Tiefe ihrer Seele, ihr Gefühl sagt ihr, dass wir heute Glück haben werden.

    Johanna Pennington steht vor dem Calgary Tower, einem 200 Meter hohen Fernsehturm mit Drehrestaurant und Aussichtsplattform mit Glasboden, dem Wahrzeichen der viertgrößten Stadt Kanada. Sie trägt schwarz: hüftlange Haare, wallendes Kleid, darüber einen Umhang und auf dem Kopf einen spitzen Hut. Johanna ist Stadtführerin der anderen Art: Sie geleitet Touristen zu Calgarys Spukhäusern.

    "Oh, don’t cross against them, ooh!”"

    "Nicht bei Rotlicht gehen", mahnt Johanna, "nicht in Calgary!" Die Bewohner der Stadt am Fuße der Rocky Mountains sind in ganz Kanada für ihren Ordnungssinn bekannt. Alles wirkt aufgeräumt und sauber. Wo andernorts in Nordamerika die Stadtzentren verkommen, vibriert Calgarys Downtown. In der Fußgängerzone reiht sich Restaurant an Musikkneipe. Wenn die Büros schließen, fängt das Leben hier erst richtig an.

    Vor einem dreistöckigen weißen Stadthaus mit schwarzen Sprossenfenstern bleibt Johanna stehen. Hier hat Ed Harris seinen Nebenbuhler erschossen, nachdem er ihn in flagranti mit seiner lebenslustigen Frau Betty erwischt hatte.

    Betty Harris, sagt Johanna, kehrt immer wieder in dieses Haus zurück. Oft hört man sie wimmern. Nur jetzt dummerweise nicht. Auch die Dame im weißen Kleid, die gewöhnlich am Taufbecken der Anglikanischen Kirche steht, einem prachtvollen spätviktorianischen Bau mit Zinnen und Erkern, lässt sich heute nicht blicken. Aber vielleicht die Frau aus dem alten Rathaus ... Ihre Geschichte spielte Ende des 19. Jahrhunderts, flüstert Johanna, Calgary war nur ein kleiner Viehumschlagplatz am Zusammenfluss von Bow und Elbow River, eine Wild-West-Stadt mit rauen Sitten. Sie deutet auf eine Insel im größeren der beiden Flüsse.

    " "Damals wurde sie Pleasure Island genannt, dort standen 12 Bordelle. Eines Nachts fand dort ein Kartenspiel statt, zwischen einem professionellen Glückspieler und einem Stadtrat. Es wurde hitzig, angeblich hatte der Stadtrat falsch gespielt. Ein Mädchen ging hoch, um die Chefin zu holen. Der Glückspieler zog eine Waffe, wollte den Stadtrat erschießen, traf aber die Chefin, als diese die Treppe herunter kam. Nun spukt sie durchs alte Rathaus."

    Durchs Rathaus? Aber sie wurde doch auf Pleasure Island getötet ...

    "Ja, warum hier? Es stelle sich heraus, dass der Stadtrat sie zwei Jahren zuvor ins Gefängnis geworfen hatte, weil sie mit Schmiergeld im Rückstand war. Und genau hier war ihre Zelle. Manchmal hört man sie rufen: "Helft mir, holt mich hier raus!" Dazu ein Geräusch, wie das Rütteln an Zellengitter."

    Johanna lauscht angestrengt. Nein, nichts zu hören heute, nichts außer Autoverkehr. So ist das eben mit Geistern – Johanna Pennington lächelt entschuldigend – man kann sich einfach nicht auf sie verlassen.

    Eric Urban, der deutsche Polizist, lehnt sich auf dem Beifahrersitz zurück, während seine Kollegin Tanya den Polizeiwagen durchs Stadtviertel Crescent Heights steuert, die Skyline von Calgary im Blick. Dahinter die verschneiten Gipfel der Rocky Mountains, im Licht der untergehenden Sonne rötlich schimmernd. Crescent Heights, das sind schmucke, schachbrettartig angelegte Wohnsiedlungen, in denen die Bürgersteige nur Zierwerk sind. Passanten sind nicht zu sehen, hier fährt man Auto.

    Der erste Einsatz: ein Überfall. Tanya tritt das Gaspedal durch, Eric wirft Blaulicht und Sirene an.

    Über Funk kommt eine Aktualisierung des Falls: Die Täter sind mit einem Geländewagen geflohen. Auf dem Bordcomputer überprüft Eric das Nummerschild. Der Halter ist vorbestraft. Kurz vor der Stadtautobahn biegt Tanya ab. An einer Tankstelle parkt sie den Wagen mit der Schnauze zur Straße.

    "Also, die sind da, es kam gerade ein Update, eingebrochen und haben einen Safe geklaut. Auf jeden Fall sind wohl drei Personen in einem schwarzen Ford 150 abgehauen. Wir sind sehr nah an der Stelle dran und wir haben uns jetzt an den McKnight Boulevard gestellt, das ist eine große ... eine der Hauptverkehrsstraßen, und gucken mal, was hier durch kommt."

    Knapp 100 Meter weiter kreuzt die Stadtautobahn – für die Täter eine mögliche Fluchtroute. So sitzen sie da, die beiden Polizisten, und beobachten den fließenden Verkehr. Ein gutes Jahr hat Eric nach seiner Auswanderung im Stadtzentrum von Calgary gelebt. Das war toll, blickt er zurück, mit dem Rad zur Arbeit, zum Einkaufen, ins Nachtleben. Nun lebt er eine gute Autostunde außerhalb, umgeben von Wäldern und Seen – das ist noch toller. Klar, die Winter sind hart, mit Temperaturen von minus 30 Grad und meterhohem Schnee. Aber dazu scheint die Sonne, fast immer. Eric rechnet nach ... letztes Jahr hat es an exakt fünf Tagen geregnet.

    "Gerade mal einen Augenblick, ich höre mal mit ... Anscheinend ist das Fahrzeug doch nach Hause gefahren, und die umstellen jetzt und holen ein paar Sondereinheiten dazu."

    Der Weg zur Girlitz Rodeo Ranch führt über einen dieser mit unbefestigten, mit Schlaglöchern übersäten Highways, die Kanadas Weiten schnurgerade durchziehen. Hier draußen, eine knappe Autostunde nördlich von Calgary werden Stiere fürs Rodeo gezüchtet. Und Cowboys ausgebildet, fürs Bullriding, die Königsdisziplin.

    Auftritt Joe Messina, klein, drahtig, in Stiefeln, Blue Jeans und kariertem Hemd. Joe war professioneller Bullrider, in der guten alten Zeit, als Rodeos noch Lifestyle waren, mit Partys und Mädchen und allem, was dazu gehörte. Vor ihm in der Bar der Ranch ein Dutzend Cowboys at heart, Besucher, die heute erstmals auf einem 800 Kilo schweren Bullen sitzen werden.

    Zunächst erklärt Joe die Ausrüstung. Das Seil, das dem Bullen um den Leib gezogen und oben gedoppelt wird. Der Cowboy greift mit der Hand hinein, dann wird es festgezurrt.

    Schließlich der Abstieg. Acht Sekunden muss sich der Cowboy auf dem Rücken des Tieres halten. Joe schwingt sich auf einen menschlichen Bullen, wirft ihn an und gleitet lässig herunter – ganz einfach.

    "Wenn Ihr runter seid, dann macht keine Faxen. Lauft so schnell es geht zu diesem verdammten Zaun, weg vom Stier. Bei den nationalen Meisterschaften in Vegas im Jahr 2008 hat ein sehr prominenter Bullrider das nicht beherzigt und das Tier hat ihn voll erwischt. Er hat sich feiern lassen und bääääääng! Er ist ein guter Bullrider, aber in diesem Moment sah er aus wie ein Volltrottel."

    Dann die Praxis. Eine Bulle wir in eine stählerne Box getrieben. Er ist schwarz und riesig und alles andere als bester Laune. Sitzen üben, während das Tier sich nur vor und zurück bewegen kann. Als Erste ist Pauline dran, eine Frau mit brünettem Pagenkopf, klein und kräftig. Zaghaft gleitet sie hinab auf den Rücken des Tiers. Joe gibt dem Stier mit dem Hut einen Klaps auf den Kopf – sofort wirft er sich zurück. Dann auf den Hintern – wütend rammt er die Stirnwand der Box. Super gemacht, lobt Joe, als Pauline ein paar Minuten später absteigt.

    "Es war toll, aber schwer als erwartet. Nach vorne war’s okay, aber als der Bulle sich nach hinten warf, habe ich falsch gesessen."

    Für Eric Urban, den deutschen Polizisten, verläuft die Nachtschicht ereignisarm. Ein Ehestreit ist geschlichtet, der Diebstahl eines Laptops untersucht und protokolliert.

    Pause in einem Coffee Shop. Tanya ordert einen Muffin und schwarzen Tee, Eric ein Truthahnsandwich und Kaffee.

    "Wir werden immer wieder gefragt: Warum seid Ihr gegangen? Oft wird dann was Sensationelles erwartet, ach ich kam damit nicht klar, Geld oder Politik oder irgendwas hat nicht gestimmt. Bei uns war das nicht so, wir haben super Freunde, wir haben unsere Familie da gehabt. Wir mögen Deutschland, wir waren in Vereinen aktiv. Es war wirklich nichts, wo wir sagen: Deshalb sind wir gegangen. Sondern wir wollten was anderes sehen."

    Calgary boomt. Mit dem Öl kamen die Einwanderer aus aller Welt. Heute ist Calgary multikulturell. "Das funktioniert", sagt Eric. Und es wird von keinem Politiker infrage gestellt. Zudem ist Calgary sicher. 13 Morde hat es hier im vergangenen Jahr gegeben - eine erstaunlich geringe Zahl für eine Millionenstadt in Nordamerika.

    "Hier wird einem die Tür aufgehalten, man lässt immer den anderen vor, da gibt’s immer so kleine Situationen im Alltag. Hier gibt’s immer Smalltalk, man kommt nicht an der Supermarktkasse durch, ohne dass man sich mit dem Kassierer oder der Kassiererin unterhält."

    Small Talk? Ist nicht gerade Rob Fieldings Stärke. Er ist Cowboy auf der Homestead-Ranch und sagt nur das Nötigste. So reitet er stoisch voraus, über Stock und Stein, durch Wälder, die so dicht sind, dass kaum Tageslicht hineinfällt. Dann eine Lichtung. Und ein atemberaubender Anblick: die schneebedeckten Rockies, Calgary, die Prärie, die sich bis zum Horizont nach Osten erstreckt. Indianerland, raunt Rob, Blackfoot and Cree.

    "Mit den Blackfoot möchte man besser nichts zu tun haben. Früher galten sie als ausgesprochen gewalttätig, heute ist das natürlich nicht mehr so. Aber wenn die Crees ihr Vieh auf die Plains im Süden von hier treiben, dann nur über Umwege. Mac hat einen Häuptling mal nach dem Warum gefragt. Die Antwort lautete: Wir wollen keinen Ärger mit den Blackfoot, also sehen wir zu, dass wir ihnen gar nicht erst begegnen."

    Mac ist Robs Boss. Vor 36 Jahren ist er aus der Geschäftswelt ausgestiegen, hat ein Stück Land am Ende der Welt gekauft und dort ein Camp errichtet. Aus dem Camp ist ein Blockhaus geworden, einfach, aber gemütlich. Hier empfängt er Gäste, die für ein paar Tage ein wenig Cowboy-Atmosphäre schnuppern möchten. Mac Mackenny lässt sich in einen Ohrensessel fallen, im Kamin knistert Brennholz. Er ist 77, geht aber für Mitte 50 durch. Kein Wunder, meint Mac,

    "Viel frische Luft, ich gehe früh zu Bett, meistens jedenfalls. Ich bin ständig draußen. Außerdem wirken Pferde beruhigend. Also, Stress habe ich in diesem Geschäft wirklich nicht."

    Seine Gäste kommen aus der ganzen Welt. Geboten wird Vollverpflegung und Beschaulichkeit - genau das Richtige für Naturliebhaber. Und ab und an ein bisschen Nervenkitzel, wenn etwa ein Bär hinterm Ranchhaus auftaucht. Aber keine Sorge, beruhigt, Mac, die Tiere haben mehr Angst vor uns als wir vor ihnen, allzu nah wagen sie sich nicht in menschliche Gefilde. Obwohl ...

    "Eines Nachts werde ich wach, so um vier Uhr. Damals strich eine Bärenmutter mit ihren vier Jungen hier herum. Wir hatten sie im Frühjahr geschehen, die Kleinen waren echt süß. Aber jetzt war’s Herbst, sie mussten sich Winterspeck anfressen, um über die kalte Jahrszeit zu kommen. In der Küche hier vorne stopften sie alles in sich hinein, Müsli, Äpfel, Tomaten, einfach alles. Kein Problem, ich habe einen Stuhl genommen und sie damit sanft hinaus getrieben."

    Sechs Uhr morgens. Noch eine Stunde, dann ist die Schicht für Streifenpolizist Eric Urban vorbei. Ruhig war’s. Ein Hausfriedensbruch an der Uni, eine Anzeige wegen zu schnellen Fahrens, eine leichte Auseinandersetzung in einem Motel. Man kann das langweilig finden oder sich wie Eric darüber freuen, dass Calgary alles zu bieten hat außer Kriminalität.

    "Calgary ist eine gute Stadt. Wir waren zwischendurch einmal in Europa. Und auf dem Flug zurück haben wir gesagt: Jetzt sind wir wieder zu Hause."
    Bullenreiten - Rodeo genießt in Calgary hohe Popularität
    Bullenreiten - Rodeo genießt in Calgary hohe Popularität (Tourism Calgary)
    Viele Besucher wollen für ein paar Tage ein wenig Cowboy-Atmosphäre in Calgary schnuppern
    Viele Besucher wollen für ein paar Tage ein wenig Cowboy-Atmosphäre in Calgary schnuppern (Tourism Calgary)