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NS-Aufarbeitung der Musikwissenschaft

Die Gesellschaft für Musikforschung und der Berufsverband der Musikologen lud zu einer Tagung über Nachkriegskultur und Vergangenheitspolitik nach Mannheim ein. Die Ergebnisse, die vor allem jüngerer Wissenschaftler vortrugen, waren frappierend.

Von Frieder Reininghaus | 24.01.2012
    Tagung in Mannheim – eine Sprachlosigkeit, die auch kaum einer der nach 1933 emigrierten deutschen Musikforscher durchbrach und nur wenige der aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrten.

    Anberaumt wurde der bemerkenswert gut besuchte Kongress von der Gesellschaft für Musikforschung. Die Ergebnisse, die vor allem ein halbes Dutzend jüngerer Wissenschaftler vortrugen, waren frappierend. Mehrere Referate kreisten um die zentrale Figur der deutschen Musikforschung in der Mitte des 20. Jahrhunderts, den Rassekundler und Musikwissenschaftler Friedrich Blume. Und damit auch um die stark gefilterten Annalen der veranstaltenden Gesellschaft. Deren Neugründung wurde 1947 von den amerikanischen Besatzungsbehörden mit guten Gründen zunächst verboten, von den Briten dann in Kiel zugelassen.

    Michael Custodis (aus Münster) analysierte das Funktionieren der musikwissenschaftlichen Expertennetzwerke zwischen 1938 und 1948 brillant – so, wie die erste Mozart-Gesamtausgabe mit tatkräftiger Unterstützung Adolf Hitlers begonnen wurde, liegen auch die Anfänge der Enzyklopädie "Musik in Geschichte und Gegenwart" in den Kriegsjahren (diese Enzyklopädie, kurz "MGG" genannt, ist bis heute Kernprojekt und Aushängeschild deutscher Musikforschung). Verantwortlicher Herausgeber vor und nach 1945 war jener Professor Blume, der sein Wissenschaftsmodell "taktvoll" zu modifizieren verstand, dabei freilich fortdauernd vom welthistorischen Primat deutscher Musik ausging. Blumes verblüffend erfolgreiche Bemühungen um die Wiedererlangung internationaler Vernetzung ab 1947 wurden von Philine Lautenschläger (aus Berlin) minutiös aufgedröselt – auch die Mechanismen, mit denen er emigrierte Fachkollegen stillschweigend und ohne die Thematisierung der Gründe für ihr Exil wieder einzubinden und ruhigzustellen verstand.

    Des weiteren wurden bei der Konferenz die Strategien der französischen Besatzungsoffiziere erläutert und die von ihrem Stab arrangierten Ergänzungen und Umstrukturierungen des auch 1945/46 noch gänzlich von "deutscher Musik" geprägten Musiklebens. Entsprechende Untersuchungen zum Wirken der Amerikaner, die ab 1947 für den Kalten Krieg mobilisierten, hat Ulrich Blomann vorgenommen. Sein ‚Enthüllungsbuch’ dürfte in Kürze für Aha-Erlebnisse sorgen (bis hin zu den Details der "Umpolung" wortführender Repräsentanten der Branche).

    Dafür, dass sich die Debatten nicht im Klein-klein einzelner Täter- bzw. Opfer-Biografien verzettelten, sorgten die Vertreter der Geschichtswissenschaften. Bernd Weisbrod und Peter Steinbach ordneten die besonderen musikalischen Fragen in den allgemeinen geisteswissenschaftlichen Diskurs ein und halfen, die keineswegs homogenen Bedingungen im totalitären Staat besser zu verstehen. Sie hoben die Rolle der Ordinarienstruktur hervor und den Kontext der Verjährungsdebatten in der Bundesrepublik (ausgeblendet blieben die in der DDR praktizierten Formen der Vergangenheitsbewältigung). Christoph König gab, gestützt auf die Erfahrungen mit dem "Internationalen Germanistenlexikon", grundsätzliche Hinweise zu einer ausgewogenen und differenzierten Vergangenheitspolitik.

    Die Mannheimer Tagung ging ohne ein einheitliches Fazit zu Ende. Wie nachhaltig aber ihre Resultate im Einzelnen und für die Musikpublizistik insgesamt wirken, wird sich zum Beispiel daran bemessen, wie lange es dauert, bis die erst 2008 abgeschlossene 29-bändige Musikenzyklopädie "MGG" in einer umfassenden Überarbeitung vorliegt und ob in dieser dann die Musikgeschichte in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit gleicher Gründlichkeit und Wahrhaftigkeit behandelt wird wie die Kleinmeister des 18. Jahrhunderts. Bislang tritt hinsichtlich der Biographien, Institutionen und Mechanismen in den ‚heiklen Jahren’ ein nicht mehr vertretbares Maß an Lückenhaftigkeit, Verschleierung und Desinformation zu Tage. Die Wahrheit ist, wiewohl bekanntlich ein im Fluss der Geschichte schwankendes fragiles Gut, höchst konkret.