Für den heutigen Hörer ergeben sich so außerordentlich kurzweilige, abwechslungsreiche 75 Minuten. Da verschlägt es auch nichts, dass die gesanglichen Darbietungen nicht alle von wirklich erster Qualität sind: die junge Sopranistin Hanna Bayodi etwa, der mit "Fairest Isle" der bekanntesten Nummern des Stücks anvertraut ist, hat eine fast knabenhaft reine, aber auch wenig charakteristische Stimme, und das Timbre von Cyril Auvity, der im Booklet als Countertenor bezeichnet wird, aber als hoher Tenor angesprochen werden müsste, ist gewiss Geschmackssache. Die Sopranistin Véronique Gens, hier in der zweiten, tieferen Sopranpartie besetzt, überrascht mit echten Mezzoklängen. Zuverlässig und stilistisch adäquat wie immer der Bassist Peter Harvey, hier mit der wohl bekanntesten Szene des Stücks: der "Frost-Szene" aus dem dritten Akt.
Als Zugabe erklingt am Ende noch eine Chaconne, die zwar eindeutig zu "King Arthur" gehört, aufgrund der konfusen Quellenlage aber nicht in den Zusammenhang eingeordnet werden kann.
Von diesem französisch inspirierten Stück lässt sich mühelos die Brücke schlagen zu Jean-Baptiste Lullys "Tragédie-en-musique" "Roland".
Gemessen an dem Kolossalgemälde dieser Chaconne von Jean-Baptiste Lully - zwölf Minuten Musik, konstruiert über dem immer gleichen, ostinat wiederkehrenden Bassmodell - wirkt Purcells kleine Chaconne fast wie eine Bleistiftzeichnung. Lully krönt mit diesem monumentalen Satz den dritten Akt seiner Oper "Roland". Die Oper im schweizerischen Lausanne hat das Werk im vergangenen Jahr auf die Bühne gebracht; dort entstand im Januar diesen Jahres auch die Aufnahme, die nun ungewöhnlich schnell bearbeitet und veröffentlicht wurde. Für den musikalischen Teil hatte man Christophe Rousset und sein Orchester "Les Talens Lyriques", sowie eine Equipe stilistisch erfahrener Sänger verpflichtet. Indessen: in der französischen Barockoper geht es nicht nur und nicht einmal in erster Linie um die Musik und ihre Ausführung. Die gewöhnlich verwendete Gattungsbezeichnung macht es deutlich: "Tragédie-en-musique" - es handelt sich also um eine in Musik gesetzte Tragödie. Eine Tragödie, deren geistiger und literarischer Anspruch hinter den für die Sprechbühne bestimmten Werken eines Racine oder Corneille nicht zurückstehen sollte. Auf der französischen Opernbühne, deren unumschränkter Herrscher Lully bei Lebzeiten war, kam es deshalb weniger auf den Gesang, als auf die Deklamation an, statt Primadonnen verlangte man Tragödinnen, statt Kastraten Heldendarsteller.
Es kommt also ganz entscheidend darauf an, aus der Sprache, ihrer Färbung und Artikulation, und dem von der Musik vorgegebenen Gestus einen Charakter zu formen - und es liegt auf der Hand, dass es im internationalisierten Musikbetrieb unserer Tage nicht einfach ist, eine des Französischen genügend mächtige Besetzung zusammenzubringen. Christophe Rousset ist das weitgehend gelungen - kleinere Abstriche müssen diesbezüglich nur bei den Nebenrollen gemacht werden. Die Hauptrollen sind durchweg zutreffend besetzt: Anna-Maria Panzarella als Angélique setzt ihre eigentlich kräftige Stimme sehr kontrolliert ein, die Beweglichkeit kommt der sprachlichen Artikulation zugute, die Verzierungen sind von geradezu abgezirkelter Genauigkeit. Gleiches lässt sich der schon erwähnten Salomé Haller in der Rolle der guten Fee und der in diesem Fach vielfach bewährten Monique Zanetti als Angéliques Vertraute Témire nachrühmen. Wie überhaupt die Damen in dieser Produktion den insgesamt besseren Eindruck machen. Hier Anna-Maria Panzarella mit einer Szene aus dem ersten Akt.
Nicht ganz so überzeugend die Herren: Olivier Dumait in der typisch französischen Haute-contre-Partie des Médor gelingt der Ausgleich zwischen den Registern der Stimme nicht optimal, wenngleich seine Deklamation tadellos ist. Die Titelrolle ist mit Nicolas Testé besetzt, einem gewichtigen Bass, der, zumindest gemessen an der Alertheit der anderen Sänger, gelegentlich eine Spur zu schwerfällig agiert.
Die dramaturgisch höchst ungewöhnliche Konzeption der Oper lässt sich an der Gestaltung der Titelpartie besonders gut ablesen: Roland tritt erst im zweiten Akt auf, spielt da aber noch eine ganz untergeordnete Rolle, im dritten Akt ist er schon deutlicher präsent, im vierten Akt verschwindet das ganze bisherige Personal der Oper, so dass im vierten und fünften Akt Roland unzweifelhaft im Mittelpunkt steht. Seinem wichtigsten Gegenspieler, Médor, begegnet er in der ganzen Oper nicht einmal. Die Handlung hatte Lullys Librettist Philippe Quinault dem berühmten Epos vom "Rasenden Roland", dem "Orlando Furioso" des Ariost entnommen - unzählige, vor allem italienische Librettisten sollten ihm darin später folgen. Das Ganze ist in einem ziemlich sagenhaften China angesiedelt, in dem der Ritter Roland um die Tochter des Königs wirbt. Sie aber wählt einen anderen - eben jenen Médor, einen Sarazenen. Roland wird vor Schmerz wahnsinnig - und das gestalten Quinault und Lully im wesentlichen in einer großen, wenn auch mehrfach unterbrochenen Soloszene, die praktisch den gesamten vierten Akt einnimmt.
Gerettet wird Roland erst im fünften Akt: die Fee Logistille heilt ihn, indem sie ihm seinen Auftrag ins Gedächtnis zurückruft. Und der ist militärischer Natur: er soll sein Land gegen die Feinde verteidigen und dadurch ewigen Ruhm erwerben. Auch, wenn das militaristisch klingt - und auch so gemeint war, schließlich war Ludwig XIV. einer der größten und schrecklichsten Kriegsherren des Barockzeitalters -, geht es doch hier weniger um die Apotheose des Kriegers als um den Triumph von Vernunft und Einsicht. Das kriegerische Sujet samt seiner cartesianischen Pointe entspricht dem Geschmack am Hofe des Sonnenkönigs in der Endphase seiner Herrschaft: 1683, zwei Jahre vor der Uraufführung des "Roland", war er verwitwet und hatte heimlich seine langjährige Maitresse, die bigotte Mme. de Maintenon geheiratet. Ein Schatten jener dreißigjährigen Agonie, mit der Ludwigs Herrschaft zu Ende gehen sollte, fällt auch schon auf diese "Tragédie-en-musique": und gerade, als bedürfte es einer besonderen Anstrengung, diesen Schatten zu vertreiben, greift Lully, der 1685, zwei Jahre vor seinem Tod, auf der Höhe seiner Kunst ist, zu einem weiteren außergewöhnlichen Mittel. Der fünfte Akt, der die Wende herbeiführt und in der Apotheose der "Gloire", des Ruhms gipfelt, ist praktisch durchkomponiert. Der Schluss des fünften Aktes aus Lullys "Roland" mit Salomé Haller als Fee Logistille, Delphine Gillot als "La Gloire" und "Les Talens Lyriques" unter Christophe Rousset: glanzvolles Finale einer trotz kleiner Einwände im Detail uneingeschränkt zu begrüßenden Ersteinspielung.
Henry Purcells "King Arthur" mit "Le Concert Spirituel" unter der Leitung von Hervé Niquet ist auf dem spanischen Label Glossa erschienen; die Erstaufnahme der "Tragédie-en-musique" "Roland" von Jean-Baptiste Lully auf dem Label Ambroisie. Beide sind in Deutschland über den Note1 Musikvertrieb Heidelberg zu beziehen.
Henry Purcell - "King Arthur"
Le Concert Spirituel
Leitung: Hervé Niquet
Label: Glossa/Note 1
Labelcode: LC 00690
Bestellnr.: GCD 921608
Jean-Baptiste Lully - "Roland"
Les Talens Lyriques
Leitung: Christophe Rousset
Label: Ambroisie/Note 1
Bestellnr.: AMB9949