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Noch eine 'Jahrhundertflut’

Viel ist über das "Jahrhunderthochwasser" gesagt und geschrieben worden - eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach den Ursachen steht allerdings noch aus. Die einen machen den Treibhauseffekt und die globale Erwärmung des Klimas verantwortlich, die Flussregulierungen oder die zunehmende Versiegelung der Böden. Andere glauben, dass es keine eindeutige Ursache für Naturkatastrophen gebe, dass das Klima eben komplex sei.

Rita Gudermann | 24.08.2002
    Dabei ist die Frage nach dem "Schuldigen" nicht nur für die unmittelbar Betroffenen von höchstem Interesse. Wenn die Fluten längst wieder abgezogen sind und nur ihre Schlammmassen und Verwüstungen bleiben, werden sich auch Versicherungsvertreter und Politiker damit auseinandersetzen müssen, wer für die Schäden aufkommt und welche Konsequenzen zu ziehen sind. Denn wenn Naturkatastrophen dieses Ausmaßes auch nicht vorhersagbar sind, so kehren sie doch mit schöner Regelmäßigkeit wieder. Dr. Friedrich Wilhelm Gerstengarbe vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung bringt es auf den Punkt:

    Wenn Sie sich die Überschwemmungen ansehen - 'Jahrhunderthochwasser' 1993 am Rhein, 'Jahrhunderthochwasser' 1995 am Rhein, 'Jahrhunderthochwasser' 1997 an der Oder, 'Jahrhunderthochwasser' 1999 an der Donau und jetzt 2002 Donau und Elbe - wie viele 'Jahrhunderthochwasser' brauchen wir eigentlich noch? Und das sind nur die Hochwasser. Vom Sturm 'Lothar' und ähnlichen Dingen wollen wir gar nicht reden.

    Für den Klimatologen Gerstengarbe, der sich mit den Veränderungen des Klimas in den letzten zehntausend Jahren beschäftigt, ist die Sache klar:

    Sie können die einzelnen Faktoren, die zum Temperaturverlauf auf der Erde beitragen, statistisch separieren, und dann sehen Sie, wie groß der einzelne Anteil ist. Das ist auch gemacht worden, von einer ganzen Menge von Wissenschaftlern, und alle kommen eigentlich zu dem Ergebnis, dass zwei Drittel in etwa, man muss sich nicht streiten, ob das 60 oder 70 Prozent sind, auf den anthropogenen Einfluss, also auf das, was der Mensch im Moment mit der Atmosphäre anstellt, zurückzuführen sind.

    Das sind klare Worte. Denn während in den 70er Jahren noch bloße Vermutungen angestellt wurden, so ist heute gesichert, dass der Mensch mit seinem CO2-Ausstoß die weltweiten Klimaveränderungen verursacht und damit das häufigere Auftreten von Hochwasser. Und: Es wird noch weiter gehen. Denn die globale Erwärmung um etwa 0,6 Grad in den letzten hundert Jahren wird sich noch weiter fortsetzen, auch wenn sich die Staaten auf dem Ende des Monats stattfindenden Umweltgipfel in Johannesburg verpflichten, ihren Energiebedarf zu drosseln. Friedrich Wilhelm Gerstengarbe:

    Der Bremsweg, bis sich das Ganze auswirkt an Maßnahmen, der ist natürlich noch relativ lang. Wenn wir jetzt sofort etwas unternehmen würden, was ja nicht geschieht, dann dauert es mindestens noch 30, 40 Jahre, bis man die ersten Wirkungen sieht. Und Extreme gibt es immer. Das heißt, Dresden hätte auch ohne Klimaänderung stattfinden können. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass es noch mal zu so etwas kommt, oder einem anderen Extrem in Deutschland, die nimmt natürlich trotzdem weiterhin zu. Das heißt, wir können wirklich noch von anderen Extremen in der nächsten Zeit getroffen werden.

    Der Klimatologe Gerstengarbe wird nicht müde, vor den Folgen des immensen Energieverbrauchs der entwickelten Länder der Erde zu warnen. Und doch ist er pessimistisch:

    Es ist brisant - sehr brisant. Und man sollte wirklich im Prinzip sofort etwas tun - aber es ist schwer, das verständlich zu machen. Ich bin überzeugt, dass in zwei, drei Wochen zur Tagesordnung übergegangen wird, dann spielt das Hochwasser keine Rolle mehr. Dann kommen noch mal ein paar Berichte über den Aufbau, und das war's dann, bis zu nächsten Katastrophe. Dann stehen natürlich auch die Reporter wieder bei uns vor der Tür, und fragen: Ist das nun das erste Signal? Das fragen sie seit 10 Jahren und wir sagen jedes Mal: 'Ja, es ist nicht das erste, wir sind jetzt langsam mitten drin.'

    Da stellt sich doch die Frage, warum nach 30 Jahren mahnender Worte von Klimaforschern und Umweltschützern noch immer nichts geschehen ist und warum das Thema nicht an erster Stelle auf der Agenda von Bürgern und Politikern steht. Auch hierfür hat Gerstengarbe eine Erklärung:

    Wir sind ja gar nicht so gestrickt. Wenn Sie eine schleichende Gefahr haben, die über Jahre geht oder über Jahrzehnte, da reagieren Sie nicht drauf. Es gibt dieses schöne Beispiel von dem Frosch: Wenn Sie den in heißes Wasser werfen, dann springt der wieder raus. Wenn Sie den in kühles Wasser setzen, und das Wasser langsam erwärmen, dann können Sie den kochen, der kriegt das nicht mit, der bleibt drin, bis er tot ist. Und genauso ist es eigentlich mit uns. Diese langfristigen Gefahren sind eigentlich ganz gemein, weil man sich a) anpasst, und b) eben nicht rechtzeitig darauf reagiert.

    Gerstengarbe empfiehlt jedem einzelnen, seinen Abgeordneten für die Probleme zu sensibilisieren, im privaten Bereich Energie zu sparen oder das Auto öfter stehen zu lassen - das ganze sattsam bekannte Arsenal umweltpolitischer Maßnahmen.

    Doch das nutzt den Betroffenen in Dresden und Bitterfeld, in Passau und Regensburg derzeit herzlich wenig. Denn ob ihre Häuser und Straßen wieder aufgebaut werden, ob sie für verlorenen Hausrat und feuchte Keller, für den Arbeitsausfall oder gar den Verlust des Arbeitsplatzes entschädigt werden, hängt davon ab, wie die finanzielle Lage des Staates aussieht, wie das politische Klima gerade ist und wie viel die Mitbürger zu spenden bereit sind.

    Prof. Dr. Gerd Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, Experte für das so genannte '"social risk management", kritisiert, dass es an sinnvollen Vorsichtsmaßnahmen fehlt.

    Das Fatale gewissermaßen an der jetzigen unplanmäßigen Vorsorge ist, es kann Gebäude bzw. Gebäudebesitzer geben, die sich im Grunde sehr, sehr gut stellen, weil sie vom Staat geholfen bekommen, weil sie Spenden bekommen, es kann aber auch welche geben, denen fast überhaupt nicht geholfen wird. Und das ist eben unvernünftig!

    Naturereignisse sind kurzfristig tatsächlich nicht vom Menschen zu beeinflussen, aber die Folgen von Naturereignissen, die sind sehr wohl zu beeinflussen, und deswegen wäre planmäßige Versicherung und planmäßige Vorsorge sinnvoll.

    Anstatt den Zufall walten zu lassen, setzt der Sozialpolitiker Wagner auf das Prinzip der Pflichtversicherung gegen sogenannte Elementarschäden, wie sie durch Naturkatastrophen hervorgerufen werden:

    Wenn alle sich rational verhalten würden, wäre eine Versicherungspflicht nicht notwendig, denn dann würden alle freiwillig das tun. Das ist aber nicht der Fall. Das hängt wahrscheinlich auch daran, dass einige sich einfach darauf verlassen, im Schadensfall wird der Staat und werden Spenden mir schon helfen, ich kann mir diese Vorsorgeaufwendungen ersparen. [Da das der Fall ist, ist das ein starkes Argument, dass eben eine Versicherungspflicht vom Gesetzgeber erlassen wird.]

    Vor dem Ruf nach einer Pflichtversicherung gegen die Folgen von Naturkatastrophen schrecken die meisten derzeit noch zurück, insbesondere die Versicherungswirtschaft selbst und auch die Politiker. Nicht jedem wird einsichtig sein, warum alle an etwas beteiligt werden sollen, was nicht jeden betrifft. Und gerade auch den Besitzer eines teuren Wassergrundstücks mit Blick auf Fluss oder See trifft nicht nur Sympathie. Doch Professor Wagner lässt dieses Argument nicht gelten:

    Eine Versicherungspflicht würde ja nicht bedeuten, dass alle dieselben Prämien zahlen, sondern eine Versicherungspflicht macht nur dann Sinn, wenn die Prämien nach dem Risiko gestaffelt sind. Das heißt, derjenige, der ein Gebäude am Wasser hat, muss eine deutlich höhere Prämie bezahlen, als derjenige, der in einem Gebiet wohnt, wo keine Lawinen zu erwarten sind, wo Hochwasser sehr unwahrscheinlich ist. Allerdings auch der hat ein Interesse an einer Elementarschadenversicherung: Denn wir können nicht sicher sein, ob nicht von heute auf morgen irgendwo hier auch ein größeres Erdbeben sich ereignen wird. Starkregen, also Wolkenbrüche, sind überall möglich und es kann durchaus sein, dass der Keller voll läuft in einer Gegend, wo es niemals Hochwasser im klassischen Sinne geben wird.

    Die von Professor Wagner geforderte Elementarschaden-Pflichtversicherung soll mehr bringen als ein Gefühl der Sicherheit für den, der in einem gefährdeten Gebiet wohnt oder dort einen Betrieb führt:

    Wenn Sie etwa dreihunderttausend Euro versichern, das ist ein Gebäude plus Hausrat, dann müssen Sie in einer Gegend, die nicht besonders gefährdet ist, etwa dreißig Euro pro Jahr dafür aufwenden. Das ist eigentlich nicht sehr viel Geld. Das heißt, eine Versicherungspflicht würde diejenigen, die in nicht gefährdeten Gebieten leben, nicht sehr stark belasten. Aber um die geht es ja auch im Grunde gar nicht, sondern es geht um die, die deutlich höhere Prämien zahlen müssten, die könnten sich dann eben auf eine planmäßige Schadensregulierung verlassen im Falle eines Hochwassers. Und]] sie würden auch einen Anreiz bekommen, durch Prävention zu versuchen, in eine niedrigere Prämienklasse hinein zu kommen. Das würde wahrscheinlich so weit gehen, dass die, die sehr hohe Prämien zahlen müssen, versuchen würden, auch politischen Druck auszuüben, dass Flüsse beispielsweise wieder dereguliert werden und dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt ein Hochwasser, das verheerend ist, eintritt, reduziert wird. [Also das, was kurzfristig ärgerlich ist, dass ich hohe Prämien zahlen muss, würde dazu führen, dass sowohl individuelle als auch kollektive Maßnahmen ergriffen würden, mehr als jetzt, um einfach die Schadenswahrscheinlichkeit zu reduzieren.

    Verschiedene Versicherungen sollten nach Ansicht Wagners im Wettbewerb miteinander stehen und sich durch ein System der Rückversicherungen vor größeren Schäden absichern. Auch er weiß, dass dabei eine staatliche Kontrolle der Versicherungen notwendig ist. Und er plädiert für einen gewissen Anteil an Eigenbeteiligungen, um den Versicherungsbetrug zu minimieren und die Bereitschaft zu vorbeugenden Maßnahmen zu erhöhen.

    Einige Hundert oder Tausend Euro sollte man aus eigener Tasche zahlen, um auch wieder die Prävention zu stärken und den Versicherungsbetrug zu minimieren. Und die verschiedenen Versicherungen würden unterschiedliche Prämien nehmen, würden unterschiedliche Selbstbehalte nehmen, man hat also eine Auswahl, und es würde ein Wettbewerb zwischen diesen Versicherern existieren. Das heißt, es wären zwar alle versichert, aber nicht alle in der selben Versicherung, und sie würden auch nicht alle dieselbe Prämie zahlen.

    Mit Hilfe einer Elementarschaden-Pflichtversicherung könnte also das existenzielle Risiko, von einer Naturkatastrophe getroffen werden, auf alle umgelegt werden; zugleich bliebe es jedoch dem freiem Spiel der internationalen Finanzmärkte überlassen:

    Wir haben weltweit sehr viel Kapital, das Anlagemöglichkeiten sucht, und Versicherungen sind eine Möglichkeit, um Kapital profitabel anzulegen. Man kann natürlich auch Pech haben, wenn große Schadensereignisse eintreten, dann ist es nicht unbedingt eine sehr gute Anlage. Wenn man Glück hat, kann man allerdings sehr große Renditen erzielen. Und davon profitieren eben diejenigen, die Versicherungsschutz suchen.

    Des einen Pech, des anderen Glück. Das klingt nicht besonders zartfühlend. Doch wenn es gelingen könnte, auf diesem Wege grobe Ungerechtigkeiten zu vermeiden, wäre tatsächlich ein großer Schritt getan. Denn die Allgemeinheit - in der Person des Steuerzahlers - wird in jedem Fall zur Kasse gebeten.

    Doch nicht jeder möchte seine persönliche Sicherheit auf dem internationalen Kapitalmarkt aufbauen. Anderen sind handfeste Lösungen lieber. Die Vorschläge reichen weit: Da sollen die Deiche erhöht und die Flutmauern verstärkt werden. Häufig ist auch die Forderung, die Flüsse zurückzubauen und ihnen ihre feuchten Auengebiete zurückzugeben.

    Doch sieht man sich an, was seit der Oderüberschwemmung des Jahres 1997 in der Ziltendorfer Niederung geschehen ist, dann stimmt das sehr pessimistisch: Denn es ist wenig oder gar nichts geschehen. In der Ziltendorfer Niederung wurden die Häuser an der gleichen Stelle wiederaufgebaut.

    Auch eine großräumige Entsiegelung von Flächen ist nicht ganz einfach zu bewerkstelligen. Denn der größte Teil der Häuser, die nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit Naturkatastrophen rechnen müssen, ist schon jetzt gebaut. Prof. Dr. Friedhelm Sieker vom Institut für Wasserwirtschaft, Hydrologie und landwirtschaftlichen Wasserbau der Universität Hannover schlägt daher vor, am System der Kanalisation etwas zu ändern.

    Die versiegelten Flächen, die sind nun mal da. Und die kann man auch nicht wegdiskutieren. Und wenn man von Entsiegelungsmaßnahmen spricht, dann ist das nur in sehr geringem Maße möglich. Also man wird weiter davon ausgehen müssen, dass es Dachflächen, dass es betonierte oder asphaltierte Straßenflächen gibt, und dass auf diesen Flächen eben Abfluss auftritt, der - jetzt kommt's - der derzeit nach dem Prinzip: 'Das Regenwasser sollte so schnell und so gründlich wie möglich aus den Siedlungsgebieten abgeleitet werden', über speziell dafür konstruierte Kanalisation abgeleitet wird.

    Die Kanalisation war die große technische und soziale Errungenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie schützte die Städte wirksam gegen Cholera-Epidemien und sorgte dafür, dass Unrat und Fäkalien, Haushalts- und Fabrikabwässer nicht länger in offene Rinnsteine auf die Straßen und dann ungeklärt in die Flüsse geleitet wurden.

    Eine der Entscheidungen, die bei der Einführung der Kanalisation vor mehr als hundert Jahren getroffen wurde, hat sich jedoch als höchst folgeträchtig erwiesen. Denn es wurde bei der Kanalisation zumeist das Mischsystem gewählt, bei dem Regenwasser und Abwässer durch ein gemeinsames Kanalsystem aus den Siedlungen abgeleitet werden. So ist es in den meisten Städten bis heute geblieben. Wasserbau-Experte Sieker sagt dazu:

    In diesen unterirdischen Leitungen wird nun das Wasser sehr schnell im allgemeinen und vor allen Dingen gründlich ohne große Verluste unterirdisch in die größere Kanalisation und von dort aus dann dem Gewässer zugeführt. Und das läuft also relativ rasch ab, es geht kaum ein Tropfen verloren. Das heißt, alles, was auch an Niederschlag auf die versiegelten Flächen fällt, wird tatsächlich in die Gewässer abgeleitet. Und das ist im Grunde genommen das Grundübel. Ich sehe die versiegelten Flächen eigentlich als unveränderbar und nicht wegzudenken an. Aber: Die Art und Weise, wie wir dann mit den Abflüssen von den versiegelten Flächen umgehen, das ist revidierbar. Und da können wir den Hebel ansetzen.

    Hochwasserspitzen könnten also vermieden werden, wenn das Wasser nach starken Regenfällen nicht gleich in die Flüsse geleitet würde. Sieker hat eine Lösung parat, die seit etwa zehn Jahren von Wasserbautechnikern erprobt wird und auch bereits mehrfach verwirklicht worden ist.

    Es handelt sich um das so genannte "Mulden-Rigolen-System". Anstatt das Wasser über Kanäle und Rohre möglichst schnell aus den Siedlungsgebieten wegzuleiten, soll es im Boden versickern, dort länger verweilen und erst nach und nach an die Gewässer abgegeben werden. So könnte ein Teil der Hochwasser vermieden werden. Wo der Boden das Regenwasser nicht von allein festhält, könnte es in einer so genannten 'Rigole' gespeichert werden - einer Art unterirdischem Schwamm, der aus Kies oder Lavagranulat bestehen könnte oder aber auch aus industriell hergestellten Kunststoffgittern.

    Alle Mulden-Rigolen-Systeme wären schließlich miteinander zu vernetzen, um das Regenwasser bedarfsgerecht "bewirtschaften" zu können. Das klingt auch für den wasserbautechnischen Laien nach hohem bürokratischen Aufwand, gigantischen Baumaßnahmen und immensen Kosten. Doch Professor Sieker ist zuversichtlich:

    Wenn man dieses System in einem Neubaugebiet anlegt, dann wird es insgesamt nicht teurer als ein sogenanntes konventionelles Ableitungssystem. Beim konventionellen Ableitungssystem muss man viel größere Rohrquerschnitte einbringen, entsprechende Baugruben anlegen, man muss auch und sollte auch immer am Ende eines solchen Systems ein Rückhaltebecken bauen, und die Kosten sind dann doch auch so beträchtlich, wie sie eigentlich bei dem Weg über das Mulden-Rigolen-System nicht höher sind. Wir plädieren allerdings dafür, auch in den Bestandsgebieten dieses System anzuwenden, und zwar bei allen passenden, sich ergebenden Gelegenheiten.

    Nun wird jedoch nicht jeder sein privates Mulden-Rigolen-System unter dem Rasen haben wollen. Der Wasserbautechniker Sieker sieht denn auch in den Grünstreifen entlang der Straßen und Wege oder auf großen Betriebsgeländen die geeigneten Flächen für die neuartige Form der "Regenwasser-Bewirtschaftungsanlagen".

    Wir müssen schon uns ein bisschen einschränken, was den Flächenanspruch angeht, das heißt, wir müssen technisch nachhelfen, um das, was die Natur in einem unbebauten Gebiet flächenhaft verteilt macht, zu komprimieren auf einem Anteil von vielleicht 10 Prozent.

    Als nächstes wäre dann über ein neues Abrechnungssystem bei der Entsorgung der Abwässer nachzudenken. Es stellt sich die Fragen, warum ein solches System, wenn es denn so sinnvoll ist, nicht schon längst eingeführt worden ist. Professor Sieker macht die Traditionen im Wasser- und im Städtebau dafür verantwortlich und nimmt auch sich selbst dabei nicht aus:

    Das ist die Macht der Gewohnheit, die die Fachöffentlichkeit an dem Prinzip der strikten Ableitung festhalten lässt. Ich meine, dieses Prinzip wird nun bei uns seit hundert Jahren und mehr praktiziert, und es hat ja auch seine Vorteile gebracht, das kann man ja nicht abstreiten. Wir haben also in den Siedlungsgebieten sehr selten Überflutungen zu verzeichnen, und von daher sind die Bürger sicherlich alle zufrieden, und die Fachleute, die es betreiben, sind auch damit zufrieden. Es ist erst jetzt in den letzten Jahren im Grunde genommen uns Fachleuten, da muss ich mich einbeziehen, bewusst geworden, dass wir damit auch erhebliche Nachteile ausgelöst haben, die nicht nur mit der Abflussverschärfung zu tun haben, sondern die auch bewirken, dass die Gewässer stärker verschmutzt werden, als es eigentlich notwendig wäre.

    Alle sind zufrieden - bis auf diejenigen, die es gerade trifft und die unter dem lebhaftem Interesse der Öffentlichkeit den Schlamm aus ihren Wohnzimmern schaufeln. Doch ob nun das Mulden-Rigolen-System oder die Elementarschaden-Pflichtversicherung für alle - eins ist klar: Es muss etwas passieren. Am sinnvollsten wird es sein, wenn viele verschiedene Maßnahmen ineinander greifen. Denn Naturkatastrophen werden sich auch in Zukunft nicht vermeiden lassen, sondern sehr wahrscheinlich noch zunehmen.

    Für die Natur gibt es schließlich keine Hochwasser. Überall dort, wo Menschen siedeln und in ihre Umwelt eingreifen - und das meist schon seit Jahrhunderten - sind sie von "klimatischen Anomalien" betroffen. Ganz egal, ob sie letztlich rein "natürlichen" Ursprungs sind, oder aber ob der Mensch zu ihnen beigetragen hat. Wir werden also mit ihnen leben müssen. Doch die finanziellen Belastungen und Risiken kann man weitaus gerechter verteilen, als das derzeit geschieht.

    Und in einem sind sich die drei hier befragten Wissenschaftler aus ihren sehr unterschiedlichen Disziplinen einig: Langfristig helfen weder Appelle an die Nächstenliebe noch an das ökologische Bewusstsein. Nur eines hilft: Jeder einzelne muss die Kosten einer Naturkatastrophe unmittelbar in seinem eigenen Portemonnaie spüren. Und natürlich auch die finanziellen Entlastungen, die ihm ein sinnvoller Hochwasserschutz bringt. Sonst funktioniert keine der vorgeschlagenen Maßnahmen.