Montag, 13. Mai 2024

Archiv


Niklas Perzi: Die Beneš-Dekrete – Eine europäische Tragödie

Im September 2000 gründete Erika Steinbach, die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, mit Gleichgesinnten eine Stiftung, deren Ziel es ist, in Berlin ein Zentrum gegen Vertreibungen zu errichten. Es soll ein Museum, ein Dokumentationszentrum und eine Gedenkstätte integrieren und die Erinnerung an die deutsche Vertreibung aus dem Osten wach halten. Dagegen macht eine von dem SPD-Abgeordneten Markus Meckel angeführte Gruppe aus deutschen und polnischen Intellektuellen mobil. Auch sie wollen ein Vertreibungszentrum, dies aber mit einer europäischen Perspektive versehen und es nicht in Berlin, sondern in Breslau ansiedeln. Zwischen den beiden Gruppen schaukelt sich eine Auseinandersetzung hoch, deren Frontverlauf an den Kalten Krieg erinnert und die angesichts der europäischen Integration nur als anachronistische Gespensterdebatte zu bezeichnen ist. Während die Stifter noch grübeln, wie sie die Erinnerung organisieren sollen, bringt das Fernsehen große Dokumentationen über die Vertreibung, hat Günter Grass mit einem Roman zum Thema einen Bestseller platziert, und die potentiellen Besucher eines Vertreibungsmuseums haben sich längst auf die Reise an die Ursprungsorte gemacht. Was wirklich fehlt, darauf hat der Publizist Karl Schlögel unlängst in der "Zeit" aufmerksam gemacht, ist die Erforschung und Darstellung des Gesamtsystems der Vertreibung, dem im Europa des 20. Jahrhunderts 40 - 60 Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Wolf Oschlies | 04.08.2003
    Es sollte nicht bei einem Nebeneinander von Nationalgeschichten bleiben. Es gilt jetzt, die Vertreibungen als ein gesamteuropäisches Problem zu betrachten und dabei die Wechselbeziehungen zwischen den jeweiligen nationalen Ereignissen zu erkennen.

    Diesem Anspruch genügt zwar die Studie von Niklas Perzi über die Benes-Dekrete noch nicht, aber immerhin versucht der Autor diese von den einen diabolisierten, von den anderen verharmlosten Vertreibungsbeschlüsse in den Gesamtzusammenhang deutsch-tschechischer Geschichte zurückzuholen.

    Die Diskussion um die Beneš-Dekrete ist mehr als eine politische oder rechtliche. Sie berührt in einem zentralen Punkt das Selbstverständnis einer Nation und ihr Selbstbild. Es ist das Bild vom ewigen Opfer der Geschichte, das sich nicht eingestehen will, dass ihre Angehörigen auch Täter gewesen sind.

    So steht es in dem brillanten Schlusskapitel von Niklas Perzis Buch, wäre in einer Einleitung aber besser aufgehoben gewesen. So fragt sich der Leser, ob das Buch nicht den falschen Titel habe. Denn von den Beneš-Dekreten handeln nur gut 30 Seiten gegen Buchende, und die sind die trockensten Passagen eines generell kundig, leserfreundlich, ja spannend geschriebenen Werks. Auch der sozusagen bürokratische Kontext der Dekrete ist eher versteckt: Zwischen Mai und Oktober 1945 erließ Präsident Edvard Beneš 143 Dekrete, um in seinem Land, das sechs Jahre lang Hitlers Protektorat Böhmen und Mähren gewesen war, die Basis für einen souveränen Neuanfang zu legen. Die Dekrete betrafen unumgängliche Alltäglichkeiten – die Wiedereinführung der Mitteleuropäischen Zeit, die Filmförderung, die Gründung von Hochschul-Filialen in der Provinz und ähnliches mehr -, aber sieben Dekrete verfügten harsche Maßnahmen gegen Deutsche und Ungarn, die als Feinde des tschechischen und slowakischen Volks angesehen und behandelt wurden. Nur um diese dreht sich ein deutsch-tschechischer Streit, der um so mehr eskaliert, je näher der EU-Beitritt der Tschechischen Republik rückt. Für Niklas Perzi ist er der Beweis europäischer Unreife aller daran Beteiligten:

    Die Frage der Dekrete und ihrer Folgen wäre ganz pragmatisch und bei ein wenig guten Willen auch recht schnell zu lösen, wenn es dabei nur um die Dekrete ginge. (...) Das Problem ist, dass es dabei (...) um Identität stiftende Symbole geht, auch und vielleicht gerade, weil keiner ihren Inhalt überhaupt kennt. Sie verkörpern Positionen in einem Volkstumskampf, der 60 Jahre nach seinem Ende virtuell noch immer geführt wird. Die Forderung nach der Abschaffung der Dekrete ist genauso absurd wie die nach ihrer Beibehaltung.

    Er habe sich bemüht, sagt Perzi einleitend, stets die Perspektive "des anderen mitzudenken, ein nicht immer einfacher Prozess, aber ein unausweichlicher". An diesem Prozess lässt der Autor seine Leser teilhaben, indem er ihnen im Grunde drei Bücher in einem vorlegt. Als erstes kommt da eine Geschichte des deutsch-tschechischen Nebeneinanders seit Jan Hus im 14. Jahrhundert, mit dem Nachdruck auf die für die Tschechen fatale Schlacht am Bílá hora (Weißen Berg) im November 1620, die wie das Münchner Abkommen von 1938 als Tiefstpunkt der nationalen Historie angesehen wird:

    Man könne mit ihm gern über die Vertreibung der Deutschen sprechen, doch wenn schon Geschichte, dann wolle er lieber mit dem Weißen Berg beginnen. So äußerte sich Václav Klaus, heute tschechischer Staatspräsident (...), am Höhepunkt der Debatte um die tschechische Nachkriegsvergangenheit. Klaus ist (...) bekannt für Bonmots und Zynismen, doch damit meinte er es ernst. München und der Weiße Berg sind in Tschechien keine topographischen Angaben, sondern Argumente in jenen Diskussionen, in denen die Geschichte als Waffe eingesetzt wird.

    Eine Geschichte, in der die Deutschen das böhmische Land, die Tschechen ihre nationale und kulturelle Emanzipation in Böhmen (und Mähren) einforderten. Das ließ sich Jahrhunderte lang vereinen, doch ab dem 19. Jahrhundert führten eskalierende Nationalismen zum unsäglichen Volkstumskampf. Gesiegt haben letztlich die Tschechen, die im Ersten Weltkrieg und danach geschickt die Karte der nationalen Selbstbestimmung spielten, die ihnen die berühmten 14 Punkte von US-Präsident Wilson zugeteilt hatte. So entstand 1918 die multiethnische Tschechoslowakei als neuer Staat, in dem die nunmehrige Minderheit von rund 3,5 Millionen Deutschen stärker als das zweite Staatsvolk, die Slowaken, war. Damit beginnt auch Perzis zweites Buch im Buch, das die Lage der Deutschen im neuen Staat behandelt. Drei Optionen standen ihnen offen:

    Vorbehaltlose Anerkennung des neuen Staates, entschiedene, auch militärische bis hin zu einen Bürgerkrieg in Kauf nehmende Abwehr oder als dritte die faktische Hinnahme der Ereignisse bei gleichzeitiger rhetorischer Ablehnung und Appell an überstaatliche Instanzen. Man wählte (und wählt bis heute) die dritte.

    Für die anlaufende Konfrontation fühlten beide Seiten sich gut gewappnet. Die Tschechen waren sich des Wohlwollens der Siegermächte des Weltkriegs sicher – die zu Habsburger Zeiten verstreut lebenden Deutschen hatten zu einer sudetendeutschen Identität gefunden und sich den in Deutschland regierenden Nationalsozialisten angenähert. Aber 1938 sahen beide sich getäuscht: Beneš, mittlerweile Staatspräsident, wurde vom Westen als unbelehrbarer Nationalist fallengelassen, die Sudetendeutschen wurden von Hitler als fünfte Kolonne missbraucht, mit der er erst im Münchner Abkommen die Tschechoslowakei amputierte und sie 1939 völlig zerschlug. Beneš war geflohen, das neue Protektorat Böhmen und Mähren unterstützte die deutsche Kriegswirtschaft und band keine deutschen Truppen, eine Idylle der besonderen Art breitete sich augenscheinlich aus:

    Das Leben im Protektorat war für die Besatzungsmacht nicht gefährlich, im Gegenteil. Bald diente es als eine Art großes Lazarett und Erholungsort für die Wehrmacht. Dazu kam, dass es (...) bis 1944 von Bombenangriffen verschont blieb und deshalb auch zum Fluchtort vieler Rüstungsfirmen wurde.

    Faktisch kollaborierte eine ganze Nation, um dann 1945 kompensatorischen Deutschenhass zu exekutieren. So gibt es Niklas Perzi zu verstehen, wenn er im nunmehr dritten Buch im Buch die unmittelbare Nachkriegszeit aufrollt. Beneš war wieder wer – im Londoner Exil brütete er Vertreibungspläne aus, die er den Alliierten erfolgreich als Beitrag zur regionalen Stabilisierung verkaufte und dabei geschickt die Sowjets gegen den Westen ausspielte. So stachelte er den heimischen Nationalismus an – auf dem er später reiten musste, um nicht von ihm fortgespült zu werden. Das klärte wenigstens die im Krieg viel debattierte Frage, wie viele Deutsche denn nun vertrieben werden sollten: Am Ende waren es fast alle – zuerst per wilder Abschiebung aus dem Lande gejagt, danach in der vom Potsdamer Abkommen geregelten Art. Dazwischen lagen die bewussten Dekrete, die die Deutschen ihrer Rechte und ihres Besitzes beraubten. Kurzfristig brachte das für Prag materiellen Gewinn und außenpolitische Rückendeckung, mittelfristig die Machtübernahme der Kommunisten – die die gesetzgeberische Willkür der Dekret-Zeit 1948 für eigene Zwecke nutzten – und langfristig nur Nachteile: Seit fast 60 Jahren steht jede Prager Führung in dem Verdacht, in mentaler Hysterie und nationalistischer Selbstüberhöhung Rechtsbeugungen der Nachkriegszeit beizubehalten. Was von Prag als versuchte Revision der Nachkriegsordnung abgelehnt wird, der kritische Umgang mit den Dekreten, erscheint anderswo fortgesetzte Beugung von Menschenrechten, Vertuschung von Verbrechen, Verpassen von Chancen und außenpolitische "Eigentore". Kann es den politischen Erben von Masaryk und Havel recht sein, bis heute keine diplomatischen Kontakte zum Fürstentum Liechtenstein zu haben, weil es Probleme fürchtet, die aus den aufgrund der Beneš-Dekrete 1945 enteigneten böhmischen Besitztümer des Fürsten von Liechtenstein entstehen würden?

    Niklas Perzi: Die Beneš-Dekrete – Eine europäische Tragödie. Der Band ist im Buchverlag des Niederösterreichischen Pressehauses erschienen, hat 365 Seiten und kostet 23,90 Euro.