Berauscht von Schnaps und halluzinierten Abenteuern wanderten die Brüder -darunter auch Garcia Lorca- durch die Nacht, küßten die Erde und deklamierten Lyrik im Stil des Ultraismo, der spanischen Frühform des Surrealismus. Ins Kino ging man auch, in die amerikanischen Stummfilm-Grotesken mit Harold Lloyd, Chaplin, Buster Keaton. Doch das Kino war pure Unterhaltung:
"Niemand von uns hielt es für ein neues Ausdrucksmittel oder gar für eine Kunst. Was zählte, waren Poesie, Literatur, Malerei. Niemals wäre mir damals in den Sinn gekommen, eines Tages Filme zu machen."
In der Madrider Studentenresidenz entdeckten Buñuel und Savador Dali dann den "köstlichen poetischen Humor" eines Benjamin Péret und wälzten sich am Boden vor Lachen angesichts der eigenen köstlichen Einfülle auf dem Papier.
"Ist eine Taste eine Laus?/ Werde ich mich zwischen den Schenkeln meiner Geliebten erkälten?.. Sind Nilpferde glücklich?/ Sind Päderasten Matrosen?
Diese frühen surrealistischen Ein-und Überfälle Buñuels hat man in Spanien Anfang der Achtziger Jahre - gerade noch zu seinen Lebzeiten - wieder ausgegraben. Bei uns hat sie der Wagenbach-Verlag in dem bibliophil ausgestatteten Band "Die Flecken der Giraffe" herausgebracht. "Objekte der Begierde" heißt der soeben frisch erschienene Auswahlband mit Gesprächen, literarischen und filmkritischen Texten Buñuels, in dem alle Obsessionen des Meisters: Anarchismus, Atheismus, Surrealismus, sein Hang zu Schusswaffen und unbeugsame Glaube an die Magie des Zufalls ausführlich zur Sprache kommen.
Man kann sich vorstellen, wie das surrealistische Coming out eines Mannes beschaffen ist, der noch eigenem Bekunden das Glück hatte, seine Kindheit im Mittelalter zu verbringen. Und das hieß im stockkatholischen Spanien: Messen, Rosenkränze, Beichten, Bußen die liebe lange Kindheit über. Aber auch: masturbieren unter den gütigen Augen der Gottesmutter. Dann erste Zweifel an der Existenz der Hölle als einer Art Gulag für Onanisten. Mit siebzehn - schließlich hatte man bei den Jesuiten das Denken gelernt - war Buñuel Atheist. Aber was heißt das schon. Mit siebzig, nachdem er ein gutes Dutzend gotteslästerlicher Filme gedreht hat, wird er schweißgebadet aus einem Erotik-Clip mit der Jungfrau Maria aufwachen und das Credo stammeln:
"Ja, ja, heilige Mutter Maria, ich glaube. Mein Herz schlug sehr stark. Ich fühlte mich einfach ergriffen, im Herzen angerührt, von Sinnen."
Wenn dieser "Atheist von Gottes Gnaden" sich nun den dichterischen Traumdiktaten überläßt, fallen Karneval und Jüngstes Gericht auf einen Tag. Da scheucht er "Hunderte halbnackter Priester' und "Scharen vertrockneter Novizinnen' von ihren Nistplätzen im Unterbewußten auf, um sie durch die Assoziationsnachbarschaft beispielsweise von Hammelfleisch, "lockig reichhaltig handlich wie der Bauch der Frau für 150 Peseten"
aufs gemeinste zu kompromittieren, Dafür muß er dann Tantalusqualen der Begierde ausstehen: die unbekannte Geliebte zerfällt ihm unter seinen Küssen in einen Leichnam. Ein Mönch will seinen roten Hirtenhund auf ihn hetzen. Eine Dame rupft dem bereits Erhängten die Augen aus und wirft sie in eine Pfütze. Und nur die Jungfrau Maria spendet im weißen Frisierumhang' himmlischen Trost.
Wer sich auf die Freud'sche Couch legt, der träumt auch freudianisch. Was in den Bewußtseinstrichter an Freud hineingeflößt wird, das kommt beim automatischen Schreiben als Libido-Metapher wieder heraus. Die Surrealisten waren vor allem vom Frustrations/Aggressions-Modell der Psychoanalyse schwer beeindruckt. Buñuels sanguinisches Temperament schmiedet in seiner Lyrik dieselben explosiven Metaphern und Bildsequenzen nach der Logik des frustrierten Begehrens, wie wir sie aus seinen gleichzeitig und auf die gleiche somnambule Weise entstandenen beiden Erstlingsfilmen "Un chien andatou" und "L'age d'or" kennen. Zwei Seminaristen ziehen unter großen Mühen einen mit Eselskadavern beladenen Konzertflügel durch ein Zimmer, in dem ein Wahnsinniger sich über eine Frau hermacht. Der frustrierte Liebhaber in "L'age d'or" wirft Bischof, Giraffe und brennenden Weihnachtsbaum aus dem Fenster. Schon in den Gedichten fliegt so manches herum: eine tote Hand, eine perfide Uhr, menstruierende rote Rosen. Wenn mit diesen Bildern eine Geschichte erzählt wird, dann die Geschichte der unerfüllten, durch die Torturen der Moral behinderten Leidenschaft und all der sinnlosen Gewalttaten, die daraus entspringen.
Verbrechen aus Leidenschaft, der amour fou in seinen beiden Varianten des amourösen oder religiösen Wahns, das sind obsessiv wiederkehrende Themen und Motive in Buñuels Filmen, die schon hier in diesen frühen Texten angestimmt werden in teils lyrischen, teils sehr buriesken Metaphern. Diese Metaphern sind noch recht niedliche Embryos, verglichen mit der mächtigen magischen Bildweit des Filmgenies Buñuel. In den "Flecken der Giraffe", einem Text von 1932, finden wir wie in einem mittelalterlichen Emblemkästchen bereits einige seiner images choques inventarisiert:
"eine Menge Brotteig, bestens darin versteckte Rasierklingen, Nadeln, Faden, Hühner, die nach Würmern picken, ein paar lebendige Spinnen"
und, unverzichtbar:
"ein wunderschönes Foto vom Kopf Christus' mit der Dornenkrone, aber er lacht schallend."
Déjà-vu-Erlebnisse hat man immer wieder:
"Ich glaube, manchmal betrachten uns/ von vorne von hinten von der Seite/ ein paar vorwurfsvolle Hühneraugen/... Ich glaube ich muß sterben/ die Hände tief im Schlamm der Wege.
In seinem Film "Los Olvidodos" von 1950 läßt Buñuel die Kamera diesen Hühnerblick sprechen, nachdem die Jugendlichen den blinden Bettler verprügeit haben. Das vor Schreck geweitete Tierauge, der unergründliche Tierblick auf eine unergründliche Welt- solche Bilder gehören zu den magischsten, fast möchte man sagen, sakralen Momenten bei Buñuel.
Ein blasphemischer Schalk und graziöser Terrorismus, diese originelle spanische Mischung aus Erhabenem und Gemeinem, burleskem und sublimem Humor, die schon die deutschen Romantiker an Cervontes so bezauberte, bezaubert auch an Buñuel. Vor allem aber, daß er sich diesen scholarenhaften Übermut seiner frühen Texte und Kurzfilme bis ins hohe Alter bewahren konnte, daß er nichts von dem rebellischen Ethos des Surrealismus eingebüßt hat, das schon Don Quichote auszeichnete, als er den Ratschlag, er möge sich doch wahnsinnig stellen, um seiner Dulcinea zu imponieren, entschieden von sich weist:
"Die Kunst besteht darin, ohne alle Ursache unsinnig zu werden."
Diesem sozusagen ersten surrealistischen Manifest ist Buñuel stets treu geblieben. Wie kein zweiter in der Geschichte des Films beherrscht er mit seinem Eintritt in die " Bruderschaft des Hell-Dunkel' diese Kunst: einen Spielfilm, ein narratives Lügengebilde, mit einem hohen Grad an unmitte1barer Absurdität -also Wahrheit- auszustatten. Umso mehr verwundert es den Filmkritiker Buñuel, daß die meisten Regisseure an literarischen Gemeinplötzen und den "prosaischen Imperativen der Realität" festhalten:
"Das Mysterium, ein wesentlicher Bestandteil jedes Kunstwerks, fehlt allgemein in den Filmen. Autoren, Regisseure und Produzenten sind sehr darauf bedacht, unsere Ruhe nicht dadurch zu stören, daß sie das wunderbare Fenster der Leinwand zur befreienden Welt der Poesie aufstoßen."
In seinen Filmfeuilletons aus den zwanziger Jahren für die Madrider Gaceta literária expliziert Buñuel am Beispiel der Flimklassiker die eigene Poetik. Fritz Langs Film "Der Müde Tod" - sein Erweckungserlebnis als Regisseur- bewundert er wegen der mitreißenden "Sinfonie der Bewegungen'. An Carl Dreyers "Jungfrau von Orléans" beeindrucken ihn die Kargheit und Intensität der Bilder, an Buster Keaton der "monochorde Ausdruck" der uns "das Wesen des Dramas" sehen läßt.
Diese drei Merkmale: Gefühl für Rhytmus, Poetische Ökonomie und Lakonie gehören gerade auch zu den besonderen Qualitäten des Mannes, der eigentlich Schriftsteller hatte werden wollen und dann doch dies geworden ist:
der beste und berühmteste Filmemacher von ganz Aragon.