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Nigeria
Böser Islam, gute Muslime

Vor zwei Jahren entführte die islamistische Terrormiliz Boko Haram 276 Schülerinnen einer Mädchenschule im nigerianischen Chibok. Das Misstrauen gegenüber Muslimen ist gerade in den Dörfern größer geworden, doch ausgerechnet Chibok ist anders: Dort beten die Eltern der verschwundenen Mädchen gemeinsam.

Von Katrin Gänsler | 25.04.2016
    Schülerinnen der Mädchenschule im nigerianischen Chibok erinnern an die Entführung vor 2 Jahren
    Schülerinnen der Mädchenschule im nigerianischen Chibok (Deutschlandfunk/ Katrin Gänsler)
    Es ist Sonntagnachmittag, und auf dem großen Markt von Mubi im Nordosten Nigerias herrscht reges Treiben. Jungen ziehen an den selbst gezimmerten Holzhütten vorbei und versuchen, abgepacktes Trinkwasser und Datteln zu verkaufen. An den Ständen bieten Händler Telefonkarten, Flipflops oder Fußballtrikots an. Endlich kehrt der Alltag in die kleine Wirtschaftsmetropole im Bundesstaat Adamawa zurück, die die Terrorgruppe Boko Haram im Oktober 2014 besetzt hatte. Mubi galt für die Miliz als wichtige Eroberung, wurde sie doch in "Stadt des Islam" umbenannt und sollte sogar zur Hauptstadt des Boko-Haram-Kalifats werden. Das ist zum Glück Vergangenheit, denn die nigerianische Armee hat die Region schon vor mehr als einem Jahr wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Wie früher ist jedoch nichts mehr, sagt Anointing Bitrus. Er ist Pastor der Freikirche "Compassion of Jesus Global Mission".
    "Ja, als Boko Haram Mubi besetzt hatte, wurden 147 Kirchen in Mitleidenschaft gezogen. 137 wurden von Boko Haram komplett niedergebrannt."
    Pastor Bitrus macht eine kleine Stadtführung und zeigt ein Viertel, in dem besonders viele Kirchen gestanden haben. Eins haben alle gemeinsam: Es stehen höchstens noch die Grundmauern. Vor einer sitzt ein alter Mann und sagt auf Haussa, der wichtigsten Verkehrssprache der Region, immer wieder:
    "Die Kirche sieht nicht mehr gut aus. Gar nicht mehr gut. Schön ist das nicht."
    Von der Terrorgruppe Boko Haram zerstörte Kirche in Mubi im Nordosten Nigerias
    Von der Terrorgruppe Boko Haram zerstörte Kirche in Mubi im Nordosten Nigerias (Deutschlandfunk/ Katrin Gänsler)
    Neben den Gotteshäusern wurden auch christliche Schulen niedergebrannt, beklagt Bitrus. Dabei galt ausgerechnet der Bundesstaat Adamawa an der Grenze zum Nachbarland Kamerun stets als tolerant und das Zusammenleben von Christen und Muslimen als friedlich. Doch durch die Terrorgruppe Boko Haram, habe sich das grundlegend verändert. Für Anointing Bitrus ist die Miliz deshalb eindeutig ein radikal-religiöses Phänomen.
    "Sie haben niemals Moscheen angezündet, nur Kirchen. Hier in der Stadt werden viele Menschen sagen: Sie suchen nicht nach Muslimen, sondern nach den Ungläubigen, den Christen. Der zweite Grund, weshalb es einen religiösen Hintergrund hat, ist folgender: Bevor sie jemanden umgebracht haben, haben sie gefragt: Welche Religion hast Du?"
    Ein Jahr später ist die Miliz zwar längst vertrieben. Doch viele Christen vertrauen heute den Muslimen nicht mehr. Dabei distanzieren auch sie sich ganz deutlich von dem Terror, den viele Imame als zutiefst "unislamisch" bezeichnen. In Mubi bleibt Einwohner Raphael Birdling trotzdem sehr skeptisch.
    "Das Vertrauen ist nicht länger da. Das ist die Wahrheit. Sie ist auch nachvollziehbar, wenn man den Exodus hier gesehen hat. Es ist ja nicht zum ersten Mal passiert. Wir hatten schon die Anti-Scharia-Demonstrationen in Kano, Maiduguri und auch Yola. Alles geschah im Namen einer bestimmten Religion."
    Raphael Birdling spielt auf Ausschreitungen an, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder in Nordnigeria eingetreten sind, etwa als die zwölf Bundesstaaten im Norden nach und nach die Scharia einführten. Tatsächlich ist das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen in einigen Regionen des riesigen Landes komplizierter geworden.
    Deshalb müsste die Lage heute wohl in Chibok am schlimmsten sein. Es ist jener Ort, der vor zwei Jahren zum Synonym für die Grausamkeiten von Boko Haram geworden ist. In der Nacht zum 15. April 2014 wurden insgesamt 276 Schülerinnen aus ihren Schlafsälen der weiterführenden Mädchenschule entführt. 219 befinden sich noch immer in den Händen der Islamisten.
    Muslimisches Gebet auf Haussa
    50 Meter vor dem niedergebrannten Schulgebäude sitzen mehr als 100 Eltern im Schatten hoher Bäume. Das erste Mal seit der Entführung haben sie sich am Tatort versammelt. Für sie ist es der Ort des Grauens. Viele blicken zu Boden, weinen leise. Trotzdem beten die Mütter und Väter gemeinsam, und auf den ersten Blick kann niemand sagen, wer Christ und wer Muslim ist. Das sei schon immer so gewesen, sagt Elternvertreter Yakubu Nkeki nach dem zweistündigen Treffen:
    "Bei uns gibt es keine Unterschiede wegen der Religion. Ich bin selbst ein gutes Beispiel. Wir sind 18 Geschwister, alle vom selben Vater. Neun sind Christen, neun Muslime. Wir haben keine Vorurteile, sondern sind Brüder. Man kommt durch Hochzeiten zusammen, bei gemeinsamen Veranstaltungen. Wir vereinen uns, beten zusammen. Es gibt keinen Unterschied."
    Entlang religiöser Linien hat Mutter Selina Ezekeil noch nie gedacht. Auch ihre Tochter Aisha ist unter den Opfern. Doch auf die Frage, ob Christen und Muslime sich in Chibok nicht mehr vertrauen, reagiert Selina Ezekeil überrascht – fast befremdet.
    Selina Ezekeil, Mutter einer der 2014 von der Boko Haram Terrorgruppe entführten Schülerinnen aus Chibok in Nigeria
    Selina Ezekeil, Mutter einer der 2014 von der Boko Haram Terrorgruppe entführten Schülerinnen aus Chibok in Nigeria (Deutschlandfunk/ Katrin Gänsler)
    "In dieser Schule hat es doch eine Mischung gegeben. Hier waren Muslime, hier waren Christen. Eins ist klar: Alle sind betroffen. In meinem Dorf ist es anders. Dort leben hauptsächlich Christen. Deshalb kann ich nicht sagen, ob sich bei uns die Situation tatsächlich verändert hat."
    Yakubu Nkeki, der einen wütenden Vortrag gehalten und auf die ganzen Ermittlungspannen im Chibok-Fall hingewiesen hat, geht sogar noch weiter. Die brutale Massenentführung und Trauer, Sorge und Wut danach hat den kleinen Ort mehr zusammengeschweißt als gespalten. Yakubu Nkeki:
    "Ich glaube daran, ja ich weiß es: Diese Situation wird unsere Gemeinschaft nicht spalten. Wie sollten wir uns nur gegenseitig hassen? Wir sind doch eins: Die ganze Situation wird das nicht ändern. Das ist meine Meinung."
    Für die Eltern gibt es seit Mitte April immerhin einen kleinen Hoffnungsschimmer: Ein neues Video zeigt 15 der Mädchen – alle lebendig. Allerdings weiß niemand, wann die Aufnahmen tatsächlich entstanden sind.