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Oden an das Reisen

Iwan Bunin, der russische Schriftsteller, der lange Zeit fast vergessen war, wird seit einigen Jahren in Deutschland wiederentdeckt. Interessanterweise weniger mit seiner bedeutenden künstlerischen Prosa, für die er 1933 als erster Russe den Literaturnobelpreis bekam, sondern vor allem mit bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten Texten ganz anderer literarischer Genres: Seine fragmentarischen Erinnerungen an den nahen Freund Anton Tschechow, Vorarbeiten zu einer geplanten Biographie, erwiesen sich als unersetzlicher, einzigartiger Zugang zu Tschechows Persönlichkeit und Kunst. Und sein Revolutionstagebuch "Verfluchte Tage" von 1918 -1919, als ihm die Flucht von Odessa übers Schwarze Meer aus dem im Chaos versinkenden Sowjetrussland gelang, zeigen Bunin als hochsensiblen, hellsichtigen Beobachter, der gerade mit seiner bewusst unpolitischen Grundhaltung sogleich das entsetzliche Unglück, das die Oktoberrevolution für Russland bedeutete, erkannt hatte.

Von Karla Hielscher | 22.01.2009
    Nun hat der Züricher Dörlemann Verlag in deutscher Erstübersetzung - wie immer sorgfältig übersetzt, ediert und kenntnisreich kommentiert - eine Auswahl von Bunins literarischen Reisebildern vorgelegt, die ihn als ganz großen Stilisten zeigen und von denen die besten ins Zentrum seiner Sprachkunst und seines poetischen Denkens führen. Mehrfach zitiert er den persischen Dichter Saadi aus dem 13. Jahrhundert:

    "Wie wunderschön ist ein Leben, das darauf verwendet wird, die Schönheit der Welt zu schauen ..."

    Der aus dem verarmten Adel stammende und in einem winzigen mittelrussischen Einöd-Weiler aufgewachsene Bunin ist sein Leben lang auf Reisen gegangen: schon als Gymnasiast hat er Südrussland, das Gebiet der Kosaken am Don durchwandert und den Dnjepr mit seinen reißenden Stromschnellen auf einer holzbeladenen Ruder-Barke befahren. 1907 -1910 - nach den ersten größeren Erfolgen als Schriftsteller - folgen dann seine ausgiebigen Fernreisen in den Nahen Osten, über Konstantinopel, Athen nach Ägypten, Syrien, Palästina, wo er im heiligen Land den Spuren der Bibel wie des Korans folgt, oder über Ägypten und den Suezkanal bis nach Ceylon.

    Bunin selbst hat die "Prosapoeme" über seine Weltreisen, wie er diese Texte nannte, zu seinen gelungensten Büchern gezählt. Und er hat recht damit.

    Es gibt kaum eine Prosa von vergleichbarer Intensität und Sinnlichkeit der Geräusche, Gerüche und Farben. Etwa bei der Beschreibung des Hafens von Istanbul.

    "Ringsum heulen die Schornsteine der auslaufenden Dampfer, rufen schaufelradbetriebene Paketboote in Terzen, die hölzerne Sultan-Valide-Brücke über dem Goldenen Horn dröhnt vom Getrappel der Hufe, Peitschen knallen, und das Geschrei der Wasserträger erschallt in der brodelnden Menge auf der Galata-Uferstraße ... Von dort, aus den Warenlagern, duftet es betörend nach Vanille und nach Bastmatten voller Kolonialwaren; von den Dampfern her riecht es nach Teer, nach Kokosnüssen und nach den Getreidekörnern, die in die Laderäume rieseln, vom Wasser her, aufgewühlt durch die Schiffsschrauben und Ruder, riecht es frisch wie von Gurken... Die Sonne versinkt unterdessen hinter Stambul - und in purpurrotem Glanz erglühen die Fensterscheiben von Skutari, in düsterem Rot leuchtet der Zypressenwald auf dem Großen Friedhof, in lila Tönen changiert die blaugraue, rauchige Luft über der Reede, und in den grünschimmernden Himmel erheben sich die melancholischen, langsam an- und abschwellenden Stimmen der Muezzine."

    Für Bunin sind dies immer Reisen in die mythische Vergangenheit der Menschheit, ihre Kultur und Religion, und er spürt an den archaischen Stätten eine "geheimnisvolle Verwandtschaft mit den Gedanken und Taten" der Vorfahren. In der Weite der südrussischen Steppen denkt er an die im "Igorlied" besungenen Schlachten gegen die Steppenvölker; beim Anblick der "göttlichen Vollkommenheit" der Akropolis fühlt er mit seinem ganzen Wesen die Wunder der antiken Welt, im neuen europäischen Kairo sieht er das sarazenisch-mohammedanische und denkt sich zurück ins Königreich der Pharaonen mit seinen steinernen Reliquien; bei seinen Streifzügen zu Pferde durch die Wüsten und heiligen Orte des biblischen Lands lässt er sich hinab in die Tiefe der Zeiten, durchlebt die Geschichten des Alten Testaments und lässt das Bild Jesu "barhäuptig und weiß gekleidet" lebendig werden.

    Es entstehen sehr emotionale, kultur- und geschichtsgesättigte Eindrücke von Orten und Landschaften, in denen er immer auch die Spuren der Vergangenheit erkennt, die für ihn "das Geheimnis des Lebens" birgt. Deshalb sind dies nicht einfach wunderbar genau beobachtete Skizzen exotischen Lebens, sondern auch Schlüsseltexte für Bunins Weltsicht.

    "Mein Leben ist bebende und freudige Teilnahme am Ewigen und Zeitlichen, am Nahen und Fernen, an allen Jahrhunderten und Ländern, am Leben all dessen, was auf dieser Erde, die ich so liebe, existiert hat und existiert. Gott gib mir mehr Zeit."

    Immer aber ist diese Intensität des Lebens und Fühlens durchtränkt von einer tiefen Trauer, dem ständigen Bewusstsein der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz, vom Gedanken an den Tod:

    "Wie soll ich diese erschütternde Grausamkeit, diese Absurdität erfassen? Keine einzige Seele, wie immer es auch scheinen mag, glaubt im Innersten daran. Woher aber rührt dann der Schmerz, der uns das ganze Leben lang unablässig verfolgt, der Schmerz um jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick, die unwiederbringlich vergehen?"

    Bunins Reisebilder machen neugierig auf sein vielfältiges literarisches Werk. Da gibt es noch sehr viel zu entdecken!

    Iwan Bunin: Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder 1987-1924.
    Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Grob. Zürich (Dörlemann) 2008, 413 Seiten.