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Onkel Fiete, ein Baumhaus und Moby Dick

Jutta Richter beschreibt rührend die Annäherung zwischen einem alten Mann und seinen zwei Neffen. Er, der an Alzheimer leidet und in der Welt des Moby Dick lebt; Ole und Katharina, die glauben, die langweiligsten Ferien der Welt vor sich zu haben - und auf ergreifende Weise eines Besseren belehrt werden.

Von Ursula Nowak |
    Normalerweise verbringen Ole und Katharina ihre Ferien zuhause in der Stadt. Jeden Morgen geht die Mutter aus dem Haus, um zu arbeiten. Ole und Katharina vermeiden das Frischluftprogramm und hängen lieber ganze Tage in den Computerabteilungen der Kaufhäuser ab.

    "Wir kannten alle Computerabteilungen der Kaufhäuser, wir kannten die neuesten Spiele und wir waren immer die ersten am Joystick. Das waren unsere Ferien und wir wussten, es gab nichts Besseres als Ferien in der Computerabteilung. Wir kannten alle Tricks, wir wussten, wann wir abtauchen mussten, wir wussten, wo man am längsten spielen konnte, ohne rauszufliegen. Wenn Mama uns abends fragte, ob wir uns gelangweilt hätten, grinsten wir und schüttelten die Köpfe."

    Doch in diesem Jahr kommt alles anders. Katharina und Ole werden zu Verwandten nach Norddeutschland aufs Land geschickt. Die Kinder fürchten den langweiligsten Sommer ihres Lebens und die vagen Aussagen der Mutter bekräftigen das ungute Gefühl. Die Kinder müssen zu Tante Polly und Onkel Fiete nach Betenbüttel. Die alte Tante freut sich über eine Abwechslung, aber ihrem Mann graut vor der Unruhe durch die Kinder.

    "Du wirst sie gar nicht sehen. Sie werden den ganzen Tag draußen spielen!"
    "Und alles kaputtmachen! Durch die Beete trampeln, den Hund quälen. Die Katze ärgern, die Hühner scheuchen! Denk an meine Worte, Polly!'"


    Jutta Richters neuer Roman "Das Schiff im Baum - ein Sommerabenteuer" wird aus der Perspektive der älteren Schwester Katharina erzählt. Sie fühlt sich verantwortlich für den jüngeren Bruder Ole. Sobald seine Unterlippe zuckt, ein sicheres Zeichen für baldiges Losweinen, versucht sie ihn abzulenken. Zuhause stehen DVD-Player oder Internet zur Verfügung, aber in Betenbüttel gibt es nicht die gewohnte Ablenkung. Hier streifen die beiden Kinder zunächst ziellos durch den Garten.

    Mit viel Liebe zum Detail schildert Jutta Richter das Landleben, das Summen der Bienen um ein Marmeladenglas oder das leise Flirren der Hitze in der Mittagszeit. Und dann gibt es noch den Hund namens Freitag, die Katze Huckleberry, Hühner und einen Werkzeugschuppen mit Holz. Man spürt, dass hier in den letzten dreißig Jahren nicht mehr viel passiert ist. Haus und Garten verkörpern das Leben von Tante Polly und Onkel Fiete. "Es gibt hier nichts" nörgelt Ole. Aber genau das ist in dieser Geschichte die große Chance für die Kinder.

    "Wenn man nichts hat, dann muss man sich was bauen. Und wenn man sich was gebaut hat, dann hat man ein wahnsinniges Erfolgserlebnis. Und das ist was ganz anderes, als wenn man mit vorgefertigten Dingen umgehen muss oder kann. Ja, das gibt Selbstbewusstsein, das macht stolz, das ist einfach wunderbar. Und dafür ist Langeweile und gähnende Leere notwendig."

    Das Buch ist frei von aufdringlicher Pädagogik, denn Jutta Richter erzählt mit viel Leichtigkeit. So entwickelt Ole in der endlos wirkenden Zeit eines langen Tages eine Idee durch einen vorausdeutenden Traum. Oles größter Wunsch ist schon seit Langem ein Baumhaus, denn das ist ein richtig guter Geheimplatz. Zuhause hat er bereits am Computer Baupläne gegoogelt. In der ersten Nacht in Betenbüttel träumt Ole von einem Baumschiff und schon wird aus dem anfangs nörgelnden Jungen ein Energiebündel. Katharina kann ihren Bruder kaum noch bremsen.

    Tante Polly und Onkel Fiete unterstützen die Kinder auf ihre Weise. Mal gibt es einen Proviantkorb für das Baumhaus, ein anderes Mal gesellt sich der Onkel zu den Kindern und erzählt ihnen Seefahrergeschichten. Mit den Geschichten gelingt es Jutta Richter, den alten Onkel und die beiden Kinder zu Verbündeten zu machen. Liebevoll schildert Jutta Richter die Annäherung zwischen den Kindern und den alten Leuten. Tante Polly schafft Nestwärme, sie ist die gute Seele der Küche. Und der mürrische Onkel beginnt, sich für die Kinder zu interessieren.

    "Der alte Onkel Fiete erzählt. Er kann wunderbare Geschichten erzählen. Er erzählt von Queequeg und von Moby Dick und vom Käpt'n Ahab und von Menschenfressern. Das ist natürlich für die Kinder was wahnsinnig Spannendes. Und auf der anderen Seite, dieser Onkel Fiete braucht ein Publikum für seine Geschichten. Denn Tante Polly kennt die natürlich alle. Tante Polly fürchtet sich auch vor diesen Geschichten, weil das so Parallelwelten sind, in denen der Onkel Fiete sich ab und zu aufhält und das macht ihr Angst. Also sie ist kein Publikum. Aber die Kinder sind natürlich Publikum. Und das findet er natürlich großartig, dass er nun endlich jemanden hat, der ihm zuhört. Und der Freude daran hat, ihm zuzuhören."

    Onkel Fiete liebt die Figuren aus Herman Melvilles Roman "Moby Dick". An manchen Tagen lebt er voll und ganz in der Welt der Seefahrer. Mit gutem Grund – er leidet unter der Alzheimerschen Krankheit. Einmal läuft er schreiend vor den Kindern davon, weil er glaubt, ein Monster stehe vor ihm und ein anderes Mal fragt er seine Frau, wer die fremden Kinder seien. Das Kurzzeitgedächtnis des Alten hat Löcher, so erklärt es Tante Polly unter Tränen. Mit solch poetischen Wendungen erzählt Jutta Richter wie sich die Kinder und der Onkel annähern. Ole und Katharina können den Onkel annehmen, denn er ist ein Erwachsener, und sie finden Erwachsene ohnehin oft seltsam. Die Kinder lieben seine Geschichten auch dann, wenn sie einen Schwindel wittern.

    "Menschenfresser!" sagte Ole und spuckte einen Kirschkern aus. ,Hätte ich sowieso nicht geglaubt! Gibt es gar nicht, Menschenfresser!"
    "Woher willst du das wissen?"
    "Weiß ich eben!"
    "Und was ist mit Alduin dem Weltenfresser?"
    "Man, das ist doch nur ein Spiel!"
    Wir hatten das Spiel Stunde um Stunde in der Computerabteilung gespielt.


    Als der Boden des Baumschiffs fertig ist, haben Ole und Katharina denselben Gedanken: Das hier sind wirklich die besten Ferien der Welt! Unter ihnen rauscht das Wiesenmeer und über ihnen das Wolkenmeer. In den Wolkenformationen glauben die Kinder, Käpt'n Ahab und den Wal Moby Dick zu erkennen. Jutta Richter verwebt die neu erwachte Fantasie der Kinder gekonnt mit den Geschichten des Alten und entführt den Leser in ein zeitloses Land der Kindheit. Am Ende sitzen die Kinder wunschlos glücklich in ihrem Baumschiff, vergessen sind die Vorurteile, vergessen ist das Heimweh.

    "... ich glaube, dass Vorurteile so entstehen, wenn man etwas Unbekanntes vor der Brust hat und nicht genau weiß, wie wird das sein. Dann bekommt man Angst und lehnt es erst mal ab. Und ich glaube, das passiert mit den Kindern ... Und es passiert auch bei diesem Onkel Fiete, der nun ein uralter Mann ist, der seine Furchen abschreiten will, der seine Ruhe haben will, der seine Regelmäßigkeiten dringend braucht und der Angst hat vor dem Unbekannten."

    Jutta Richter beschreibt in ihrem Buch "Das Schiff im Baum - ein Sommerabenteuer" auf ergreifende Weise die Annäherung zwischen einem alten Mann und zwei Kindern. Entscheidend ist in dieser Geschichte, dass unterschiedliche Charaktere sich auf Unbekanntes einlassen. Am Ende gewinnen beide Seiten: der alte Onkel schöpft Lebenskraft und die Kinder lernen wie gut es sich anfühlt, wenn man Ideen in die Tat umsetzt und sich mit eigener Kraft etwas baut. Diese Erfahrung vermittelt Jutta Richter mit viel Poesie und Leichtigkeit. Das ist große Erzählkunst.

    Jutta Richter: "Das Schiff im Baum - Ein Sommerabenteuer". Hanser Verlag. Preis: 12,90 Euro. ISBN 978-3-446-24018-6. Empfohlen ab 8 Jahren.