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"Nora oder Ein Puppenhaus" in der Inszenierung von Timofej Kuljabin
Nora im Handyland

Timofej Kuljabin ist einer der bekanntesten jungen Regisseure Russlands. In Zürich inszeniert er "Nora" nach Henrik Ibsen höchst zeitgemäß - per Smartphone und Tablet - und macht die Härte des Dramas neu erfahrbar.

Von Cornelie Ueding | 17.11.2018
    Die Anzeige auf einem Smartphone weist auf zahlreiche ungelesene Mails, verpasse Anrufe, anstehende Kalenderereignisse und SMS hin.
    Die Anzeige auf einem Smartphone weist auf zahlreiche ungelesene Mails, verpasse Anrufe, anstehende Kalenderereignisse und SMS hin. (dpa/ picture-alliance/ Michael Kappeler)
    Der obere Teil der breiten Bühne ist ein riesiges Handydisplay. Darunter liegen, sitzen, agieren die Figuren in Alltagssituationen. Ihr Small Talk ist situationsabhängig und unhörbar. Denn sie sind vor allem eines: Mail-Adressen. Alle Gespräche und Dialoge sind zu E-mails oder Whats-App Nachrichten geschrumpft. Man chattet und simst auf Teufel komm raus in der Familie Helmer: Glückwünsche zur Ernennung des Hausherrn zum Bankdirektor, neckisches Geplänkel zwischen Torvald und und Nora in digitaler Kurzform – fast wie im wirklichen Leben. Die Zuschauer können auf den riesigen Handy-Projektionen die Messages der diversen User im Entstehen begriffen verfolgen - Vertipper und Korrekturen in Echtzeit, viele bunte Emojis inklusive.
    Ein Plastikpanzer aus Konversationsmüll
    "Klick klick klick ... "Jetzt können wir uns mal was leisten" – "Ja, mein Eichhörnchen, aber nicht zu viel" – klick - "Aber nein, nur das Nötigste" - klick - "Als ob meine geliebtes Eichhörnchen das könnte"
    Dieser Plastikpanzer aus Konversationsmüll ist erstaunlich nachhaltig und widerstandsfähig. Wo immer man ist, im Büro oder im Fitness-Studio, im Bett, im Bad oder beim Shoppen - die Szenenschnipsel unter den Handyprojektionen lassen daran keinen Zweifel: Freunde, selbst Ehepartner können auf diese Weise jahrelang miteinander kommunizieren, ohne auch nur einmal miteinander zu reden. In der ersten, zunächst etwas lang wirkenden Stunde dieser Züricher "Nora" hat man den Eindruck, das könnte im Puppenheim der beredten Sprachlosigkeit noch jahrelang so weiter gehen. Doch unter der Maske der Kurzmitteilungen wächst die Masse des Ungesagten, Unverarbeiteten, niemals Ausgesprochenen bedrohlich an. Zuerst sind wir Augen-Zeugen, wie wir unser Leben förmlich vertwittern, launig und eifrig mitspielen und uns um den Verstand simsen.
    Die Stunde der Wahrheit kommt für Nora und Torvald erst nach neun Jahren sprachlichen und emotionalen Leerlaufs. Denn im Staubecken der Vergangenheit schwimmen Leichen – wie Noras Unterschriftenfälschung aus Liebe … Und von einem Moment zum anderen zerbricht die Kunsteisfläche der glattgeschliffenen Sprache.
    "Und jetzt in diesem Augenblick sprechen wir zum ersten Male wirklich miteinander"
    Für eine kurze Zeit hält das Netz der panisch gechatteten Gegenintrigen noch, mit denen Nora in allen möglichen Lebenslagen hektisch versucht, die Wahrheit zu vertuschen und den Erpresser-Brief mit dem Beweis für ihre Urkunden-Fälschung von Torvald fernzuhalten. Doch dann, während sie unter Aufbietung aller Willenskräfte die tödliche Tarantella vor der weihnachtlich versammelten Gesellschaft tanzt, rebelliert etwas in ihr und sie selbst deckt die Wahrheit auf. Naturgemäß wieder durch eine Mail, die wie eine Bombe einschlägt.
    Die Detonation ist so wuchtig, dass die digitale Panzerung zerbricht und die Eheleute einander ohne digitale Schutzzone unmittelbar gegenüberstehen.
    "Torvald. Wir sind jetzt neun Jahre verheiratet. Und jetzt in diesem Augenblick sprechen wir zum ersten Male wirklich miteinander. Unser Haus ist ein Puppenhaus und ich bin darin deine Puppenfrau."
    Selten wurde dieser Moment derart strategisch vorbereitet und atemberaubend klar herausgearbeitet wie in der neuen Züricher Aufführung. Zwar geht man nach diesem Augenblick der Wahrheit rasch wieder in den digitalen Kommunikations-Modus über, doch aus dem launigen Chat ist ein Duell geworden: Die Handys wie Pistolen gegeneinander gerichtet kommt es zum Showdown: Zu groß war Noras Enttäuschung über Torvalds lieblos-dominantes Verhalten. Zu groß der Einbruch der Selbsterkenntnis über ihr Puppen-Dasein.
    Kuljabin macht die Härte des Dramas neu erfahrbar
    "…Ich werde dich verlassen!"/ "Das erlaube ich nicht!"/ "Du hast mir nichts zu erlauben"/ – "Du hast Pflichten als Mutter und Ehefrau."/ "Ich habe Pflichten mir gegenüber. …"
    Dann eine letzte Mail - und Nora geht.
    Timofej Kuljabin hat das Drama nicht nur oberflächlich aktualisiert. Er hat vielmehr die ursprünglich angelegte Härte und Klarheit neu erfahrbar gemacht – und dies paradoxerweise gerade durch die Transformation in unsere abbreviaturhafte Kommunikationswelt. Die systematische, digitale Verknappung erweist sich als die heutige Form der unverbindlich bleibenden, standardisierten Konversation mit all ihren verheerenden Folgeerscheinungen.