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Öffentlicher Prozess in Moskau

Der Name des russischen Oligarchen Michail Chodorkowski steht für den russischen Raubtierkapitalismus der 90er-Jahre. Doch welcher Vergehen auch immer Chodorkowski in seinem zweiten Prozess für schuldig befunden wird, die Willkür der russischen Justiz verhindert eine saubere juristische Aufklärung. Das Gericht werde vom Kreml gelenkt, sagen viele Beobachter.

Von Barbara Lehmann | 03.03.2009
    "Wenn der Staat jemanden ins Gefängnis bringen will, tut er das, wie im Fall von Chodorkowski. Ein Richter kann noch so ehrlich sein - er ist ein Teil dieses Systems. Er muss vor diesem System Rechenschaft ablegen. Wer nicht nach diesen Regeln tanzt, wird zur Zielscheibe. In Russland wurden ab Anfang der 90er-Jahre mehr als 200 Journalisten getötet. Doch kein einziger Auftraggeber musste auf der Anklagebank sitzen. Diese Täter genießen absolute Straffreiheit."
    Für Sergej Sokolow, den stellvertretenden Chefredakteur der "Nowaja Gazeta", steht fest: An der russischen Berichterstattung über das neue Gerichtsverfahren gegen Michail Chodorkowski wird sich auch der Zustand der russischen Presse zeigen. Sensationell ist, dass der Prozess öffentlich stattfindet. Und geradezu fantastisch mutet an, dass sogar ein spezieller Raum mit Bildschirmen reserviert wurde, in dem die Journalisten das Geschehen im Gerichtssaal verfolgen können - für den Fall, dass der Platz nicht ausreicht. Fünfzig verschiedene Medien sind bereits registriert worden. Doch interessieren sich die Menschen überhaupt für Michail Chodorkowskis Schicksal? Dazu Oleg Panfilow vom Moskauer Zentrum für extremen Journalismus:

    "Bislang hat dieser Gerichtsprozess hat die Menschen wenig beschäftigt. Denn im russischen Fernsehen sind viele Traditionen der sowjetischen Propaganda wieder belebt worden. Man sagt den Menschen nicht, was wirklich passiert. Sondern beruhigt sie: Alles ist gut, es gibt keine Schwierigkeiten. Und den Leuten wird beigebracht, so zu denken, wie es die offizielle Propaganda will."
    Vom ersten Prozess, der 2005 endete, war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Chodorkowski wurde wegen Betrugs und Steuerhinterziehung verurteilt. Ob er wirklich schuldig ist, bleibt fraglich. Sicher ist nur, dass er wie andere Oligarchen im gesetzlosen Raum der 90er-Jahre alle Möglichkeiten zur Steuereinsparung nutzte. Die russischen TV-Kanäle stellten ihn damals allerdings einhellig an den Pranger. Oleg Panfilow über seine einstigen Pressekollegen:

    "Die Menschen sind verunsichert. Die Journalisten, die noch vor einigen Jahren ehrlich waren, sind jetzt im staatlichen Fernsehen oder in den staatlichen Zeitungen und machen Propaganda. Der russische Journalismus wird zum sowjetischen Journalismus der 60er- und 70er-Jahre. Die Information ist reglementiert, es gibt Tabu-Themen, die innere Zensur wächst."
    Dennoch gibt es Hoffnung: Die Zahl der Besucher oppositioneller Internet- Seiten und Käufer unabhängiger kritischer Zeitungen steigt stetig. Zwar gibt es für die staatlich gelenkten Medien keine Meinungsfreiheit. Doch jeder Russe hat die Freiheit, Informationen von allen Seiten zu erhalten - auch im Fall Chodorkowskis.

    Doch welches Ziel verfolgt der Kreml damit, den Prozess öffentlich zu machen? Darüber herrscht unter Moskauer Prozessbeobachtern Uneinigkeit: Skeptiker sagen, man wolle die Aufmerksamkeit von der Wirtschaftskrise ablenken. Im Feindbild des einstigen Oligarchen könne man die Ressentiments der Russen gegenüber den Reichen schüren. Andererseits, das beweist eine aktuelle Meinungsumfrage, halten 33 Prozent der Russen Chodorkowski für einen fähigen Wirtschaftsmanager. Wäre ein freigesprochener Chodorkowski nicht vielleicht sogar ein Retter aus der ökonomischen Krise? Und: Wird der weitere Verlauf des Prozess nicht auch zeigen, welche politische Strömung in Russland siegen könnte? Der Militärjournalist Grigori Pasko, der wegen vorgeblichen "Landesverrats" einst selbst eine Haftstrafe verbüßte, wagt in diesem Zusammenhang nur eine allgemeine Prognose:

    "Das 20. Jahrhundert hat in der ganzen Welt den Totalitarismus besiegt - auch mithilfe der Schriftsteller und Journalisten. Doch heute kehrt in Russland der Totalitarismus zurück. Die Machthaber heute haben sogar die Verfassung geändert. Doch eine Entwicklung ist nur möglich, wenn es konkurrierende Ideologien gibt, eine Opposition und unabhängige Gerichte. In zehn oder 20 Jahren wird man erkennen, dass das jetzige Regime unter Putin und Medwedew Russland keinen Erfolg gebracht hat."