Archiv


Ohrenschutz im Orchestergraben

Gustav Mahlers Erste, Wagners "Siegfried" oder der "Tannhäuser" können in Zukunft nur noch leise gespielt werden: Die neue EU-Lärmschutzverordnung erstreckt sich auch auf den Orchestergraben und soll Musiker vor den Schallwellen ihrer Instrumente schützen. Um dem Gesetz gerecht zu werden, bewaffnen sich Musiktheater mit Ohrenstöpseln und Schallschutzwänden.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Aus Lärmschutzperspektive besteht zwischen einem Orchester und einem Sägewerk kein großer Unterschied. Beide erzeugen Schallwellen, die das Gehör schädigen können. Aber beim Sägewerk ist der Krach nur ein unliebsames Nebenprodukt, das man mit technischen Maßnahmen reduzieren kann. Bei der Musik geht das nicht. Und doch betrifft die neue "Verordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Gefährdungen durch Lärm und Vibration" auch die deutschen Orchester.

    "Es ist wirklich ein Problem für die ganzen Opernhäuser. Wenn man im Operngraben sitzt und Wagner-Opern spielt, dann ist es einfach sehr oft, dass diese Werte überschritten werden. Und das bedeutet natürlich wahnsinnige Umbaumaßnahmen für die Opern. Gerade die kleineren Theater, die jetzt finanzielle Probleme haben, können nicht einfach für ein 100-Mann-Orchester schnell jeweils 300 Euro ausgeben für Gehörschutz, plus den Operngraben umbauen, plus Plexiglas anfertigen - und insofern ist es schon ein heikles Thema."

    Christoph Stahl, Orchestermanager beim WDR, hat schon jede Menge Ohrstöpsel bestellt, die von den Musikern auch brav getragen werden. Meist. Denn es gibt auch Vorbehalte gegen die staatlich verordneten Schutzmaßnahmen.

    "Es ist auch psychologisch eine schwierige Sache: Wenn ich zum Beispiel spiele und neben mir der hält sich die Ohren zu, muss ich mit mir kämpfen, nicht beleidigt zu sein, und andererseits muss natürlich jeder sich schützen und dann werden die kriminalisiert, die sagen, mir ist es zu laut. Es ist auch so eine Gratwanderung zwischen, bei jedem Fieps zu sagen: ’Jetzt spiel mal leiser’, und zu respektieren, dass man auch in einem Symphonieorchester spielt, wo es ja auch laut wird. Also das ist schon manchmal eine schwierige Situation."

    Christiane Menke, Pikkoloflötistin beim Kölner Gürzenich-Orchester, muss sich erst allmählich daran gewöhnen, dass sie nach den in Brüssel beschlossenen arbeitsrechtlichen Kriterien eine Lärmbelastung darstellt. Selbst ihre Kollegin, die Geigerin Elisabeth Polyzoides, attestiert es ihr:

    "Wir sind ja gute Freundinnen, aber wenn ich vorm Piccolo sitz - und ich schätz die Christiane unglaublich - dann ist das wirklich manchmal jenseits der Grenze, der Belastbarkeitsgrenze. Es gibt so Plexiglasschilder, die hinterm Stuhl stehen - das nimmt ein bisschen. Also ich hab auch ein großes Problem mit dem direkten Gehörschutz. Man muss sich selbst einfach so gut hören wie möglich, weil es im Orchester sowieso schwer ist, sich persönlich rauszuhören und noch im Gruppenklang drin zu sein. Und deshalb ist es recht schwierig, mit Ohrstöpseln zu spielen."

    Bleibt noch die Möglichkeit, generell leiser zu spielen oder überhaupt nur leise Werke ins Programm zu nehmen: keine Bruckner-Symphonien, nichts von Wagner und schon gar nicht die modernen Stücke mit elektronischer Musik. Der deutsche Bühnenverein hat vor solchen Auswüchsen des Lärmschutzes schon vehement gewarnt, und auch Christoph Stahl sieht hier ein gewisses Problempotenzial:

    "Ich finde, es ist ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen. Man kann ja die Musik nicht einfach leiser spielen. Wenn fortissimo steht, dann kann nicht der Dirigent einfach sagen: Wir spielen jetzt nur forte oder wir spielen mezzoforte. Wenn es dann dazu führt, dass gewisse Werke nicht mehr gespielt werden können, weil da eine gewisse Dezibelzahl überschritten wird, dann finde ich das natürlich verheerend. Von der Grundrichtung her finde ich es sehr richtig, dass man ein Bewusstsein geschaffen hat und das jetzt zumindest deutschlandweit bei allen Orchester und Theatern vorhanden ist."

    Da der Mensch im Gegensatz zum Schnabeltier seine Ohren nicht auf natürliche Weise verschließen kann, ist er den akustischen Ereignissen in seiner Umgebung wehrlos ausgeliefert. Jeder Knall erschreckt uns, jeder Glockenschlag weckt uns, doch neben diesen uralten Geräuschen bilden tausend neue Lärmarten die heutige Kulisse. Die Welt ist im Zeitalter der Motoren und Lautsprecher insgesamt lauter geworden; deshalb ist Lärmschutz nicht nur eine Frage der gestiegenen Sensibilität, er ist eine objektive Notwendigkeit - gerade auch für Musiker, wie Patrick Kurtz von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin erklärt:

    "Gehörschäden zerstören den Sensor im Innenohr, da hilft auch kein Hörgerät mehr, das heißt, Sie sind dann nicht mehr in der Lage zu spielen. Und ich glaube, wenn man den Betroffenen das klar macht, dann ist die Sensibilität eine ganz andere. Und glauben Sie mir, wenn Sie mit betroffenen Musikern sprechen, die nicht ihrem Beruf nachgehen können, die leiden so extrem darunter. Das ist was völlig anderes, wenn Sie jemanden aus einer Schmiede ziehen oder einer Gießerei und in einen anderen Arbeitsbereich schicken, das ist bei Musikern in dem Fall so nicht möglich. Und ich glaube, die meisten Musiker sind sich dessen auch sehr bewusst."

    Dennoch werden die neuen Vorschriften nicht von jedermann in der Musikbranche begrüßt. Es handelt sich nämlich um eine weitere Reglementierung, die zwar wie stets den Betroffenen zum Wohle gereichen soll, sie aber zugleich bevormundet. Christoph Stahl:

    "Diese Richtlinie ist ja so ausgelegt, dass man eine bestimmte Dezibelanzahl über eine bestimmte Zeit nicht überschreiten darf. Das führt natürlich auch dazu, dass Theater sagen können: Du hast jetzt viereinhalb Stunden gespielt - Dienst im Graben. Du darfst jetzt nicht zuhause einer Nebenbeschäftigung als Trompetenlehrer nachgehen, sondern du musst dein Gehör schonen."

    Soweit kommt es noch, dass Orchesterchefs ihren Musikern verbieten, zuhause zu üben, weil das erlaubte Schallwellenkontingent erschöpft ist. Aber auch andersherum lässt sich die neue Rechtslage instrumentalisieren: So können Musiker mit Hinweis auf verbotene Lautstärke künftig unliebsame Projekte zu Fall bringen. Vor allem machen die akustischen Arbeitsschutzbestimmungen künftig eine Menge Mehrarbeit, denn in jedem Orchester muss die Lärmbelastung minutiös und langfristig gemessen, dokumentiert und archiviert werden. Richtig froh sind über die Verordnung nur die Firmen, die Ohrenstöpsel herstellen, das Paar zu 300 Euro.