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"OCD Love" - Choreografie in Stuttgart
Geniales Eingangssolo vor fehlender Leichtigkeit

Am Theaterhaus Stuttgart bot die Tänzerin und Choreografin Sharon Eyal die Uraufführung ihres Stücks "OCD Love". Dabei geht es um Liebe, aber auch um obsessive zwanghafte Verhaltensstörungen: eine Synthese extremer Formalisierung auf der einen, eruptiven Sich-Gehenlassens auf der anderen Seite.

Von Christian Gampert |
    Rote Theaterstühle
    Sharon Eyal war jahrelang Haus-Choreografin bei der berühmten "Batsheva Dance Company". (picture-alliance / dpa-ZB / Patrick Pleul)
    Sharon Eyal war jahrelang Haus-Choreografin bei der berühmten "Batsheva Dance Company", und wäre Ohad Naharin, der Direktor, 2004 nicht doch noch aus Amerika zurückgekommen nach Tel Aviv, Sharon Eyal wäre seine Nachfolgerin geworden. So aber musste Eyal sich neue Wege suchen, eine eigene Gruppe gründen. Sie tat es ohne Groll; sie nutzt sogar - immer noch - "Gaga", die von Naharin erfundene Körperarbeit, eine Selbsterfahrungs-Bewegungs-Methode, die mit allen klassischen Programmen bricht.
    "Batsheva war wirklich eine erstaunliche Schule für mich. Auch die Gaga-Methode, dieses tägliche Training – ich liebe es. Und ich mache es immer noch, mit unserer ganzen Company. Batsheva war für mich eine große Inspiration, so wie die Liebe oder meine Kinder – ein starkes Element in meinem Leben."
    Das andere Element aber ist die Subkultur, die israelische Klubszene. Eyals Lebensgefährte Gai Behar, der mit ihr die neue Compagnie leitet, war bis vor einigen Jahren nämlich eine wichtige Figur des Tel Aviver Underground.
    "Ich habe Underground-Events veranstaltet, Raves, Parties, Kunstausstellungen. Ori Lichtig, unser Musiker, hat da oft gespielt. Und Sharon kam immer zum Tanzen und um Spaß zu haben."
    Eyals neues, einstündiges Stück, das jetzt in Stuttgart Premiere hatte, ist in vielerlei Hinsicht eine Synthese dieser beiden Einflüsse: extreme Formalisierung auf der einen, eruptives Sich-Gehenlassen auf der anderen Seite. Der Abend heißt "OCD Love" und basiert auf einem Gedicht des amerikanischen Slam-Poeten Neil Hilborn, der an einer Zwangserkrankung leidet: OCD, "Obsessive-compulsive Disorder". Und das heißt: Auch die Choreografie arbeitet mit diesen zwanghaften, stakkatohaften Wiederholungen. Sie ist weitgehend frei von den tranceartigen Bewegungsmustern, die Eyal sonst gern nutzt (sie inszeniert sich bisweilen ja auch als sexualisierte, solistische Lederlady "in Black"). Aber sie kommt immer wieder auf das Gewalttätige zurück, das Sich-Wehren, das untergründig ja auch in der israelischen Gesellschaft steckt, das aber hier auf eine Beziehungs-Ebene übersetzt wird: es geht in diesen Szenen um die Sehnsucht nach Geborgenheit und die immer wieder misslingende Nähe.
    Tänzerische Formeln der Flucht, des Insektenhaften
    Das Eingangs-Solo ist genial: Zeitlupenhaft dehnt sich die Tänzerin in vogelartige Positionen, als wolle sie fliegen. Das hat nur bedingt mit dem "Feuervogel" zu tun, eher mit einem Ausbruch aus der Depression. Die Tänzer sind schrecklich unerotisch gekleidet, furchtbare schwarze Badeanzüge und Kniestrümpfe die Frauen, die Männer mit seltsamsten Hosen und meist mit freiem Oberkörper, damit das narzisstische Spiel der Rippenbögen und Bauchmuskeln hinreichend zur Geltung komme. Pure Konzentration auf den Körper. Die Metapher des Fliegens wird immer wieder vorkommen, auch die tänzerischen Formeln der Flucht, des Insektenhaften, des Schreis tauchen leitmotivisch auf. Das alles wird in stupender Technik getanzt, und man sieht als Vorbilder Hans van Manen (Eyal hat in Holland gearbeitet) und natürlich Ohad Naharin.
    Sexuell aufgeladene, explosive Duette der Männer
    Allerdings fällt dann doch auf, dass Eyal die Leichtigkeit fehlt, mit der Naharin den Duktus wechselt oder neue Motive einführt: Bei ihr ist alles aus einem Kern entwickelt. Und das heißt: Solo, Duo, Trio, Gruppenbild und Ringelpiez, alles in vorhersehbarer Dramaturgie. Auch das Politische, die Mauer, die Verachtung, das soziale Gefälle, das Naharin uns immer wieder auf's Auge drückt, ist Eyals Sache nicht. Die sexuell aufgeladenen, explosiven Duette der Männer sind an diesem Abend großartig, und manchmal glaubt man, man habe sich in den Berghain oder die Tel Aviver Szene verirrt. Aber dann obsiegen gleich wieder kitschige Vergeblichkeits- und Unerreichbarkeits-Gesten, und die grauenvollen Beats des Musikers Ori Lichtig machen den Abend weitgehend zur Plage. Lichtig setzt auf breite, sirupartige Klangwogen, dann lässt er Metronome tackern, und dann schlägt er uns mit seinem Techno- Gewummer halb tot. Das ist für den gutwilligen Teil des Publikums offenbar beeindruckend, und die Aufführung wurde frenetisch gefeiert. Allerdings bleibt bei distanzierter Betrachtung dann doch ein schales Gefühl: schon wieder so ein Parforceritt aus Tel Aviv. Der Israeli Hofesh Shechter, jetzt London, ist auf der Brutalismus-Schiene weitaus effektiver. Sharon Eyal sollte gucken, wo ihre ureigensten Stärken sind.