Archiv


Nordisch oder baltisch?

Das Baltikum wurde von der Finanzkrise besonders hart getroffen. Dennoch: Die Regierung Estlands hat in den Boom-Jahren gespart und möchte 2012 den Euro einführen. Viele Esten möchten nicht mit Letten und Litauern verglichen werden, sondern orientieren sich am nördlichen Nachbarn Finnland.

Von Matthias Kolb |
    Auf einem Schwarz-Weiß-Foto steht ein blonder Junge mit Strickpulli im Wohnzimmer neben einem Fernseher:
    "Das bin ich, Jaak. Ich bin acht Jahre alt und mein Leben ist großartig, denn ich kann finnisches Fernsehen gucken. Wie jeden Freitag schaut die ganze Familie 'Dallas'."

    Mit dieser Szene beginnt der Dokumentarfilm "Disko und Atomkrieg", in dem sich Jaak Kilmi an seine Jugend in den 80er-Jahren im damals sowjetischen Estland erinnert. Helsinki und Tallinn liegen nur 80 Kilometer voneinander entfernt und so genügte eine kleine Antenne für einen ungefilterten Einblick in die kapitalistische Welt jenseits der Grenze. Karel Zova, der heute für das Estnische Institut arbeitet, hat ähnliche Erinnerungen. Die andere Sprache, so berichtet der 38-Jährige, sei kein Problem gewesen:

    "Estnisch und Finnisch sind sich sehr ähnlich, vor allem was die Grammatik und die Struktur angeht. Wir Esten haben 14 Fälle, die Finnen 16. Natürlich sind nicht alle Wörter gleich, aber ich habe Finnisch nicht im Unterricht gelernt, sondern beim Fernsehen. Wenn ich etwas nicht wusste, habe ich meine Mutter gefragt."

    Als die UdSSR 1991 zerbrach, half dem unabhängigen Staat die Nähe zu Finnland sehr. Jaak Joerüüt war in den 90er-Jahren estnischer Botschafter in Helsinki:

    "Sobald es möglich war, in Estland zu investieren, waren die finnischen Geschäftsleute da. Von dort aus gingen sie nach einiger Zeit weiter in den Süden. Für die Finnen war es einfach eine gute Zeit, Geld zu verdienen."

    So konnte sich Estland einen Vorsprung gegenüber Lettland und Litauen erarbeiten. Bis heute ist das estnische Durchschnittseinkommen das höchste im Baltikum. Laut Transparency International ist die Korruption nirgends in Osteuropa niedriger als in Estland. Während die lettische Regierung den Staatsapparat eher aufblähte, setzte Tallinn auf schlanke Strukturen. Die offene Wirtschaft der Finnen sei stets ein Vorbild gewesen, sagt der Vize-Staatssekretär im Finanzministerium, Tanel Ross:

    "Wir waren immer überzeugt, dass sich der Staat nicht zu aktiv in die Wirtschaft einmischen soll. Die Regierung soll für Stabilität sorgen und die Firmen unterstützen, dass sie sich im Wettbewerb bewähren können. Wir haben sie nicht künstlich geschützt."

    Ross kümmert sich gerade um die estnische Euro-Bewerbung. Wenn er alle Daten nach Brüssel geschickt hat, können die 16 Euroländer im Juni entscheiden, ob sie die Baltenrepublik aufnehmen. Die Zahlen sprechen dafür: Das Budgetdefizit liegt unter drei Prozent, die Staatsverschuldung ist die niedrigste in Europa. Weil die Regierung in den Boom-Jahren Reserven gebildet hat, kam Tallinn allein durch die Krise, während Lettland nur mit einem Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds den Staatsbankrott verhindern konnte. Estnische Unternehmer klagen jedoch, dass neben dem Desaster in Griechenland das schlechte Image Lettlands den Euro-Ambitionen schaden könnte. Leider würden die baltischen Staaten in Westeuropa noch immer als Einheit wahrgenommen. Karel Zova vom Estnischen Institut:

    "Wir sind Nachbarn, aber auch Konkurrenten. Richtig nahe waren sich Esten und Letten selten, am ehesten in der Sowjetzeit. Natürlich gibt es viele Sprichwörter und Vorurteile: Wenn dir an einem Tag nichts gelingen will, dann sagen wir 'Gott ist heute ein Lette'- Minderwertige Dinge sind für uns 'abgegriffen wie lettisches Geld'."

    Der Diplomat Jaak Joerüüt sieht das etwas anders. Seit dreieinhalb Jahren vertritt er die estnischen Interessen in Lettland. Die Beziehungen seien gut, das gegenseitige Interesse vorhanden:

    "Ich sehe hier von Riga aus viele Gemeinsamkeiten zwischen Lettland und Estland, aber nur ein Hindernis: die Sprache. Es gibt einen regen Kulturaustausch, Touristen kommen ebenso wie Geschäftsleute. Mehr als 1000 Firmen sind hier aktiv. Also interessieren sie sich für Lettland – aus ganz pragmatischen Gründen."

    Das Lettische ist mit dem Litauischen verwandt, zum Estnischen gibt es keine Verbindung. Aber man weiß sich zu helfen: Die Jungen reden Englisch miteinander, die Älteren Russisch. Auch wenn die Esten heute nicht mehr auf finnisches Fernsehen angewiesen sind, wirkt das Nachbarland noch immer anziehend. Der Arbeitsmarkt lockt mit relativ hohen Löhnen und zahlreiche verführerische Dinge gibt es weder in Tallinn noch in Riga. Die Teenager fahren zwei Stunden mit der Fähre nach Helsinki, um shoppen zu gehen. Junge Erwachsene haben meist ein anderes Ziel: Sie kaufen Möbel bei Ikea.