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Organisierte Kriminalität

Kriminelle Netzwerke operieren weltweit, die Globalisierung hat auch das Verbrechen erfasst. Und die organisierte Kriminalität kennt keine Grenzen. Im Gegenteil, die Grenzüberschreitungen machen erst vieles möglich.

Von Thomas Wagner |
    "Organisierte Kriminalität" – der Begriff lässt so manchem einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Mafia, Mord, Machtlosigkeit des Staates – solche Stichworte fallen gerne, wenn es um "Organisierte Kriminalität" geht. Doch: Die Begriffsbestimmung an sich scheint genauso schwierig zu sein wie die Bekämpfung. Erstens: Organisierte Kriminalität kommt in den besten Gesellschaften vor.

    "Zweitens: Jeder weiß, dass organisierte Kriminalität verboten ist. Drittens: Viele hoffen, dass organisierte Kriminalität, ich werde das Kürzel 'OK' verwenden, irgendwann, irgendwie verfolgt und bestraft wird."

    So Wolfgang Hetzer, leitender Mitarbeiter bei OLAF in Brüssel. "OLAF" steht für "Office Européen de Lutte Anti Fraude" oder "Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung."

    Und sozusagen bereits kraft Amtes stellte Wolfgang Hetzer in Karlsruhe die Frage: Gehört zur "Organisierten Kriminalität" nicht viel mehr als die klassischen Deliktgruppen wie Drogenhandel, Menschenhandel, Geldwäsche, Erpressung, Mord? Die Frage sei, angesichts der immer noch anhaltenden Finanzkrise, aktueller denn je:

    "Die Globalisierung hat auf den Finanzmärkten eine Casinokultur entstehen lassen mit dramatischen Konsequenzen: Im Mittelpunkt der ganzen Entwicklung steht die Korruption. Regierungen haben erlaubt, dass das System und seine wichtigsten Vertreter außer Kontrolle gerieten. Auch wenn man manche Unternehmen als zu korrupt eingeschätzt hat, ließ man sie doch agieren, damit sie nicht scheitern. Das schöne Wort der Systemrelevanz fiel da. Finanziers und Wirtschaftsführer haben ohne Regeln eine Bereicherungsorgie veranstaltet. Banker, Fondsmanager und Vermögensverwalter haben ihre Dienstleistungen und ihre Seelen verkauft, um riesige Summen Geldes zu verdienen und es in die eigenen Taschen zu stecken, als das System kollabierte. Armeen von Rechnungsprüfern, Buchhaltern und Rechtsanwälten haben sich legalen und illegalen Industrien wie Söldnern zur Verfügung gestellt, um schmutzige Geschäfte zu verdecken beziehungsweise ihnen den Anschein von Rechtmäßigkeit zu vermitteln. Ratingagenturen haben Unternehmen betrügerisches Verhalten geradezu gelehrt und ihnen danach geradezu Unbedenklichkeitstestate ausgestellt. Darin liegt der korrupte Kern der Finanzkrise, der für die OK geradezu ein Jungbrunnen ist."

    Bei dieser modernen Form der "Ok", der Organisierten Kriminalität also, werde nicht geschossen, sondern bezahlt. Statt Erpressung und Mord ziehen es die Akteure vor, Aktienkurse zu manipulieren und Banken in den Bankrott zu treiben – über nationale Grenzen hinweg. Und das sei, so die Experten in Karlsruhe, längst noch nicht alles:

    "Wenn man sich anschaut: Ausschreibungsbetrug, Kapitalanlagebetrug, Betrug im Gesundheitswesen – das sind die schadensträchtigsten Bereiche, die wir im Bereich der organisierten Kriminalität in Deutschland haben. Die sind aber nicht so das typische Ziel der Bekämpfung organisierter Kriminalität, weil die Leute diesem Gangsterklischee nicht entsprechen: Das geht ja schon los, wenn man als Patient zum Arzt geht, dass man sich mal anschaut, was da so alles abgerechnet wird."

    So Professor Klaus von Lampe, der am John Jay Collegue of Criminal Justice in New York arbeitet. Diese neuen Formen organisierter Kriminalität seien längst noch nicht stark genug im öffentlichen Bewusstsein verankert.

    Entsprechend unzureichend ergreife der Staat Gegenmaßnahmen. Als ob diese neue Formen organisierter Kriminalität nicht schon Problem genug wären – auch die klassische Ausprägung der Organisierten Kriminalität hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Ursache dafür ist eigentlich eine höchst erfreuliche Entwicklung – nämlich der Fall des sogenannten "Eisernen Vorhangs" zwischen Ost- und Westeuropa vor etwas über 20 Jahren. Das führte jedoch zum Aufkeimen neuer Verbrechensorganisationen, beispielsweise durch die massenweise Entlassung von Sicherheitskräften in den osteuropäischen Transformationsstaaten. Der englische Journalist und Verbrechensexperte Misha Glenny hat dies am Beispiel Bulgarien erforscht:

    "Viele Polizisten wurden entlassen. Sie haben keine Arbeit gefunden. Die Wirtschaft geht runter, ziemlich schnell. Und die mussten sich dann irgendwie beschäftigen. Und wie haben Sie das gemacht? Sie haben sich zu Banden irgendwie zusammengeführt. Und sie haben inoffiziell als Polizisten, als Schutzmacht innerhalb der Gesellschaft funktioniert, was wir eigentlich im Westen normalerweise die Mafia nennen. Und dadurch ist die Mafia in Osteuropa entstanden."

    Mit verheerenden Folgen: Zum Teil nehmen solche Organisationen bis heute staatsähnliche Funktionen wahr: 'Sicherheit gegen Schutzgeld' lautet in vielen Regionen nach wie vor die Devise. Staatliche Institutionen werden korrumpiert. Auf diese Weise sichern sich solche Verbrechensorganisationen ihren Fortbestand. Die sind, im Vergleich zum schwerfälligen Staatsapparat, aus organisationssoziologischer Sicht auch noch unglaublich flexibel, verfügen über schlanke und äußerst effiziente Entscheidungsstrukturen, so Misha Glenny:

    "Da gab es überhaupt gar keine Bürokratie: Da gab es nur eine Regel mehr oder weniger: Wenn man versagt, dann droht der Tod. Und wenn man nicht versagt, kriegt man irrsinnig viel Geld. Also es war ein ganz einfaches Businessmodell."

    Mit Auswirkungen auch auf Westeuropa: Denn dort bestehe, so Misha Glenny, die Hauptnachfrage nach all dem, was osteuropäische Mafiaorganisationen zu bieten haben: Drogen gehören dazu, aber beispielsweise auch Billigarbeitskräfte und Prostituierte. Gerade in Sachen Menschenhandel zwischen Ost- und Westeuropa erkennen Experten wie der ehemalige Chefinspektor Manfred Paulus von der Polizeihochschule Villingen-Schwenningen eine verhängnisvolle Entwicklung: Dass nämlich Teile der illegalen Machenschaften auf eine steigende gesellschaftliche Akzeptanz stießen. So seien Bordellbetreiber immer häufiger gern gesehene Gäste in diversen TV-Talkshows. Ihre Arbeit sei längst salonfähig geworden, ihr Schmuddelimage hätten sie erfolgreich abgelegt, der Zuhälter von heute habe zumindest den Bachelor in Betriebswirtshaft – und nicht nur das:

    "Sie errichten Nobelbordelle an sorgsam ausgewählten Orten: Flughafen Stuttgart, Flughafen München, Polizeiakademie Freiburg. Sie errichten Wellnessbereiche. Die Arbeitsebene ist ohne jegliche Vorstrafen. Selbst Drogen sind teilweise zumindest tabu. Ziel dieses Strategiewechsels: Man will ein höchst Interessantes, weil mit Einfluss und Macht ausgestattetes, sehr solventes und dazu auch noch leicht erpressbares Publikum gewinnen. Eine Kundenschicht, die man eigentlich bisher nicht oder nur sehr schwer erreichen konnte: Rechtsanwälte, der Bürgermeister, der Polizeichef, Politiker, Medienvertreter, Prominente um nur ein paar davon zu nennen."

    So verkomme das Handeln der Organisierten Kriminalität zum tolerierbaren und gesellschaftlich akzeptierten Kavaliersdelikt. Kaum einer möchte da noch über die Unterdrückungsmethoden reden, denen sich Menschenhandelsorganisationen bis zum heutigen Tag in den Herkunftsländern ihrer Opfer bedienen. Angesichts solcher Aussagen stand dann auch Professor Susanne Karstedt, Kriminologin an der britischen University of Leeds, auf ziemlich verlorenem Posten. Sie vertrat im Karlsruhe die Auffassung: Je stabiler eine Demokratie, desto besser ist sie gegen die Auswüchse der Organisierten Kriminalität gewappnet.

    "Aber Länder mit fragilen Demokratien, die wir im Demokratisierungsprozess bezeichnen, die sind gefährdet. Außerdem. Länder im Demokratisierungsprozess haben ein extrem hohes Risiko, zu 'failed states' zu werden, also dass es zu einem Versagen der Staatlichkeit kommt. Und da müssen wir sehen, dass die organisierte Kriminalität sehr zu dieser Dynamik beitragen kann."

    Doch diese Aussage blieb in Karlsruhe nicht ohne Widerspruch: Was ist mit Ländern wie Italien, Portugal oder Griechenland, die als demokratisch gelten, in denen aber Mafia-Organisationen seit Ewigzeiten ihr Unwesen treiben? Was mit der Cosa Nostra in der urdemokratischen USA? Gerade stabile westliche Demokratien einschließlich der deutschen zeigten sich derzeit gegenüber den Auswüchsen moderner organisierter Kriminalität besonders anfällig, so die Gegenthese von Wolfgang Hetzer von der europäischen Anti-Korruptionsorganisation OLAF in Brüssel.

    "Nicht erst in der Finanzkrise zeigt sich, dass wir in Gesellschaften leben, in denen sich Lebenssinn in Gewinnmaximierung erschöpft. Dort hat die OK alle Chancen, weiterzuwachsen und zu gedeihen. Schon jetzt ist kaum zu klären, in welchem Maße zwischen legalen, noch-legalen Unternehmen und der OK Deckungsgleichheit besteht. Damit schließt sich der Kreis: Jede Gesellschaft innerhalb und außerhalb Europas hat die OK, die sie verdient, weil sie mit ihr und an ihr verdient."