Archiv


Opfergang einer monströsen Liebe

Ein scheußlicher Vergewaltiger nimmt sein Publikum mit auf einem Trip zur dunklen Seite der Männerseele: Der Film "Der freie Wille" mit Jürgen Vogel hat schon vor seinem Start in den Kinos für reichlich Diskussionsstoff gersorgt. Denn der eigentlich negative Held bleibt fast bis zum Schluss die Identifikationsfigur.

Von Josef Schnelle |
    Jürgen Vogel ist ein Sympathieträger. Wird sein Kommen angekündigt, ist der Saal voll. Jürgen Vogel ist ein Sexsymbol. Ein echter Mann, einer der zupackt. Keinesfalls ein Weichei. Ein Schauspieler mit grobem physischem Charme. Einer, der sich alles selbst beigebracht hat und dessen Zahnlücken noch erotisch empfunden werden. Jürgen Vogel ist aber auch ein freundlicher, fast schüchterner Durchschnittsmensch. Starallüren werden ihm nicht nachgesagt und am liebsten arbeitet er mit Regisseuren, die ihn als Partner sehen, der mehr kann also nur eine Rolle herunter zu spielen - wie Jürgen Becker oder Matthias Glasner, mit dem er schon drei Filme gemacht hat.

    "Der freie Wille" ist nun das große Wagnis der beiden. Ein Film über einen brutalen Vergewaltiger aus dessen Perspektive. Manche sagen jetzt schon, das sei die Rolle seines Lebens. Ein Sympathieträger nimmt sein Publikum mit auf einen Trip zur dunklen Seite der Männerseele. Der Kunstgriff funktioniert. Der eigentlich negative Held bleibt fast bis zum Schluss die Identifikationsfigur des Films. Dabei wird er nicht verharmlost. Motivforschung wird nicht betrieben. Jürgen Vogel ist und bleibt in diesem Film ein scheußlicher Vergewaltiger und bald spürt er wieder wie dunkle Gefühle in ihm aufsteigen.

    "Meine Therapeutin und ich wir haben jede, sind jede Sekunde von oben nach unten gedreht um rauszufinden wie's passiert ist. Damit ich nächstes Mal irgendwas dagegen tun kann, wenn ich merke, dass irgendwas im Anmarsch ist. Was zum Beispiel? Zum Beispiel freiwillig wieder zurück in den Vollzug gehen. Das Problem ist, ich glaube, da ist wieder was in Anmarsch."

    Vogel spielt einen Serienvergewaltiger, der nach neun Jahren aus dem Gefängnis kommt und in einer therapeutischen Wohngemeinschaft das Leben ohne sexuelle Gewalt lernen soll. Der Film beginnt mit einer brutalen Vergewaltigung, denn Hauptfigur Theo schlägt die Frauen erst halbtot, bevor er sich an Ihnen vergeht. 163 Minuten lang verfolgen wir dann seinen Versuch, dem Schicksal zu entgehen. Am Ende weiß er selbst nur einen Ausweg, den der Film als Schock aber auch als Erlösungserlebnis präsentiert.

    Dieser Triebverbrecher hat, so die These des Films, keinen freien Willen und ist somit eine tragische Figur. Er ist also eine ähnliche Figur wie Peter Lorre als Kindermörder in Fritz Langs "M - eine Stadt sucht einen Mörder". Seit diesem Film hat es kein ebenso schmerzendes Psychogramm eines Täters mehr gegeben. Regisseur Matthias Glasner lässt seinem Publikum auch nicht das Schlupfloch einer Erklärung - etwa mit biografischen Details aus der Vergangenheit. Matthias Glasner möchte vielmehr, dass die Zuschauer sich mit ihrem "Kino im Kopf", mit den Ängsten und Wünschen, die der Film auslöst auseinandersetzen.

    "Ja es ist bewusst so gehalten, dass wir eigentlich die ganze Zeit dem Zuschauer immer gewisse Informationen vorenthalten, um ihn immer wieder auf sich selbst zurück zu werfen, damit er nicht immer nur bei dem Film ist, sondern auch bei sich selbst. Wenn man ihm immer eine Geschichte erzählt. Hier ist eine tolle Wendung, eine Information. Hier ist das und das. Dann ist er die ganze Zeit nur auf den Film konzentriert. Ich will, dass er zwischendurch immer wieder denkt. Was ist das? Was mache ich gerade? Wo bin ich hier? Das erzeugen wir dadurch, dass wir sehr sparsam mit Informationen umgehen."

    Lange weiß auch Nettie nichts von Theos dunklem Geheimnis. Nettie ist eine fragile Einzelgängerin, die ebenso wenig etwas mit Männern zu schaffen haben will, wie Theo mit Frauen. Einmal als er gefragt wird, ob er in Nettie verliebt ist, sagt Theo: "Ja aber auch nein. Ich hasse Sie." Er kann die unerwarteten Gefühle, die ihm begegnen zunächst nicht einordnen, dann ahnt er, dass er sie gleich wieder verlieren wird, wenn sie heraus bekommt, was mit ihm los ist. Und er fragt sich trotzdem: wie lange und wie weit sie den Opfergang dieser seltsamen und monströsen Liebe mitgehen. Nach und nach traut Nettie, mit großer Präsenz gespielt von Sabine Timoteo, dieser Liebe mehr und mehr zu. Derweil werfen kleine und kleinste Irritationen Theo aus der Bahn. Er wird rückfällig und dann muss er Nettie alles gestehen:

    "Bevor ich hierher kam. Da war ich neun Jahre weggesperrt. Ich hab drei Frauen vergewaltigt. Erst hab ich sie verprügelt. Dann hab ich sie gefickt. Eine hab ich ausgezogen und auf ner heißen Herdplatte…. Ich wollt, dass alles gut ist zwischen uns, dass es aufhört. Aber das ist hier drin. Immer und Immer. Und es hört nicht auf."