Aufgewachsen in finsterster Armut, durch treue Dienste gegenüber dem Regime in die Vertrauensposition eines Kaders mit Westkontakten gelangt, ergreift Kim Jong Ryul 1994 bei einem Flug nach Bratislava die Gelegenheit zur Flucht. Der nordkoreanische Geheimdienst begibt sich umgehend auf seine Fährte – doch die Spur des Verschwundenen verliert sich. Ein Jahr später wird er von der Partei in Pjöngjang für tot erklärt und seitdem dort als Held verehrt. Doch der tote Held lebt – er ist im benachbarten Österreich untergetaucht und wohnt dort, bis heute unentdeckt, als vorgeblicher "Japaner" in der Provinz. Fünfzehn Jahre hat der geflohene Oberst stillgehalten – um seine Familie daheim nicht in Gefahr zu bringen, wie er sagt. Doch an seinem 70. Geburtstag erinnerte er sich an ein Zitat des chinesischen Philosophen Konfuzius, das er fortan zu seinem Leitmotiv erhebt: "Wenn der Tiger stirbt, hinterlässt er sein Fell. Wenn der Mensch stirbt, möge er seinen Namen hinterlassen". Und Kim Jong Ryul beschloss, angesichts der katastrophalen Verhältnisse in seiner Heimat, nicht länger zu schweigen.
"In Nordkorea gibt es gewissermaßen Paradiese – in Klammern, ja? Paradiese! Wie starben im Paradies drei Millionen der einfachen Bevölkerung? Drei Millionen sind 15 Prozent dieser unserer Bevölkerung! Und das in Friedenszeiten, ohne Krieg! So ein Verbrechen können Sie erlauben? Nein, das kann ich nicht! Das ist so unmenschlich und bestialisch. Willst du so einfach, ohne den letzten Schrei zu geben, sterben, krepieren, ja? Oder anders? Und ich wollte anders. Und das ist heute."
Das Buch beschreibt zunächst eine ganz normale Kindheit im Nordkorea der 1940er-Jahre. Krieg. Japanische Besatzung. Die Väter sind tot oder in Gefangenschaft – Frauen und Kinder sind in den Lehmhütten zurückgeblieben, vom Hunger gezeichnet. Der kleine Bauernsohn Kim Jong Ryul beherrscht die Kunst, dennoch gelegentlich einen Happen Fleisch auf den Teller zu bringen. Der Junge fängt Elstern – mit einem ganz besonderen Trick: Er präpariert Bohnen mit Zyankali. Fressen die Vögel die Bohnen muss man nur warten, bis sie zu Boden fallen. Dann aber ist Eile geboten. Wenn er den toten Tieren nicht sofort den Magen herausnimmt, stirbt jeder, der von ihrem Fleisch isst. Der normale Wahnsinn im selbst erklärten "Arbeiterparadies" Nordkorea. Über das man im Ausland nichts weiß – und dessen geschundene Einwohner in einer tödlichen Operettenkulisse gefangen sind, ohne das auch nur zu ahnen.
"Warum in meine Heimat, Nordkorea, die nordkoreanische Bevölkerung, warum sind sie ruhig, warum sind sie folgsam? Weil sie keine Ahnung haben! Und irgendwo Ahnung zu kriegen, Wissen zu kriegen – was ist Demokratie, was ist Freiheit – das ist schon vorneweg alles verboten! Man spricht nie von der Freiheit! Ich habe nie in meinem Leben dort gehört vom Freiheitsthema. Ich wünschte, dass auch irgendwie das Buch auch in Nordkorea verbreitet wird, das ist mein Wunsch."
Ingrid Steiner-Gashi, die gemeinsam mit ihrem Mann Dardan Gashi die Geschichte von Kim Jong Ryul aufgeschrieben hat, gehört zu den wenigen westlichen Journalisten, die sich von den paranormalen Zuständen in Nordkorea einen persönlichen Eindruck verschaffen konnten: Im Jahr 2007 reiste sie, getarnt als Delegationsmitglied, mit der österreichischen Damen-Eishockeymannschaft zur B-Weltmeisterschaft nach Pjöngjang. Nach ihrer Rückkehr veröffentlichte sie einige Zeitungsartikel über ihre Eindrücke. Die las der untergetauchte Oberst – und setzte sich mit der Journalistin in Verbindung. Nach einem ersten konspirativen Treffen folgten weitere, immer intensivere Gespräche – mit immer brisanteren Details, wie sie bisher im Westen nicht zu lesen waren: Über die Paranoia des Sicherheitsapparats, die Todeslager des Regimes, geheime Waffenkäufe und russische Atomtechniker, die Pjöngjang schließlich zu dem machten, was es bis heute ist: die unberechenbarste Zeitbombe des Planeten. US-Präsident George Bush zählte Nordkorea einst zur "Achse des Bösen". Entgegen der Rhetorik gab und gibt es, davon ist Ingrid Steiner-Gashi überzeugt, nie wirklich ein Interesse, das nordkoreanische Volk von seinem furchtbaren Joch zu befreien:
"China, Japan, Südkorea, USA in Summe, habe ich den Eindruck, dass man eher daran interessiert ist, dieses Regime so zu halten, um bloß nicht Umstürze, die kolossale Flüchtlingswellen auslösen mögen, zu provozieren."
Auch die andauernden, diskreten Geschäfte mit dem offiziell geächteten Regime, so merkt die Autorin an, seien durchaus ein Motiv, möglichst alles beim Alten zu lassen. Denn das internationale Geflecht von Händlern, Zwischenhändlern und staatlichen Einkäufern, wie es im Buch ausführlich beschrieben wird, bestehe fort. Dieses "business as usual" zulasten der ausgemergelten Bevölkerung müsste und könnte, so Ingrid Steiner-Gashi, sofort und strengstens unterbunden werden. Ansonsten hält sich die erfahrene Außenpolitikredakteurin der österreichischen Tageszeitung "Kurier" mit Wertungen und Forderungen wohltuend zurück. Sie lässt ihren Schützling erzählen. Soweit möglich, recherchiert Ehemann Dardan Gashi, der als ehemaliger OSZE-Diplomat über hervorragende internationale Kontakte verfügt, das Erzählte nach. So ist ein Sachbuch entstanden, das einen seltenen Glücksfall darstellt: spannend wie der kühnste Agententhriller, anrührend durch die Tragik des Titelhelden, der erst im hohen Alter wagt, offen auszusprechen, was ein normaler Nordkoreaner – bis heute - nicht einmal denken darf. Und Kim Jong Ryul ist sich darüber im Klaren, dass für ihn – den Verräter, wie er sich selbst nennt, der Weg zwar in die Öffentlichkeit, aber wohl nicht in die Freiheit führt:
"Durch das Buch da habe ich schon einen wichtigen Wunsch erfüllt, ja. Und das war vorerst mein Ziel. Aber was dann in den nächsten Monaten, nächsten Tagen zu mir kommen wird, das weiß ich nicht. Aber, wie gesagt, das ist sehr gefährlich, ja. Ich bin sehr gefährdet, ja. Und die Nordkoreaner werden nicht ruhig herumsitzen, sondern die werden in den nächsten Monaten wirklich herumtoben, mich zu verhaften. Aber heute ist für mich Öffentlichkeit der letzte Tag etwas, ja – und ich werde nicht verschwinden."
Ingrid Steiner-Gashi und Dardan Gashi: Im Dienst des Diktators. Leben und Flucht eines nordkoreanischen Agenten. Erschienen bei Ueberreuter, 192 Seiten kosten 19,95 Euro, ISBN: 978-3-8000-7450-1. Unser Rezensent war Elias Bierdel.
"In Nordkorea gibt es gewissermaßen Paradiese – in Klammern, ja? Paradiese! Wie starben im Paradies drei Millionen der einfachen Bevölkerung? Drei Millionen sind 15 Prozent dieser unserer Bevölkerung! Und das in Friedenszeiten, ohne Krieg! So ein Verbrechen können Sie erlauben? Nein, das kann ich nicht! Das ist so unmenschlich und bestialisch. Willst du so einfach, ohne den letzten Schrei zu geben, sterben, krepieren, ja? Oder anders? Und ich wollte anders. Und das ist heute."
Das Buch beschreibt zunächst eine ganz normale Kindheit im Nordkorea der 1940er-Jahre. Krieg. Japanische Besatzung. Die Väter sind tot oder in Gefangenschaft – Frauen und Kinder sind in den Lehmhütten zurückgeblieben, vom Hunger gezeichnet. Der kleine Bauernsohn Kim Jong Ryul beherrscht die Kunst, dennoch gelegentlich einen Happen Fleisch auf den Teller zu bringen. Der Junge fängt Elstern – mit einem ganz besonderen Trick: Er präpariert Bohnen mit Zyankali. Fressen die Vögel die Bohnen muss man nur warten, bis sie zu Boden fallen. Dann aber ist Eile geboten. Wenn er den toten Tieren nicht sofort den Magen herausnimmt, stirbt jeder, der von ihrem Fleisch isst. Der normale Wahnsinn im selbst erklärten "Arbeiterparadies" Nordkorea. Über das man im Ausland nichts weiß – und dessen geschundene Einwohner in einer tödlichen Operettenkulisse gefangen sind, ohne das auch nur zu ahnen.
"Warum in meine Heimat, Nordkorea, die nordkoreanische Bevölkerung, warum sind sie ruhig, warum sind sie folgsam? Weil sie keine Ahnung haben! Und irgendwo Ahnung zu kriegen, Wissen zu kriegen – was ist Demokratie, was ist Freiheit – das ist schon vorneweg alles verboten! Man spricht nie von der Freiheit! Ich habe nie in meinem Leben dort gehört vom Freiheitsthema. Ich wünschte, dass auch irgendwie das Buch auch in Nordkorea verbreitet wird, das ist mein Wunsch."
Ingrid Steiner-Gashi, die gemeinsam mit ihrem Mann Dardan Gashi die Geschichte von Kim Jong Ryul aufgeschrieben hat, gehört zu den wenigen westlichen Journalisten, die sich von den paranormalen Zuständen in Nordkorea einen persönlichen Eindruck verschaffen konnten: Im Jahr 2007 reiste sie, getarnt als Delegationsmitglied, mit der österreichischen Damen-Eishockeymannschaft zur B-Weltmeisterschaft nach Pjöngjang. Nach ihrer Rückkehr veröffentlichte sie einige Zeitungsartikel über ihre Eindrücke. Die las der untergetauchte Oberst – und setzte sich mit der Journalistin in Verbindung. Nach einem ersten konspirativen Treffen folgten weitere, immer intensivere Gespräche – mit immer brisanteren Details, wie sie bisher im Westen nicht zu lesen waren: Über die Paranoia des Sicherheitsapparats, die Todeslager des Regimes, geheime Waffenkäufe und russische Atomtechniker, die Pjöngjang schließlich zu dem machten, was es bis heute ist: die unberechenbarste Zeitbombe des Planeten. US-Präsident George Bush zählte Nordkorea einst zur "Achse des Bösen". Entgegen der Rhetorik gab und gibt es, davon ist Ingrid Steiner-Gashi überzeugt, nie wirklich ein Interesse, das nordkoreanische Volk von seinem furchtbaren Joch zu befreien:
"China, Japan, Südkorea, USA in Summe, habe ich den Eindruck, dass man eher daran interessiert ist, dieses Regime so zu halten, um bloß nicht Umstürze, die kolossale Flüchtlingswellen auslösen mögen, zu provozieren."
Auch die andauernden, diskreten Geschäfte mit dem offiziell geächteten Regime, so merkt die Autorin an, seien durchaus ein Motiv, möglichst alles beim Alten zu lassen. Denn das internationale Geflecht von Händlern, Zwischenhändlern und staatlichen Einkäufern, wie es im Buch ausführlich beschrieben wird, bestehe fort. Dieses "business as usual" zulasten der ausgemergelten Bevölkerung müsste und könnte, so Ingrid Steiner-Gashi, sofort und strengstens unterbunden werden. Ansonsten hält sich die erfahrene Außenpolitikredakteurin der österreichischen Tageszeitung "Kurier" mit Wertungen und Forderungen wohltuend zurück. Sie lässt ihren Schützling erzählen. Soweit möglich, recherchiert Ehemann Dardan Gashi, der als ehemaliger OSZE-Diplomat über hervorragende internationale Kontakte verfügt, das Erzählte nach. So ist ein Sachbuch entstanden, das einen seltenen Glücksfall darstellt: spannend wie der kühnste Agententhriller, anrührend durch die Tragik des Titelhelden, der erst im hohen Alter wagt, offen auszusprechen, was ein normaler Nordkoreaner – bis heute - nicht einmal denken darf. Und Kim Jong Ryul ist sich darüber im Klaren, dass für ihn – den Verräter, wie er sich selbst nennt, der Weg zwar in die Öffentlichkeit, aber wohl nicht in die Freiheit führt:
"Durch das Buch da habe ich schon einen wichtigen Wunsch erfüllt, ja. Und das war vorerst mein Ziel. Aber was dann in den nächsten Monaten, nächsten Tagen zu mir kommen wird, das weiß ich nicht. Aber, wie gesagt, das ist sehr gefährlich, ja. Ich bin sehr gefährdet, ja. Und die Nordkoreaner werden nicht ruhig herumsitzen, sondern die werden in den nächsten Monaten wirklich herumtoben, mich zu verhaften. Aber heute ist für mich Öffentlichkeit der letzte Tag etwas, ja – und ich werde nicht verschwinden."
Ingrid Steiner-Gashi und Dardan Gashi: Im Dienst des Diktators. Leben und Flucht eines nordkoreanischen Agenten. Erschienen bei Ueberreuter, 192 Seiten kosten 19,95 Euro, ISBN: 978-3-8000-7450-1. Unser Rezensent war Elias Bierdel.