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"Onkel Wanja"

Kurz vor Ende seiner Intendanz streckt Christoph Marthaler dem Publikum schon mal die Hand zur Versöhnung hin: Er lässt Werner Düggelin einen Tschechow machen. Will sagen: Nach all dem videotischen Textflächengesurfe viertelgenialer Jungregisseure soll fürderhin auch das ganz traditionelle Theater in Zürich wieder möglich sein.

Von Christian Gampert |
    Denn Düggelin, le "Duc", der in der heißen 68-Phase mal in Basel Schauspieldirektor war, steht für die seriöse Kunst psychologisch genauer Menschenbeobachtung. Darin ist er Meister, darin ähnelt er dem verstorbenen Rudolf Noelte - freilich hat er nicht dessen kalten Blick, sondern er entwickelt eher jene Komik des Unglücks, die man bei Ibsen, Strindberg und vor allem eben bei Tschechow finden kann.

    "Onkel Wanja" ist ein Stück über den Stillstand, über die Provinz, über eine Endzeitgesellschaft - aber es ist auch ein Stück über das Alter. Genau das hat den jetzt 75-jährigen Düggelin offenbar interessiert: Ein emeritierter alter Professor kommt mit seiner jungen Frau auf sein Landgut - mit absehbaren Folgen: Alle jüngeren Provinzgeister sind verliebt in die schöne Jelena, allerdings ohne wirklich etwas zu wagen. Stattdessen beschwören sie bei Düggelin ständig ihr Alter - und dass sowieso schon alles zu spät sei.

    Das einzig Russische auf der Bühne von Raimund Bauer ist ein kleiner Samowar, der verschämt in der Ecke steht. Ansonsten begrenzen sehr heutige Hitchcock-Sonnenblenden den ziemlich leeren bürgerlichen Salon des 19.Jahrhunderts. Wie Düggelin nun die Figuren von innen heraus erzählt und zum Teil gegen gängige Sichtweisen umkrempelt, das ist große Kunst.

    Wanja, der für den Professor das Gut verwaltet und sich von diesem ausgebeutet fühlt, ist normalerweise der Unglücksrabe schlechthin, der Lebensunfähige, Zaudernde. Bei André Jung bekommt die Figur etwas unerwartet Stabiles. Da ist einfach einer auf der Strecke geblieben, weil er sich nicht rechtzeitig einen Ruck gegeben, um eine Frau angehalten, eine Entscheidung getroffen hat. Jetzt sitzt er in der Provinz, säuft ein bisschen, arbeitet viel, wird verschroben und hadert mit sich selbst. Wie er sich nun verschämt an die junge Professoren-Gattin heranpirscht, das ist eine Studie über das Losertum schlechthin, über das Beinahe-Küssen: "Ich liebe Sie, aber ich verlange ja nichts von Ihnen" - wer so anfängt, der hat schon verloren. Aber das scheint eine gängige Psychostruktur zu sein - immer auf der sicheren Seite bleiben.

    Wanjas erotischer Konkurrent, der Arzt Astrow, der Ökofreak und Waldgeist, der die Natur schützen möchte (und vor allem auch sich selbst!), ist mit Max Hopp ein bisschen sehr jung besetzt. Der redet zwar ausschweifend über das Waldsterben, kriegt dann mit der Professorengattin Jelena aber doch einen Anflug von Sex hin - gerade als Wanja mit seinem Rosenstrauß auftaucht, um ihr einen Antrag zu machen.

    Die Rosen liegen dann den Rest des Stücks unter einem Stuhl. Das Unglück ist also stets präsent, das Leben und selbst der Tod finden stets in der Möglichkeitsform statt - als Wanja den verhassten Professor erschießen will, schießt er daneben. Düggelin konzediert der Figur da eine schöne Selbstironie: "Ich könnte dich töten", ich möchte dich töten, aber selbst das schaff ich nicht.

    Im Zentrum aber steht die Jelena der Sylvana Krappatsch, eine intelligente Oberschicht-Zicke, die ihren angejahrten Gatten durchaus schätzt, aber gern mit jungen Männern tändelt - und die deren mangelnden Wagemut gnadenlos bloßlegt. Wie sie dasitzt und herausfordernd mit dem Fuß wippt, wie sie die anderen diagnostiziert und selbst in ihrer aussichtslosen Ehe gefangen ist - das ist, in ihren Brüchen, eine feine Charakterstudie.

    Joachim Bissmeier, und das ist die größte Überraschung des Abends, macht aus dem Professor, der gemeinhin als hypochondrisches Scheusal gesehen wird, als Egoist und Aufschneider, einen etwas weltfremden Gelehrten, der mit den Dingen des Alltags nicht zurechtkommt. Aber während die anderen nur reden, hat er ein Werk geschrieben.

    Sich in einem Werk verwirklichen - das ist die ebenfalls leicht selbstironische Wendung von Werner Düggelin, des großen alten Regiemeisters. Er bietet uns noch einmal großes Schauspielertheater - und er weiß, dass diese Zeit eigentlich abgelaufen ist.