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Onkologie
Neue Krebsmedikamente wirken oft anders als erwartet

Medikamente gegen Krebs wirken im Körper oft anders, als ursprünglich vermutet. Der Wirkstoff Herceptin etwa macht Abwehrzellen auf Brustkrebs aufmerksam, anstatt, wie anfangs gedacht, Wachstumssignale des Tumors zu blockieren. Forscher fordern nun eine viel genauere Untersuchung der Wirkstoffe.

Von Volkart Wildermuth |
Ein Mitarbeiter in einem Labor einer Apotheke stellt mit grünen Gummihandschuhen Krebsmedikamente (Zytostatika)
Nicht alle Substanzen, die in Laborversuchen erfolgreich waren, bestehen die klinische Prüfung (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
Beim Brustkrebs werden nicht alle Patientinnen gleich behandelt. Seit dem Jahr 2000 suchen die Ärzte gezielt nach einer Mutation namens her2/neu, die die Wucherung antreibt. Ist sie vorhanden, und nur dann, wird das Medikament Herceptin eingesetzt – oft mit Erfolg:
"Für die Präzisionsmedizin bracht man einen Wirkstoff, der ein Ziel angreift, das für die Krebszelle wirklich wichtig ist."
Erklärt der Genetiker Jason Sheltzer vom Cold Spring Harbour Laboratory in New York. Spezifische Mutation in den Krebszellen und ein dafür maßgeschneidertes Medikament, viele Pharmafirmen setzen auf dieses Konzept. Die praktische Umsetzung bleibt aber schwierig. 97 Prozent der Kandidaten für neue Wirkstoffe gegen Krebs versagen in der klinischen Prüfung, obwohl sie in Laborversuchen vielversprechend ausgesehen haben. Um zu verstehen, was hier schief läuft, hat sich Jason Sheltzer zehn Substanzen genauer angesehen, die als mögliche neue Krebsmedikamente gelten. Sieben von ihnen werden bereits in klinischen Studien getestet. Diese Substanzen sollen jeweils gezielt eine Achillesferse der Krebszellen angreifen, ein Protein, das für das unkontrollierte Wachstum verantwortlich ist, erklärt Jason Sheltzer auf einer Pressekonferenz:
"Wir waren sehr überrascht: als wir diese Proteine in den Krebszellen zerstörten, wuchsen sei einfach weiter. Das steht im Widerspruch zu den bislang publizierten Ergebnissen. Diese Ansatzpunkte für mögliche Präzisionsmedikamente sind also gar nicht wichtig für die Krebszellen."
Die zehn Kandidaten für Tumormedikamente sind also gar nicht so maßgenschneidert, wie gedacht. Das stellt das Konzept Präzisionsmedizin nicht grundsätzlich in Frage. Erstens, das betont auch Jason Sheltzer selbst, war seine Studie nicht repräsentativ. Der Genetiker hat sich auf Wirkstoffkandidaten konzentriert, bei denen er sozusagen schon einen Anfangsverdacht hatte. Und zweitens darf man nicht vergessen: die zehn Krebswirkstoffe funktionieren ja. Im Tierversuch und zum Teil in klinischen Studien haben sie das Wachstum von Tumoren gehemmt. Das konnte auch Jason Sheltzer bestätigen:
"Das zeigt, diese angeblichen Präzisionsmedikamente zerstören die Krebszellen, aber offenbar über ganz andere Wirkmechanismen, von denen wir nichts wissen."
Komplexität der Biologie
"Ich würde sagen, man hat nicht ungenau gearbeitet, sondern man ist Teil einer Lernkurve und die muss man halt einfach absolvieren. Nichts in der Biologie hat Exklusivität. Das ist eine der wesentlichen Lektionen, die wir daraus lernen müssen. Der Tumor hat uns nicht gesagt, dass er nur das hoch dreht und gegebenenfalls anderes nicht, er muss nicht die Hauptstraße fahren, er kann auch auf Nebenwegen weiterkommen."
Biologie ist komplex, sagt die Onkologin Diana Lüftner von der Berliner Charité. Das zeigt sich schon bei dem bewährten Präzisionsmedikament Herceptin. Ursprünglich dachten die Ärzte, es würde ein Wachstumssignal für die Tumorzellen unterbinden. Inzwischen ist klar, es wirkt vor allem, weil es Abwehrzellen auf den Brustkrebs aufmerksam macht. Ende gut alles gut, könnte man da sagen. Den Patienten ist schließlich egal, warum genau ihr Tumor schrumpft. So einfach ist es aber nicht, betont der Krebsspezialist Christof von Kalle vom Berlin Institut of Health:
"Wenn diese Mutationen dann in Wahrheit, wie jetzt hier in dieser Arbeit gezeigt, gar nicht relevant ist für die Wirkung, dann grenze ich ja die falschen Patienten von einer Therapie aus oder schließe die falschen Patienten in eine Therapie ein."
Die gezielte Auswahl der Patienten ist ja das Herz der Präzisionsmedizin in der Onkologie. Für sie ist es eben doch entscheidend, auf welchen Wegen ein Medikament funktioniert. Jason Sheltzer plädiert dafür, Wirkstoffe viel genauer zu untersuchen, bevor dann eventuell die klinische Prüfung beginnt. Hier ist er einer Meinung mit Christof von Kalle:
"Es ist sicher eine sinnvolle Forderung, zumal da drin ja auch immer die Chance für einen Erkenntnisgewinn liegt. Möglicherweise ist die Wirkung an einer anderen Stelle genauso interessant oder sogar interessanter als das, was meine ursprüngliche Intention als Forscher gewesen ist."
Neue Chancen für die Entwicklung von Medikamenten
Tatsächlich konnte Jason Sheltzer bei einer der Substanzen zeigen, dass sie über einen völlig neuen Mechanismus wirkt. Das biete neue Chancen für die Entwicklung von Krebsmedikamenten. Gleichzeitig zeigt die Veröffentlichung, dass die Pharmafirmen noch mehr forschen müssen, bevor sie mit einer Substanz in die klinische Prüfung an Krebspatienten gehen. Ein Aufwand, der sich lohnen könnte, meint Siegfried Throm vom Verband forschender Arzneimittelhersteller:
"Es ist eine interessante Arbeit, die zeigt, wie vielschichtig hier die Wirksamkeit von Krebsmedikamenten sein kann. Und diese Arbeit zeigt, dass man noch mehr Aktivitäten da rein stecken sollte, genau den Wirkmechanismus zu ermitteln. Und der gibt wertvolle Hinweise hierfür der Arzneimittelentwicklung, für die Entwicklung von Krebsmedikamenten insbesondere auch für unsere Mitgliedsfirmen."
Wenn der Wirkmechanismus eines möglichen Krebsmedikamentes tatsächlich bekannt ist, lassen sich die klinischen Studien gezielter organisieren. Und dann werden sich die heute noch hohen Ausfallraten auf dem Weg vom Labor zur Zulassung hoffentlich verbessern. Wenn ein Medikament diese Hürde am Ende genommen hat, können die Krebspatienten ihm im Übrigen vertrauen, betont Christof von Kalle:
"Zugelassene Medikamente haben zunächst einmal ihre Wirksamkeit belegt, unabhängig vom molekularen Mechanismus. Das heißt, die Indikation für die sie zugelassen sind, hat bei einem signifikanten Prozentsatz von Patienten eine positive Wirkung gehabt."