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"Nur mit einer scharfen Vergangenheitskritik auch zukunftsfähig"

Eine Wahl von Joachim Gauck auch mit den Stimmen der Linken: "Das wäre ein Signal für die Öffnung gegenüber SPD und Grünen und für unsere eigene Nachdenklichkeit, was unsere Geschichte betrifft", sagt der Linken-Politiker André Brie.

André Brie im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 30.06.2010
    Dirk-Oliver Heckmann: Joachim Gauck war noch kaum als gemeinsamer Präsidentschaftskandidat von SPD und Grünen präsentiert, da kam bereits von Seiten der Linken das Signal, jeden werden wir mitwählen, aber nicht Joachim Gauck.

    Ein Mann der Vergangenheit sei er, was man aber brauche, das sei ein Präsident, der die Probleme der Gegenwart anspreche, so die erste Reaktion. Später wurden inhaltliche Argumente genannt, Gaucks Eintreten für den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, seine Billigung der Hartz-Reformen beispielsweise. Mancher argwöhnt allerdings, Die Linke könne Gauck seine Rolle als oberster Aufklärer bei der Stasi-Unterlagenbehörde nicht verzeihen.

    Am Telefon ist André Brie, ehemaliger Europaparlamentarier der Linken, lange Jahre Vordenker von PDS-Linkspartei. Guten Morgen, Herr Brie.

    André Brie: Guten Morgen, Herr Heckmann.

    Heckmann: Wie gesagt, Gregor Gysi hat gesagt, Gauck sei nicht wählbar, und hat sich bezogen auf Afghanistan, auf die Agenda 2010. Zuvor hieß es, Gauck sei ein Mann der Vergangenheit. Was ist der wahre Grund für die Ablehnung durch Die Linke?

    Brie: Es gibt schon grundlegende politische Differenzen mit ihm und Die Linke steht für Alternativität in der Politik, für sehr grundlegende Alternativität. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Auseinandersetzung mit Christian Wulff durch Die Linke viel aktiver geführt wurde, denn der ist ein Mann, der den Kurs der jetzigen Regierung aktiv mitgetragen hat. Aber es ist klar, dass es in der Linken große Vorbehalte gegenüber Gauck gibt, weil unsere Bereitschaft und unsere Fähigkeit, mit unserer eigenen Vergangenheit uns auseinanderzusetzen, hier auf einen Prüfstein geworfen wird.

    Heckmann: Ich schlage vor, Herr Brie, wir hören mal rein, was der Abgeordnete der Linken, der Liedermacher Diether Dehm, über Joachim Gauck gesagt hat, denn der hatte vor einigen Tagen deutliche Worte gefunden.

    O-Ton Diether Dehm: Joachim Gauck ist ein Brunnenvergifter, ein Hexenjäger und er erfüllt das, was Thomas Mann gesagt hat, der Antikommunismus ist die Grundtorheit der Epoche. Er hat nicht dazugelernt, völlig unwählbar.

    Heckmann: So weit also der Linken-Abgeordnete Diether Dehm. – Herr Brie, ist das eine Aussage, der viele Linken zustimmen könnten? Spricht er vielen aus dem Herzen?

    Brie: Er wird etlichen aus dem Herzen sprechen, da gibt es große Vorbehalte, aber Diether Dehm ist auch ein Mann, der ja auch mit antisemitischen Verschwörungstheorien hervorgetreten ist, den man auch nicht zu ernst nehmen sollte.

    Heckmann: In einem Zeitungsbericht wurde kürzlich ein namentlich nicht genannter Prominenter der Linken zitiert mit den Worten, "Wenn wir Gauck wählen würden, könnten wir im Osten einpacken". Gibt das die Stimmungslage im Osten Deutschlands wieder?

    Brie: Nein. In meinem eigenen Umfeld gibt es eher Unverständnis darüber, dass wir uns so stark gegen Gauck versuchen zu profilieren. Natürlich gibt es eine bestimmte Stimmung im Osten, die gegen Gauck massiv steht, aber unabhängig davon: Wir können nur mit einer scharfen Vergangenheitskritik auch zukunftsfähig sein. Deshalb muss es in unserem eigenen Interesse sein, einen Mann wie Gauck und seine politischen Positionen, seine Auseinandersetzung mit der DDR, mit der SED, mit der Staatssicherheit, sehr, sehr ernst zu nehmen und alles Konstruktive davon bei uns aufzunehmen.

    Heckmann: Das heißt, Sie würden dafür plädieren, Gauck zumindest im dritten Wahlgang die Stimme zu geben?

    Brie: Nicht zumindest. Wir sprechen ja wirklich über den unwahrscheinlichen Fall, dass es zum dritten Wahlgang kommt. Ich denke, dass Die Linke in den ersten beiden Wahlgängen wirklich die Alternativität zu Gauck und Wulff deutlich machen muss, aber im dritten Wahlgang, da plädiere ich dringend dafür, das zu überdenken und für Gauck zu stimmen. Köhler war das Startsignal für Schwarz-Gelb und Wulff soll offensichtlich das Signal zeigen, dass diese Koalition noch am Leben ist, und nach dem Sparpaket, denke ich, müsste im dritten Wahlgang durch Die Linke ein Beitrag geleistet werden, dass diese Regierung doch an ihr Ende kommt.

    Heckmann: Es gab allerdings schon das Signal aus der Führung Ihrer Partei, von Gesine Lötzsch und Klaus Ernst; sie sagten, dass Gauck auch im dritten Wahlgang nicht wählbar sei. Wird es bei dieser Absage an Gauck bleiben aus Ihrer Sicht?

    Brie: Da muss man heute erst mal abwarten. Wenn Wulff wirklich in zwei Wahlgängen durchfallen sollte, dann entsteht eine neue Situation und dann wird auch unter den Wahlfrauen und Wahlmännern der Linken ein neues Nachdenken passieren, auch durch die Parteiführung, was das an politischer Bedeutung dann hat, und es gibt ja jetzt schon Wahlfrauen und Wahlmänner der Linken, die erklärt haben, dass sie für Gauck stimmen werden.

    Heckmann: Und es gibt mehrere, die gesagt haben, oder die davor gewarnt haben, sich festzulegen vor einem dritten Wahlgang, nämlich der stellvertretende Fraktionschef Dietmar Bartsch und auch Bodo Ramelow. Steht dahinter auch möglicherweise ein Streit um die grundsätzliche Ausrichtung der Partei, das heißt also Öffnung hin zur SPD ja oder nein?

    Brie: Dieser Streit findet ja nicht statt, aber er schwelt unterschwellig und das ist eines der schwierigsten Probleme für Die Linke, denn so alternativ sind SPD und Grüne bisher auch nicht und sie haben den bisherigen Kurs voll mitgetragen. Deswegen ist hier alle Skepsis angebracht. Für Gauck im dritten Wahlgang zu stimmen heißt ja nicht, dass die Politik von SPD und Grünen sich schon ändern würde. Aber eine solche Öffnung wird mittelfristig dringend notwendig sein und hat zwei Voraussetzungen: unsere eigenen Hausaufgaben zu machen, Regierungsfähigkeit, Realismus zu entwickeln, gleichzeitig aber auch unser alternatives Profil aufrecht zu erhalten, andererseits auch Veränderungen bei SPD und Grünen.

    Heckmann: Und eine Wahl Gaucks wäre eine hervorragende Möglichkeit, diese Regierungsfähigkeit zu demonstrieren?

    Brie: Das wäre ein Signal für die Öffnung gegenüber SPD und Grünen und für unsere eigene Nachdenklichkeit, was unsere Geschichte betrifft.

    Heckmann: Glauben Sie denn, dass Ihre Partei dazu bereit ist, dieses Signal zu geben, nämlich die Kritik Gaucks am untergegangenen Staatssozialismus aufzunehmen in die eigene Vergangenheitsbewältigung?

    Brie: Dazu sind Teile der Partei nicht bereit. Das haben Sie ja auch gehört bei Diether Dehm und das gibt es natürlich viel stärker verbreitet auch an der Basis der Partei. Aber in der Parteiführung, in der Bundestagsfraktion und in den ostdeutschen Landesverbänden gibt es eine große Basis für eine solche Politik.

    Heckmann: Sie selbst, Herr Brie, haben 20 Jahre lang als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gearbeitet. Was sagen eigentlich Ihre Parteigenossen, wenn gerade Sie Ihrer Partei mangelnde Aufarbeitung vorwerfen?

    Brie: Es ist meine eigene Erfahrung, meine Geschichte, auch mein Erleben, woran die DDR gescheitert ist, weshalb ich die ganzen letzten zwei Jahrzehnte mit mir selbst scharf kritisch ins Gericht gehe und mit unserer gesamten Politik. Das hat immer Auseinandersetzungen hervorgerufen, es hat mir viel Widerstand und viel Feindschaft eingebracht, aber auch eine beträchtliche Akzeptanz.

    Heckmann: Die Bundesversammlung wählt heute einen neuen Bundespräsidenten. Wir haben gesprochen über die Position der Linken, und zwar mit André Brie, dem ehemaligen Europaparlamentarier der Linken. Herr Brie, ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Brie: Danke schön!