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Ordnung und Revolte: Helmut Schelsky und Jean Améry

In unserer sechsteiligen Serie "Intellektuelle Gegenpole" erinnern wir in Doppelporträts an prägende Geister und spannende Kontroversen. Zum Thema "Ordnung und Revolte" porträtiert Stephan Schlak im vierten Teil der Reihe Helmut Schelsky und Jean Améry.

Von Stephan Schlak |
    Der wohl einflussreichste Soziologe der frühen Bundesrepublik, Helmut Schelsky, und der philosophische Schriftsteller und Essayist Jean Améry standen sich gegenüber - gemeinsam war ihnen die lebenslange Aufarbeitung ihrer Biografien. Stephan Schlak ist verantwortlicher Redakteur der "Zeitschrift für Ideengeschichte". 2008 erschien seine Biografie über Wilhelm Hennis.

    Ordnung und Revolte: Helmut Schelsky und Jean Améry
    Von Stephan Schlak

    Einmal kamen sich Jean Améry und Helmut Schelsky ganz nahe. Im Oktober 1912 werden sie innerhalb weniger Tage geboren – der wohl einflussreichste Soziologe der frühen Bundesrepublik Helmut Schelsky am 14. Oktober, und nur zwei Wochen später am 31. Oktober 1912 der philosophische Schriftsteller und Essayist Jean Améry. Aber was garantiert schon das formale Gerüst äußerer Lebensdaten in einem Jahrhundert abgerissener Kontinuitäten? Ihr Jahrgang 1912 stand auf schwankendem Grund. Ein paar Monate vor ihrer Geburt war die "Titanic" gesunken – als Fanal für all die bürgerlichen Illusionen, die in den nächsten Jahren Schiffbruch erleiden sollten. "Die Schiffbrüchigen" – wird Jean Améry später seinen literarischen Erstling überschreiben.

    Schelsky und Améry wurden hineingeboren in ein an den Ersten Weltkrieg brandendes, bürgerlich-langes 19. Jahrhundert, in dem der Glauben an Fortschritt und das Vertrauen auf einen stabilen Weltverlauf porös geworden waren. Ihre Jugend fiel in die revolutionär aufgeputschte Zwischenkriegszeit. Über die gemeinsame intellektuelle Prägung einer Jugend in den 20er-Jahren schrieb Améry 1967 an den ein Jahr älteren konservativen Literaturkritiker und "Generationskameraden" Hans Egon Holthusen:

    "Man hat zur gleichen Zeit Rilke gelesen und Spengler; man hat im gleichen geistig-sozialen Referenzsystem gelebt; man wird wohl noch heute, denkt man zurück an die Jugend, von den gleichen oder zumindest ähnlichen Assoziationswellen bespült. Man ist sich darum 'nahe'."

    Aber da hatte die einstmalige geistige Nähe ihre Unschuld längst verloren. Es war im 20. Jahrhundert nicht die Kontingenz des Jahrgangs, sondern es waren die äußeren Umstände, die Macht über die Biografien gewannen. Um den scharfen Riss zu illustrieren, den der Nationalsozialismus und Krieg auch durch den Jahrgang 1912 zog, blenden wir 30 Jahre voraus – in die letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges, in das Frühjahr 1945: Schelsky nimmt als Wehrmachtssoldat an den Endkämpfen in Ostpreußen teil. Als Rädchen in der Kriegsmaschinerie versucht der Offizier einer Sturmtruppe, der schon bald der Bundesrepublik ihre soziologischen Stichworte liefern wird, jene Front zu halten, in deren Rücken das Morden weitergeht und der KZ-Häftling Améry Torturen erleidet. Es ist eine abgründige historische Szene.

    Améry blieb ein Gezeichneter – die Auschwitz-Nummer "172364" trug er eingebrannt im Arm. Seine Odyssee des Schreckens durch das Dritte Reich kann hier nur mit wenigen Strichen markiert werden. Jeden Höllenkreis der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie – vom Gestapo-Folterkeller über Auschwitz und Bergen-Belsen – schien er einzeln durchlaufen zu müssen. Fast protokollarisch kühl hat Améry selbst über seine "Tortur" im Dritten Reich geschrieben. Nach 642 Tagen in deutschen KZ-Lagern wird er am 15. April 1945 von den Engländern befreit. Die "Tortur" blieb sein Begleiter. 20 Jahre später schrieb er über sie in einem berühmten Essay in der Zeitschrift Merkur:

    "Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden."

    Wenn Améry nach dem Krieg als engagierter Aufklärer vor restaurativen Tendenzen warnte, in den 60er-Jahren kurzzeitig auf die studentische Unruhe setzte (bis er sich nach den ersten Exzessen von der "Revolte" distanziert abwandte), wenn er in der Freiheit – konsequent gedacht bis zum Selbstmord – einen letzten existenziellen Wert erkannte, dann waren das die Lektionen eines Überlebenden, über den die Naziherrschaft lange Zeit willkürlich verfügt hatte.

    Ganz anders sein Jahrgangsgenosse Schelsky: Er hatte mit politischen Bewältigungsversuchen zu kämpfen. Seine politische Sozialisation im Dritten Reich ist weitaus typischer für den Jahrgang 1912. In seinem Studium in Leipzig tummelte er sich im Dunstkreis der Konservativen Revolution. Was ihn an der NS-Bewegung anzog – war ihr revolutionärer Anspruch, mit der alten "morschen" Welt des Bürgers brechen zu wollen. Vom Nationalsozialismus versprach der junge 20-jährige Student sich eine geistige und moralische Erneuerung. Schelskys frühes nationalrevolutionäres Engagement ruft in Erinnerung, wie sehr der Aufbruch des Nationalsozialismus auch eine Jugendbewegung war.

    Es waren gut ausgebildete Weltanschauungsathleten, die sich ihm bedingungslos zur Verfügung stellten. "Generation des Unbedingten" nennt der Hamburger Historiker Michael Wildt sie in seiner Studie über das Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes. "Unbedingt" war auch das Engagement von Schelsky für den NS in den ersten Jahren. 1932 tritt er in den NS-Hochschulbund ein; ein paar Jahre später auch in die NSDAP. Von seinen Leipziger Lehrern Arnold Gehlen und Hans Freyer protegiert, erklimmt er im Dritten Reich die ersten Stufen auf der akademischen Karriereleiter. Er promoviert 1931 über die "Theorie der Gemeinschaft"; 1939 schließt er seine Habilitation über Hobbes' Staatstheorie ab – während ungeachtet davon in der politischen Wirklichkeit des Dritten Reiches sich aus dem Leviathan längst das Ungeheuer des Behemoth geschält hatte.

    Auch Schelsky entging nicht, dass die idealistischen Reserven der Bewegung schnell aufgezehrt waren; aber vorerst bot ihm die Universität genügend Möglichkeiten, um zu überwintern. Erst folgte er Gehlen als Assistenten nach Königsberg, darauf Freyer nach Budapest an das Deutsche Kulturinstitut – bis er in den letzten Kriegsjahren nach Osten an die Front kommandiert wurde.

    Schelskys erste 30 Lebensjahre erzählen von einem akademischen Hoffnungsträger, der jugendbewegt und idealistisch 1933 auf die "Revolution von rechts" setzte. Als gebranntes ideologisches Kind wird er nach dem Krieg allen idealistischen Projekten misstrauen, in der Wiedergewinnung an Sachlichkeit und Wirklichkeitssinn den eigentlichen zivilisatorischen Fortschritt der Bundesrepublik anerkennen. Auch wenn er sich nun von seinem politischen Vorleben verabschiedete, blieb er negativ gekettet an seine frühen, jugendbewegten Erfahrungen.

    Der bekehrte Soziologe, der das sachliche Idiom der Nachkriegszeit prägen wird, und der "Überlebende" des Holocaust, der auch nach dem Krieg von seinem "Exilort" Brüssel mit existenzialistischer Verve diese neusachliche Fassade hinterfragen wird – es waren solche Milieus von hoher geistiger Spannung, die das kulturelle Leben der Nachkriegsrepublik befeuert haben. "Moralische Reibung kann intellektuelle Energie erzeugen", schrieb Wolf Lepenies unlängst in der "Welt" anlässlich Schelskys 25. Todestag. Das war bei Lepenies zwar auf die Scharmützel bezogen, die Schelskys Lehrer, der konservative Institutionentheoretiker Arnold Gehlen, mit dem zurückgekehrten Emigranten Adorno unterhielt – dieses kleine pyrotechnische Gesetz der alten Bundesrepublik ließe sich aber auf viele intellektuelle Gegenpole ausweiten.

    Gerade die Soziologie bot hier ernorme Reibungsflächen, waren in dieser "modernen" Disziplin doch besonders viele herausragende Köpfe ins Ausland vertrieben worden. Nicht nur Adorno und Horkheimer in Frankfurt – auch die Emigranten Helmuth Plessner in Göttingen oder René König in Köln duellierten sich in den Nachkriegsjahren mit den deutschen universitären Platzhaltern um theoretische Hoheit, fachlichen Einfluss und Forschungsmittel.

    Als Hitlers Rüstungsminister Albert Speer in den 70er-Jahren mit seinen "Spandauer Tagebüchern" auf dem Buchmarkt als Bestseller-Autor Erfolge feiert, reüssiert und von der konservativen Intelligenz des Landes hofiert wird, protestiert Améry. Sarkastisch nennt der KZ-Häftling aus Dora sich in einem offenen Brief an Speer vom 6. Oktober 1975 einen "einstigen persönlichen Angestellten eines Betriebes, der im weiteren und engeren Sinne der Ihre war." Er gibt zu bedenken, ob für Speer statt wolkiger humanitärer Formeln aus "purer Dezenz" sich nicht "Schweigen" geboten hätte.

    "Sühne und Umkehr werden würdig nur in Einsamkeit vollzogen: ohne Geste an der Rampe."

    Drei Jahre später hat Améry auf einem Podium der Theodor-Heuss-Akademie sein Schweigegebot mit Nachdruck noch einmal bekräftigt – nun aber unter verschärften Bedingungen. Denn auf dem Podium mit lauter "Tatzeugen" direkt gegenüber saß ihm Albert Speer. Améry leitete ein:

    "Es ist natürlich gar keine Rede davon, dass ich der Meinung wäre, irgend jemand dürfe irgend etwas offiziell nicht publizieren. Das geht ja nicht in einer pluralistischen Gesellschaft. Jeder Mensch kann alles publizieren. Ich habe hier nur von einem ganz persönlichen Eindruck gesprochen, und ich glaube, der ist ( ... ) legitim."

    Speer antwortete:

    "Ich habe damals den Inhalt ( ... ) des offenen Briefes, den Herr Améry anlässlich meines Buches an mich gerichtet hat, innerlich akzeptiert. ( ... ) Ich glaube aber, die Einstellung von Herrn Améry zu mir ist in manchen Dingen nicht begründet. ( ... ) Es gehört zu der Geschichte dazu, dass ich damals allen Ernstes glaubte, dass ich nicht politisch ( ... ), sondern als Rüstungsminister nur fachlich tätig bin."

    Albert Speer, Jahrgang 1905, war nur unwesentlich älter als Schelsky und Améry. In seiner gewundenen Antwort an Améry hält er diesem technischen Politikverständnis die Treue – trotz aller kleineren Tribute an den neuen internalisierten bundesrepublikanischen Schulddiskurs.

    Mit Jean Améry und Helmut Schelsky – den beiden Gegenpolen aus dem Jahrgang 1912 – wird hier eine Generation beleuchtet, die für die intellektuelle Wiederbegründung und kulturelle Neuentfaltung der Republik nach 1945 von eminenter Bedeutung war. Die Prämien für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik schreibt sich heute jene "skeptische Generation" zu – die Helmut Schelsky 1957 in seiner großen jugendsoziologischen Studie zuerst auf den Begriff gebracht hat.

    Eine Begriffsschöpfung, die scheinbar so erfolgreich wurde, dass sie die intellektuelle Vätergeneration ein Stück weit aufgefressen hat. Wenn wir heute die großen Geschichtswälzer der Flakhelfer aufblättern, wie den abschließenden, fünften Band von Hans Ulrich Wehlers "Gesellschaftsgeschichte" – dann sehen wir die Erfolgsgeschichte des Landes eng verwoben mit den Karrieren der "skeptischen Generation". Da ist viel Mythos dabei.

    "Diese Generation ist in ihrem sozialen Bewusstsein und Selbstbewusstsein kritischer, skeptischer, misstrauischer und glaubens- oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationen vorher. Sie ist ohne Pathos, ohne Programme und Parolen. Die Generation ist im privaten und sozialen Verhalten angepasster, wirklichkeitsnäher, zugriffsbereiter und erfolgssicherer als je eine Jugend vorher."

    Mit Helmut Schelsky stellte der Jahrgang 1912 nicht nur den spiritus rector und Namenserfinder der "skeptischen Generation"; um diesen Jahrgang gruppierten sich die eigentlichen intellektuellen Ziehväter der Bundesrepublik. Nur wenige Gestalten aus dem Kulturleben der jungen Republik können hier genannt werden: Alfred Andersch, Jahrgang 1914, der unermüdlich neue Talente aufspürte, junge zornige Wölfe wie Enzensberger oder Martin Walser zum Funk brachte. Oder Hans Paeschke, Jahrgang 1911, der langjährige Herausgeber der renommierten Kulturzeitschrift "Merkur". Er fühlte sich Améry freundschaftlich verbunden; lud ihn seit den 60er-Jahren oft zu Beiträgen ins Blatt ein. Vergessen werden dürfen auch nicht die Pädagogen Hellmut Becker und Georg Picht, beide Jahrgang 1913, die den zentralen Bildungsdiskurs der Republik bis in die 70er-Jahre gesteuert haben. Sie alle hatten ein abenteuerliches politisches Vorleben im Gepäck. Sie kamen aus den alten deutschen idealistischen Bildungswelten – und mussten nach dem Krieg einen intellektuellen Neustart hinlegen.

    Karlsruhe 1946 – in der amerikanischen Bibliothek in Karlsruhe spielt eine jener Gründungsszenen des deutschen Nachkriegsdenkens. Hier quartierte sich Helmut Schelsky mit seinem Lehrer Arnold Gehlen ein und paukte die modernen soziologischen und psychologischen Theorien Amerikas. Vor allem mit dem angelsächsischen Pragmatismus rüsteten sie sich auf. Innerhalb nur weniger Wochen eigneten sie sich ein gigantisches Pensum neuerer amerikanischer Forschungsliteratur an. Die Diskreditierung der deutschen Denktradition bot ungeahnte neue Chancen – und Schelsky war nach dem Krieg geistig flexibel und lernbereit genug, sie entschlossen zu nutzen. Rückblickend hat der Soziologe Niklas Luhmann, Schelskys Meisterschüler, die intellektuelle Produktivität der jungen Republik auf die Formel "Zerstörung als Kapital" gebracht. In seinem "Nachruf auf die Bundesrepublik" schreibt Luhmann 1990:

    "Auch in der intellektuellen Entwicklung war Zerstörung vielleicht das wichtigste Kapital – Zerstörung im Sinne der Unnennbarkeit spezifischer deutscher Traditionen. Es blieb nur die eifrig zu manifestierende Scham. Und die Möglichkeit, etwas anders anzufangen – etwa amerikanische Soziologie oder analytische Philosophie."

    Wenn Schelsky nach dem Krieg über die Jugend, die Wandlungen der Familie, über Sexualität, Konsum oder die Probleme der modernen Industriegesellschaft schrieb, so unterschied sich das grundsätzlich von jenem bequemen Kulturpessimismus, mit denen das deutsche konservative Denken sich die Phänomene der modernen Gesellschaft vom Leib zu halten versuchte. "Wirklichkeit" – das war für Schelsky die emphatische akademische Vokabel. Soziologie verstand er als eine Nüchternheitslektion. "Erkenne die Lage" – ein hartes neusachliches Realitätspathos trieb sie an.

    Heute ist das Faszinosum schwer verstehbar, das in den unmittelbaren Nachkriegsjahren von konkreten Zahlen und%en, Datenreihen – auch von der profanen Welt der Fragebögen ausging. Nach dem ideologischen Kassensturz des Nationalsozialismus war Inventur gefragt, um mit Benn zu sprechen. Man rechnete mit den Beständen. Nicht nur Helmut Schelsky entdeckte als Projekteschmied an der Sozialforschungsstelle Dortmund in den Fünfziger Jahren die Macht der Zahlen. Ob René König in Köln, Helmuth Plessner in Göttingen oder Horkheimer und Adorno in Frankfurt – die Gründungsväter der deutschen Nachkriegs-Soziologie nahmen nach dem Krieg Abschied von der deutschen idealistischen Welt des Geistes und feierten ihre Ankunft in der Empirie.
    Aber auch Zahlen wollen gedeutet werden.

    In Helmut Schelsky fand die Republik ihren ersten soziologischen Interpreten. Mit wirkmächtigen Stichworten wie der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" prägte er die Signatur der Bundesrepublik. Nicht normativ als Demokratie verstand er sie, sondern nüchtern aus der technokratischen Perspektive der Zeit, als paradigmatischen Staat der "Industriegesellschaft". Schelsky verabschiedete sich von den alten Ideenkreisen. In einem Vortrag über den "Menschen in der wissenschaftlichen Zivilisation" führte er 1961 aus:

    "Damit verliert auch die Idee der Demokratie ihre klassische Substanz: An die Stelle des politischen Volkswillen tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert."

    Schelsky setzte auf die junge, nachwachsende Generation. Geimpft gegen alles Ideologische, versuchte sie für ihn der sachlichen Forderung des Tages Genüge zu leisten. Die Vertreter der "skeptischen Generation" waren seine Agenten der Sachlichkeit. Sie verteidigte er stets vehement öffentlich gegen das Unverständnis der Älteren, die sich auf die Verhaltenheit, den politischen Attentismus und die vielen kleinen privaten Rückzüge der Jugend keinen rechten Reim machen konnten. So sagt er:

    "So sachlich und kühl diese Diagnosen daherkamen – sie waren in den 50erJahren eingebunden in eine übergreifende intellektuelle Grundstimmung des 'posthistoire'. Für eine von den revolutionären Bewegungen der ersten Jahrhunderthälfte desillusionierte Generation schien das Veränderungspathos der Geschichte überhaupt an ihr Ende gekommen zu sein. An die Stelle der existenziellen politischen Entscheidung traten die Verwaltung und die Ordnung der Dinge. Aber es war genau diese, aus dem Prinzip des Sachzwangs dekretierte Alternativlosigkeit der kapitalistisch organisierten, modernen Gesellschaft, – die in den späten 60er-Jahren den Protest einer neuen politischen Generation herausforderten."

    In dem wachen Beobachter Jean Améry findet die studentische Unruhe früh einen kritischen Sympathisanten.
    Améry – der Schulabbrecher und Autodidakt – schlug sich nach dem Krieg in Brüssel als freier Publizist durch. Zuerst schrieb er nur für Zeitschriften in der Schweiz; durch Helmut Heißenbüttel entdeckte er in den 60er-Jahren den lukrativen Funk und weitete seine Publikationen allmählich auch auf Deutschland aus.

    In einer neunbändigen Gesamtausgabe bei Klett-Cotta liegen nun seine wichtigsten Essays und Aufsätze zu Film, Literatur, Philosophie, Politik gesammelt vor – auch seine Romane "Die Schiffbrüchigen", "Lefeu" oder "Der Abbruch" und sein "Charles Bovary", die zu seinem Kummer von der zeitgenössischen Literaturkritik kaum gewürdigt wurden. Aber so richtig brillierte Améry eben in seinen Essays. Man würde sich gewaltig verheben, wenn man hier nur seine geschichtsschweren, existenziellen Lebensthemen suchen würde. Schon als "Lohnschreiber" war er lange Jahre gezwungen, über alle möglichen Aufregungen des Kulturlebens zu schreiben. Ob er die von ihm angebetete Marilyn Monroe hochleben lässt oder sich die jeweiligen "Cocktail-Party-Größen" vornimmt – immer kommt ihm seine ästhetische Sensibilität für die Phänomene zugute. Nie plaudert er einfach so daher oder gibt bloß Meinungen von sich. Seine Feuilletons sind funkelnde Miniaturen, voller origineller Beobachtungen und hintergründigem Witz, geschrieben in einem Deutsch, wie es heute nur noch Wenigen zur Verfügung steht.

    Eine Nachhilfe in Empirie und an Erfahrungstatsachen, wie sie Schelsky als soziologischer Erzieher in den 50er-Jahren den Deutschen angedeihen lässt, hätte Améry dabei nicht gebraucht. Nicht nur verarbeitete er selbst eifrig 1961 für sein Buch "Geburt der Gegenwart" die neuere amerikanische Soziologie – schon in der Zwischenkriegszeit in Wien war der Autodidakt Améry an den Volkshochschule in der Wiener Zirkusgasse auf Tuchfühlung mit dem Empirismus und den Wiener Neopositivismus gegangen.

    In der grundsätzlichen Diagnose der Gegenwart lagen Améry und Schelsky gar nicht so weit auseinander. Auch Améry teilte die Beobachtung, dass die Vermessung der Welt durch die Wissenschaften immer mehr zunehme, dabei immer weniger Platz für schöpferische individuelle Freiheiten bleibe. Nur beschrieb er das anders als Schelsky nicht affirmativ als neue "Sachgesetzlichkeit".

    Allen Dogmen – auch wenn sie im asketischen Gewand soziologischer Tatsachenbehauptung daherkamen – stand Améry fragend skeptisch gegenüber. Am Vorabend der Studentenrevolte 1967 kommt er einem Beitrag für die "Schweizer Rundschau" auf das "Für und Wider der Ideologie" zu sprechen. Auch wenn der Name Schelsky nicht fällt, zielt er mit seinem Wort von der "Entideologisierung, die ihrerseits schließlich wieder zur Ideologie wurde" deutlich auf eine Soziologie, die unter dem Gesetz des Sachzwanges den Naturwissenschaften hinterher eiferte.

    "Der aus der Naturwissenschaft übernommene Stolz auf wertfreie beziehungsweise bewertungsfreie Beobachtung gesellschaftlicher Tatsachen triumphierte. Der 'kühle Blick' (des Staatsmannes, aber auch des ideologiefreien Soziologen) wurde zum Fetisch."

    Améry kritisierte die im "Zeichen der Entideologisierung vor sich gehende Verödung des politischen Lebens." Dabei sprach er sich nicht hemmungslos für eine neue Ideologisierung aus, aber er versuchte doch zu erkunden, wie in der Industriegesellschaft eine "Ideologie der Demokratie" aussehen könnte. Als hoffnungsfrohes Zeichen vermerkt Améry am Ende seines Artikels, dass…

    "…zumindest unter der akademischen Jugend, eine gewisse Re-Ideologisierung sich anscheinend wieder geltend macht, für welche die Vorgänge an deutschen Universitäten, die manchen erschrecken, uns als kennzeichnend und zugleich ermutigend erscheinen."

    Aber schon ein Jahr später klingt seine Empathie für den studentischen Aufbruch deutlich gedämpfter.

    "Wie die Lage gegeben ist, kann in Deutschland die Neue Linke gefährlich – nur für die Linke sein."

    In den 70er-Jahren ist Améry eine besorgte Stimme im linksliberalen Chor, die den radikalen Flügel immer wieder daran erinnert, bei aller utopischer Politik die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie nicht über den Haufen zu werfen.

    Für Helmut Schelsky waren die politischen Polarisierungen durch die Studentenbewegung ein Déjà-vu-Erlebnis der besonders unfreundlichen Art. Der Angriff auf das System, das Ausspielen von Demokratie und scheinbar bloß liberaler Freiheit – all das kam ihm aus seiner Jugend nur allzu bekannt vor. Nur kam diesmal die Revolution nicht von rechts, sondern von links. Wie so viele der bekannten konservativen Opponenten der Studentenbewegung – Wilhelm Hennis etwa oder Hermann Lübbe – hatte auch Schelsky in den 50er-Jahren Kontakt zur Sozialdemokratie unterhalten.

    Als Hochschulreformer und Mitbegründer der Bielefelder Reformuniversität versuchte er die alten humboldtschen Ideale "Einsamkeit und Freiheit" mit den Ausbildungsbedürfnissen einer modernen Massenuniversität zu verschmelzen. Ohne Frage war auch darum die Empörung über eine neue Generation so groß, die – von Willy Brandts erster Regierungserklärung beflügelt – glaubte, mit der Demokratie noch einmal richtig und ganz neu anfangen zu können. Gegen "Demokratisierung", jener intellektuellen Heilformel der Siebziger Jahre, entfachte Schelsky in vielen Artikeln seinen heiligen Zorn. Er machte die Gegenrechnung auf:

    "In der Bundesrepublik hat die Ära Brandt, deren formal-organisatorische Steigerung der Mitbestimmung organisierter Gruppen in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Schulen usw. ohne Zweifel die mitmenschliche 'Demokratie' zum Ziel gehabt hat, das Gegenteil erreicht, nämlich Steigerung der Konflikte, ideologisches Misstrauen, stärkere bürokratische Verwaltung des Menschen und propagandistische Urteilsmanipulierung, also mehr 'Entfremdung' als Selbstsicherheit in Mitmenschlichkeit."

    Aber je schriller die Töne mit der Zeit auch bei ihm wurden, so wüster er sich die intellektuellen Priester und das "Kartell der Linkskarrieristen" zur Brust nahm – desto mehr gewann man den Eindruck, dass es ihm weniger um die Neue Linke und die Ordnung des Landes ging. Hier wurde einer ganz offensichtlich von den politischen Dämonen seiner Jugend heimgesucht.

    Was Schelsky in den 50er-Jahren noch aus seiner Soziologie ausgeklammert hatte – die Emotionen und die existenzielle Betroffenheit –, all das floss in den 70er-Jahren wieder ungehindert in seine Texte hinein. Man kann hier etwas über den destruktiven Geist jener auch intellektuell bleiernen Zeit lernen. Es war ja nicht nur die Linke, die sich auf utopische marxistische Irrwege begab; sondern es gab auch eine konservative Rechte, die sich unter Hintanstellung der sachlichen Probleme des Tages immer weiter in den ideologischen Gegner verbiss.

    Auch Schelsky entfernte sich mit seinen intellektuellen Schuldzuschreibungen von der Gesellschaft; die bundesrepublikanische Zeit wurde ihm immer fremder. Vielleicht hätte er sich mit seinem Unverständnis für die Parolen der Zeit wiedererkennen können in dem, was sein Jahrgangsgenosse Jean Améry in jenen Jahren in einer Essayreihe "Über das Altern" schrieb:

    "Zuerst ist da oft nur ein taubes Gefühl von Widerwillen gegen das, was der Alternde für sich den 'kulturellen Jargon' der Epoche nennt, wobei er sich sperrt gegen die Frage, ob er nicht gleichfalls einen solchen Jargon redet, nur eben einen überständigen, und nicht, wie er meint, eine reine Sprache, die Sprache schlechthin."

    Amérys letzte Jahre sind überschattet von seinem Freitod. 1976 verteidigt er in seiner Schrift "Hand an sich legen" den Suizid als letzten Ausdruck existenzieller Freiheit:

    "Wäre der Philosoph Ernst Bloch gleich seinem Kollegen Adorno mit 66 Jahren in den Tod gegangen, man würde vielleicht – wahrscheinlich – von ihm nur so nebenhin als einem Staatsdenker der DDR sprechen. Adornos Tod war darum kaum weniger unnatürlich als der Hintritt Georg Büchners. Hier wie dort wurde jählings die Kontinuität schöpferischer Existenz zerhackt, so dass wir in beiden Fällen zur Widerrede neigen, gleich Voltaire, der gegen das Erdbeben von Lissabon im Namen des Geistes Protest einlegte. Im Grunde ist der Tod niemals natürlich. Vor allem für den Bedrohten nicht, sofern dieser noch halbwegs seiner Sinne mächtig ist."

    In der Nacht des 17. Oktober 1978 brachte Jean Améry sich in einem Salzburger Hotel um. Der Selbstmord dreier Juden – Paul Celan, Peter Szondi und Jean Améry – ragt dunkel in die 70er-Jahre der Bundesrepublik hinein. "Drei Juden. Drei Überlebende" überschrieb Hans Mayer in der Berliner Akademie der Künste seine Totenrede.

    "Auch Jean ist in Auschwitz gewesen: wie Celan in Bergen Belsen: wie Peter Szondi. Sie alle empfanden das Überleben als unerlaubt. Das war zu revidieren."

    Im Rückblick wird deutlich, wie sehr das Leben unserer beiden Gegenpole aus dem Jahrgang 1912 im Schatten früher Erfahrungen stand. Das gilt sowohl für den Überlebenden Améry – wie aber auch für Schelsky, der noch in den 70er-Jahren die ideologischen Gespenster seiner Jugend zu vertreiben suchte. Man kann in der kultivierten Gelassenheit, mit der heute die Streitereien im Kulturbetrieb ausgefochten werden, die Gnade der Nachgeborenen erkennen. Aber das zeigt nur, wie fern uns mittlerweile jene alte Bundesrepublik gerückt ist, in der vom Jahrhundert schwer gebeutelte Intellektuelle mit existenziellem Ernst um den Kurs des Landes rangen.