Ärzte gründeten eigene Praxen, Marxismus-Lehrer schulten zum Versicherungsvertreter um und Wissenschaftler versuchten vor Evaluierungskommissionen zu glänzen, um weiter forschen zu dürfen.
Campus & Karriere zeichnet am Tag der Deutschen Einheit Werdegänge von Akademikern mit DDR-Biografie nach und fragt nach beruflichen Erfolgserlebnissen und Wellentälern.
"Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk! "
Bautz: "Die deutsche Vereinigung hat für mich eine ganze Menge an beruflichen Veränderungen gebracht - im Positiven wie auch im Negativen."
Kokscht: "Die Frage war ja die: Tausche ick Pantoffel gegen Stiletto oder doch eher gegen Gummistiefel?"
Bautz: "Für mich ist sehr schnell klar geworden, dass eine über mehrere Jahre angesammelte Berufsplanung sozusagen ja über den Haufen geworfen wurde."
Prehn: "Und nach einer nicht so langen Zeit merkten wir, dass wir gut ausgebildet sind, dass wir uns nicht zu verstecken haben!"
"So, Frau Humbeck, was haben wir denn Schönes - oder nichts Schönes, sonst wären Sie ja nicht da.
Genau. Ich habe Durchfall, seit ein paar Wochen sag ich mal! Ick hab dat kaum gekaut, dann fängt das schon an.
Wir hatten ja früher schon mal ein bisschen an der Bauchspeicheldrüse. "
Angelika Prehn, Ärztin im Ostberliner Bezirk Friedrichshain. Eine 62-jährige Frau mit blondiertem Haar, Brille, Goldschmuck, blauem T-Shirt - und ohne Kittel. Die Allgemeinmedizinerin arbeitet in ihrer Privat-Praxis. Früher, in der DDR, war sie vom Staat angestellt.
"Ich hatte zum Beispiel eine staatliche Arztpraxis, da hatte man feste Zeiten, wo man erscheinen musste. Man hat so das halbe Gehirn dann vorne abgegeben, weil man sich ja um nichts weiter zu kümmern hatte - man hatte sich nur zu kümmern um die Patienten, was natürlich sehr schön war in der Beziehung. Wir waren aber vollends angestellt, dass man also nicht entscheiden kann: Wann brauche ich eine neue Kanüle. Wir haben ja immer alles bestellen müssen, jede Kanüle, jede Spritze. Das wurde genau abgehakt: Wie viele Kanülen hat die Prehn eigentlich schon verbraucht? Warum verbraucht die so viele? Also das war schon sehr belastend muss ich sagen."
Angelika Prehn musste einen mühsamen Umweg gehen, um Ärztin werden zu können im Arbeiter- und Bauernstaat. Ihr Vater, ein oppositioneller Landarzt, war den Behörden seit jeher ein Dorn im Auge. Seine beiden Kinder wären nie zum begehrten Medizinstudium zugelassen worden, hätte er sie nicht schon früh auf eine Spezial-Schule geschickt. Eine Schule, die DDR-Sportkader ausbildete. Tochter Angelika landete mit elf Jahren auf einem Internat.
"Meine Mutter hat Rotz und Wasser geheult, können Sie sich vorstellen, ihre Kinder wegzugeben. Es war die einzige Lösung, die wir hatten. Wir hätten sonst ... ich hätte nie studieren können."
Die Geräteturnerin lieferte bald gute Ergebnisse und stieg in das DDR-Nationalteam auf. Und als Vorzeigesportlerin durfte Prehn ein Medizin-Studium aufnehmen. Den Sport gab sie dann - nach viel Ärger mit Funktionären - während der Ausbildung auf.
"Das Studium war sehr gut organisiert, muss ich sagen. Wer das wollte, hat das auch sofort in einem Zug geschafft, in den fünf, sechs Jahren. Heute höre ich ja immer: sechs, sieben, acht Jahre studieren sie - d a s wurde staatlich geregelt. In der Beziehung war also das Studium und auch danach, muss ich sagen, die Facharztausbildung, genau durchgestylt muss ich sagen."
Nach der Ausbildung landete Angelika Prehn im staatlichen Gesundheitswesen der DDR. Sie musste sich vom zuständigen Amtsarzt maßregeln lassen, sie musste Propaganda- Wandzeitungen anfertigen, sie musste am 1. Mai - bei den offiziellen "Kampfdemonstrationen" - medizinischen Bereitschaftsdienst leisten. Jahrzehntelang wünschte sie sich, eine eigene, unabhängige Praxis zu besitzen - so wie ihr Vater. Doch das war eine Illusion - bis zum Umbruch.
"Deutschland einig Vaterland! Deutschland einig Vaterland! "
Prehn: "Und dann kam die Wendezeit und wir standen erstmal da. Was machen wir denn nun zuerst? Zum Amtsarzt gerannt, der immer noch der gleiche war, und haben gesagt: Also jetzt können wir uns aber selbständig machen, was er versucht hat, jetzt noch ein Jahr aufzuhalten: Nein, wir bleiben so und das bleiben alles staatliche Praxen, bis es dann nicht mehr ging, nach einem Jahr und wir dann also langsam auch erfuhren, dass man sich nun selbständig machen kann. Ja - was heißt selbständig? Wir hatten ja noch jedes Stück, was in meiner Praxis stand, gehörte ja dem Staat! Ja, aber welchem jetzt? Ja, wir waren jetzt nicht mehr DDR!"
Im März 1991 konnte sich die Ostberliner Ärztin endlich niederlassen. Die neue Freiheit brachte aber erstmal Stress: Wie bekommt man Räume für eine Gemeinschaftspraxis mit einer Kollegin? Wer gibt einen Kredit? Wie funktioniert die Abrechnung über das westdeutsche Punktesystem? Was sind Privatpatienten? Wie stelle ich eine Schwester ein? Wer hilft beim Umbau? Angelika Prehn musste ständig neue Probleme lösen:
"Dann haben wir selbst unsere Männer - wir konnten uns ja nun auch keine Handwerker leisten - also haben wir die Wände selber eingerissen - mit unseren Männern, haben selber renoviert, haben während der Zeit mit Bohrer, Hammer, mit allem, haben wir behandelt. Müssen Sie sich mal vorstellen. Hat den Patienten nichts ausgemacht. Die haben im Dreck gesessen, über die Strippen gegangen. Wir haben unsere Praxis so gemacht, dass wir die Hälfte gebaut haben immer und die Hälfte haben wir behandelt. Aber eben von früh um sieben bis abends um sieben."
Die Akademikerin wollte es genau wissen. Kurz nach Praxiseröffnung opferte sie ihren Jahresurlaub und nahm eine Vertretungsstelle in der Nähe von Heidelberg an, um den Alltag einer funktionierenden West-Praxis kennen zu lernen. Hier übte sie etwa, wie man eine Lungenfunktion misst - in der DDR hatten ihr die Geräte dazu gefehlt.
"Also ich hatte am Anfang den Eindruck - und hab mich da auch so ein bisschen reindrücken lassen: Na ja Ihr seid ja aus dem Osten und so viel habt Ihr ja auch nicht auf dem Kasten. Womit sie zum Teil recht hatten. In der Beziehung, dass wir einfach die Medikamente nicht hatten, die ganze Technik nicht hatten, den Fortschritt hatten wir eben nicht so. Das ist völlig richtig. Das mussten wir lernen. Wir hatten aber unsere fünf Sinne - und die haben wir uns sehr gut. sehr gut erhalten und da waren wir voraus! Und nach einer nicht so langen Zeit in Fortbildung und alles, merkten wir, dass wir gut ausgebildet sind, dass wir uns nicht zu verstecken haben."
Andrea Kokscht, Lehrerin für Politik, Ethik und Geschichte in Berlin-Wedding. Eine 46jährige Frau mit kurzen, blond gefärbten Haaren, rosa Ohrschmuck und Blümchenmappe.
"Natürlich ist es auch erlaubt zu sagen: Europa hat für mich Vorteile. Europa in Verbindung mit dem Euro - fallen jedem sofort die Vorteile ein, dass man beim Umtauschen nichts mehr einbüßt oder überhaupt umtauschen gehen muss, aber im Großen natürlich auch: immer wieder das friedliche Miteinander Ihr wisst, dass es durchaus Animositäten gibt. "
Früher, zu DDR-Zeiten, unterrichtete Andrea Kokscht auch Russisch - und vertretungsweise - Staatsbürgerkunde. Das Lehrmaterial damals, ob Buch oder Tonband, handelte nicht vom friedlichen Miteinander, sondern vom Kampf der Systeme.
Tonband-Vortrag: "Warum gebärdet sich der Imperialismus, besonders der amerikanische, derart aggressiv? Vor allem deshalb, weil er sich historisch in der Defensive befindet. Unsere Epoche ist geprägt vom gesetzmäßigen, weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus."
Die Pädagogin war damals ganz auf Partei-, auf SED-Linie:
Kokscht: "Wenn ich in meinem Beruf, als Mutter, als junge Frau in einem Land lebe und keine größeren Verwerfungen habe, keine Grenzen, keine größeren Grenzen habe. Die es nicht als negativ empfunden hat, nicht ins Ausland fahren zu können, also ins westliche Ausland - was bitte sollte ein solcher Mensch vermissen? Oder blöd finden."
Andrea Kokscht wuchs in einem systemnahen Elternhaus auf. Mit 17 trat sie in die SED ein, mit 18 begann sie ein Lehrer-Studium an der Berliner Humboldt-Universität. Einen Teil der Ausbildung absolvierte die künftige Russischlehrerin in Moskau, am Puschkin-Sprachinstitut. Hier herrschte ein hartes Regime:
"Im Institut selber war es ja klar, das wurde uns vorab so gesagt, dass wir den dort wohnenden Studenten Guten Tag und Auf Wiedersehen sagen durften und dabei sollte es dann aber auch bleiben. Denn es gab ja auch USA-Studenten, Vietnamesen, Afghanen - da hatte grad der Krieg begonnen - aber es war natürlich Blödsinn. Weil, wenn wir uns in der Küche getroffen haben, hat man sich mit einem Vietnamesen beim Glasnudelkochen über andere Dinge auch unterhalten. Aber wir sollten eben keine engeren privaten Kontakte knüpfen."
Atmo DDR: "Thälmannpioniere! Ich begrüße Euch mit unserem Pioniergruß! Für Frieden und Sozialismus. Seid bereit! Immer bereit!"
Nach dem Studium unterrichtete die Ostberliner Lehrerin an einer typischen 10-klassigen "Polytechnischen Oberschule". Pioniernachmittage, Fahnenappelle, FDJ-, Parteigruppen- und Gewerkschaftsarbeit gehörten mit zu ihrem Alltag. 1988 fuhr Andrea Kokscht erneut in die Sowjetunion - zu einer Weiterbildung. Gorbatschows neue Politik führte dazu, dass den DDR-Lehrern offiziell kritische Filme über die Stalin-Zeit vorgeführt wurden. Kokscht' Weltbild geriet ins Wanken - hatte sie all die Jahre "falsche Geschichte" unterrichtet? Die SED-Genossin tat sich schwer, Glasnost und Perestroika zu verdauen.
"Praktisch einen Sinn dafür zu entwickeln, dass es eben nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist, sondern ganz im Gegenteil am Recht vorbei oder zumindest an den Menschenrechten - also wir haben da zwei, drei Filme gesehen, wir haben da in den Kinos gesessen und geheult. Also ich persönlich fand das so furchtbar erstmal: Ja, Scheiße, haste daran gedacht, dass das gar nicht schlecht ist und jetzt so was!"
Kurz darauf der nächste Schock: Zurück an ihrer Schule in Ostberlin wollte niemand mit der Lehrerin über die Stalin-Kritik reden.
"Zu Hause kriegte man dann noch ein bisschen auf die Finger geklopft, eine nicht so viel darüber zu erzählen. Wenn man das nun so ganz alleine neben einem noch 40 Kollegen, die das nicht gesehen haben und du stehst dann da so allein, dann muss man sich da erstmal mit auseinandersetzen."
Kokscht unterrichtete aber wie gehabt weiter - bis zum Zusammenbruch der DDR.
Die Lehrerin war verängstigt: Plötzlich verschwand "ihr Land" - wie sollte es weiter gehen? Wird sie mit ihrer systemnahen Ausbildung weiter arbeiten können? Werden überhaupt noch Russisch- und Ost-Geschichtslehrer gebraucht?
Weizsäcker: " In freier Selbstbestimmung wollen wir die Einheit und Freiheit Deutschlands vollenden."
Kokscht: "Also eine Belastung war für mich, dass ich halt geschichtsmäßig nicht so clever ausgebildet war. Das war belastend. Und ich hab mich immer gewundert, dass man uns da wirklich auf die Schüler losgelassen hat ohne uns vorher eine Weiterbildung oder eine Fortbildung zu geben. Alles, was dazu gelaufen ist, mussten wir uns selber an Land ziehen. Das mussten wir alles von einem Schuljahr zum anderen neu uns beibringen."
Bautz: "Worum gehts mir? Äh, wir beraten im Land Brandenburg vor allen Dingen die kommunalen Verwaltungen in Fragen der Zuwanderung und Integration von Zuwandernden - und das sind in erster Linie Russlanddeutsche, sind aber auch Flüchtlinge und Asylsuchende. "
Wolfgang Bautz, Leiter eines Potsdamer Vereins für Flüchtlingsfragen. Ein 55-jähriger Mann mit grauem Bart, blauen Augen und Lesebrille. Bautz hält Vorträge, etwa vor Krankenkassen-Mitarbeitern, um die medizinische Betreuung von Ausländern zu verbessern. Damals, in der DDR, war er Soziologe. Aber ein zweifelnder und fragender Soziologe.
"Also habe ich versucht, einen Berufsweg einzuschlagen, der ideologisch nicht so sehr belastet ist. Und hab' eine Möglichkeit gefunden, am Lateinamerikainstitut der Universität Rostock zu arbeiten und habe dort sozialgeschichtliche Forschung und Lehre betrieben. Also Dinge, die weit weg waren, die nicht so nah an der DDR dran waren - ich habe mir eine Nische gesucht."
Wolfgang Bautz hatte in Leipzig Sozialwissenschaften studiert - und an der Universität schnell gemerkt, dass das Fachliche auf der Strecke blieb.
"Für mich ist sehr schnell klar geworden, dass das Studium eben in solch einem Zwiespalt war. Auf der einen Seite sollte es sozusagen Wissen um soziologische Theorien vermitteln, auf der anderen Seite war es immer ein Studium, das auf der Linie der Partei sein sollte. Und das gab ein eigenes Spannungsverhältnis - bis hin zu solchen Konsequenzen, dass auch zwei Mitglieder der Seminargruppe exmatrikuliert wurden."
Die beiden Studenten hatten lediglich Zitate von Lenin zusammen gestellt, die den DDR-Sozialismus in ein schlechtes Licht rückten. Bautz, damals Anfang 20, war erschüttert vom Rauswurf der Kommilitonen. Aus Angst protestierte er aber nicht dagegen. Noch heute, 35 Jahre später, macht er sich deshalb Vorwürfe.
"Das hat man einfach hingenommen. Wir haben unter uns, als Studenten, darüber diskutiert. Aber wir haben es nicht öffentlich gemacht. Das ist immer in kleinen Gruppen gewesen - und das, denke ich, zum Beispiel war ein Fehler."
Nach dem Studium stürzte sich der Sozialwissenschaftler in die Lateinamerika-Forschung. Allerdings konnte er nicht nach Übersee fahren, konnte keine ausländischen Experten befragen und konnte nicht mit westdeutschen Kollegen debattieren.
"Ich habe meine ganze Doktorarbeit nur aus Bibliotheksperspektive geschrieben. Und ich weiß beispielsweise, dass ich den Antrag gestellt hatte, die mexikanische Botschaft in der DDR zu besuchen, weil ich wusste, dort gebe es auch ziemlich gut ausgestattete Bibliothek und ich hab über Mexiko geschrieben. Und das war ein Kampf sozusagen, die Erlaubnis zu erhalten, um überhaupt in dieser Bibliothek der mexikanischen Botschaft zu arbeiten. Das sind natürlich alles so Schwierigkeiten gewesen."
Wolfgang Bautz wurde in seiner Forschungsnische von der Wende überrascht. Zwar gab es schon zuvor an seinem Institut kleine Diskussionen über den Zustand der ostdeutschen Gesellschaft. Doch die friedliche Revolution sah der Soziologe nicht kommen.
Als die Massen-Demonstrationen begannen, engagierte sich Bautz für Reformen an seiner Rostocker Hochschule, stellte neue Fragen in den zentralistischen Uni-Gremien.
Bautz: "Ein ganz konkrete Frage: Wie werden Professoren berufen? Wer hat das Recht, vorzuschlagen? Und wer hat das Recht, die Kandidatinnen und Kandidaten zu beurteilen? Also da war ich doch sehr dafür, dass die Universität autonom entscheiden kann und dass sozusagen alle Beteiligten, Studierende wie Lehrkörper, damit einbezogen werden."
Der Wissenschaftler empfand den Herbst `89 als ein "Fenster", das sich auftat. Doch kurz darauf machte sich bei ihm auch Enttäuschung breit: Wurden doch mit dem Anschluss der DDR die westdeutschen Regelungen zur Besetzung der Lehrstühle übernommen. Und das hieß auch in Mecklenburg-Vorpommern: Studenten, Dozenten und Professoren dürfen bei einer zwar Berufung mitreden - das letzte Sagen hat aber die Landesregierung.
"Ich denke, das war eine Sache, die nicht ganz einfach zu verkraften war. Weil natürlich aus solch einer Revolution - da ergeben sich natürlich viele Möglichkeiten. Und dann werden sozusagen durch die Wiedervereinigung ganz andere Bedingungen gesetzt. Und da wird dieses Fenster wieder geschlossen. Persönlich ... fand ich das überhaupt nicht gut."
Prehn: "Na prima! Gucke ich mir nachher gleich an! Ich hab bloß eine Patientin drinne, nehmen Sie Platz! "
Ostdeutsche Akademiker erlebten die Vereinigung ganz unterschiedlich. Es gab Mutige und Ängstliche, Macher und Zauderer. Allgemeinmedizinerin Angelika Prehn etwa gründete eine eigene Praxis, bildete sich in Westdeutschland weiter und engagierte sich zusätzlich im Berufsverband der praktischen Ärzte und Hausärzte, später auch in der Berliner Kassenärztlichen Vereinigung.
Prehn: "Ich wollte eigentlich das ganze System noch mal versuchen mit zu gestalten, so wir ich mir das auch vorstelle. Das konnte man ja zu DDR-Zeiten nicht. Ja, man hat zu DDR-Zeiten seine Praxis so ein bisschen als kleine Zelle gesehen, sein Zuhause als Zelle gesehen, seine Familie. Ja, hier hatte ich jetzt mehr Zellen. Ja, hier konnte ich den anderen Kollegen auch noch mithelfen, die das vielleicht auch nicht so geschafft haben. Denn die haben ja auch ihr Studium und ihren Facharzt gemacht - aber kamen eben nicht so in die Puschen - denen wollte ich versuchen, auch Unterstützung zu geben."
Ganz anders reagierte Andrea Kokscht auf die Umwälzungen in Ostdeutschland. Die Russisch- und Geschichtslehrerin bekam 1991 Panik, weil sie von heute auf morgen etwas anderes unterrichten sollte.
"Und hab jetzt wirklich überlegt: Oh Gott, du hast jetzt deinen Stundenplan für nächstes Jahr in der Hand, da steht "Profilkurs Geschichte". Die Leute sind 17 Jahre alt. Die machen das erste Mal in diesem Land, an dieser Schule Abitur. Denen kannst du jetzt nicht irgendwas vorlabern."
Kokscht fuhr verzweifelt in den Westteil Berlins, um beim ehemaligen "Klassenfeind" Hilfe zu suchen.
"Und es gab das Robert-Koch - oder gibt immer noch- das Robert-Koch-Gymnasium in Kreuzberg und da bin ich auf einen Freitagmittag hingegangen. Und da sagt die Sekretärin: Oh ich weiß gar nicht, ob noch jemand da ist. Doch, sagte sie, Sie haben Glück! Da sitzt eine Kollegin und sogar von ihrem Fach. Und das war Frau Krüger. Und die war bei allen Dingen, die man an sie heran trug, immer sehr euphorisch und war froh, dass sie ihre Hilfe anbieten konnte. Und ich hab gesagt, wie es ist: Ich soll hier Profilkurs ... ich soll die Schüler profilieren, ich weiß nicht, wie das geht, weil ich mich selber nicht profilieren konnte bisher. Und: Na, das kriegen wir hin, kriegen wir hin. Welche Klausuraufgaben, wie das bewertet wird, was macht man, wenn ein Schüler eine Seite schreibt, aber nicht zum Thema zum Beispiel. Und dass ich mit der Frau nun so ein Glück hatte, war schon irre."
Das Fachliche bekam die Pädagogin schnell in den Griff, bald unterrichtete sie auch im Westteil der Stadt. Doch mit der DDR hat die Geschichtslehrerin bis heute nicht abgeschlossen. Seit Jahren fragt sie sich - etwa wenn sie Berichte hört von verfolgten und benachteiligten Schülern - warum sie damals, als Lehrerin Mitte/Ende zwanzig, von all dem nichts mitbekommen hat.
"Ich bin heute noch sehr ergriffen, wenn ich so Sachen höre, die damals gelaufen sind. Oder meinetwegen auch im 2. Weltkrieg mit Russen und Frauen und solche Geschichten. Keine Frage. Das ergreift mich sehr. Hätte es, hätte es damals nicht genug Leute geben können, die das eher schon heraus gefunden hätten und auch angeprangert hätten. Nur die Wenigen, die dann weggesperrt worden sind?"
Andererseits hält Andrea Kokscht an ihrer Überzeugung fest, dass vieles in der DDR - auch die Vision vom Sozialismus - nicht falsch gewesen sei.
"Ne umformulierte Frage wäre die eines Schülers, der mir vor ein paar Monaten die Frage gestellt hat: Wo war es denn besser? Damals oder jetzt? Ja: Wo war es besser - geht nicht, kann man nicht sagen."
Bautz: "Oftmals werden dann im Arzt-Patienten-Gespräch sehr komplizierte und sehr schwierige Sachen besprochen. Und wenn's dann noch um vielleicht Dinge geht, die was mit Trauma, mit Foltererlebnissen etwa bei Flüchtlingen zu tun haben, dann ist das oftmals sehr belastend."
Die Ärztin Angelika Prehn nutzte die Chancen der deutschen Vereinigung, Geschichtslehrerin Andrea Kokscht haderte mit sich und der DDR - Soziologe Wolfgang Bautz tat beides. Der Wissenschaftler grübelte, warum er - trotz aller Zweifel - nicht das DDR-Gesamtsystem in Frage gestellt hatte. Zudem sollte sein Institut geschlossen werden. So entschied er sich zur Flucht nach vorn: Bautz ging 1992 in das Land, das er nur aus der Bibliothek kannte. Für den evangelischen Entwicklungsdienst reiste er nach Mexiko, um dort eine Privatuniversität aufzubauen - im Gepäck sein Wissen aus der DDR.
"Was ich gebrauchen konnte ist: Ich habe mich in meiner Promotion mit dem mexikanischen Hochschulwesen beschäftigt. Und noch konkreter mit der Universitätsreformbewegung. Und habe natürlich viele Gedanken, die in der mexikanischen Universitätsreformbewegung eine Rolle spielten - diese Gedanken habe ich mitgebracht sozusagen."
Bautz setzte sich dafür ein, dass die lateinamerikanische Universität besonders studentenfreundlich wurde und sich sozial Schwachen öffnete. Sieben Jahre später kam der Entwicklungshelfer zurück nach Deutschland. Während er nun ohne Job und ohne Erspartes da stand, hatten viele seiner Ex-Kollegen mittlerweile Karriere gemacht.
"Da hat sich sehr viel die Spreu vom Weizen getrennt. Also es gab Freunde, Freundinnen, wo man sehr schnell wieder auf gleicher Wellenlänge war - und es gab andere Personen, wo das sich eben nicht mehr eingestellt hat. Deren Interesse, deren tägliches Leben hatte sich geändert. Die hatten inzwischen ihr Häuschen und die hatten vielleicht zwei Autos vor dem Haus stehen. Und ich hab ja hier in Deutschland sozusagen wieder beim Punkt null angefangen - und da wurde mir bewusst, das Land hat sich sehr verändert in diesen ... in diesen Jahren."
Ost-Elite im Umbruch - was sagt die Wissenschaft über die Akademiker im Wende- und Vereinigungsprozess? Der Hallenser Sozialforscher Gustav-Wilhelm Bathke hat detailliert untersucht, wie die Studierten mit den beruflichen Veränderungen klar gekommen sind.
"Interessant ist natürlich, dass gerade die Absolventen, die nach der Wende sehr früh ihren Arbeitsplatz verloren haben, in der neuen Gesellschaft größere Chancen hatten. Es ist leider so gewesen, dass einige, die kleben geblieben sind, die gesagt haben: Ach es wird schon noch mit dem Betrieb voran gehen, die also sich nicht gelöst haben, später in ein viel größeres Loch gefallen sind."
Stasi-Offiziere, SED- und Blockpartei-Funktionäre, FDJ-Sekretäre und Lehrer für Marxismus-Leninismus - die systemnahen Akademiker landeten zu jener Zeit zuerst auf der Strasse.
"Und das war natürlich zu dieser Zeit auch eine große Chance. Sie wissen ja, wie sich die Dienstleistungsbereiche gerade in den neuen Bundesländern entwickelt haben. Und die Unternehmen werden schon bald erkannt haben, dass es nicht um das rein Ideologische nur geht, sondern dass diese Absolventen durchaus in der Lage sind, sich sehr schnell, clever in neue Bereiche einzuarbeiten."
Professor Gustav-Wilhelm Bathke hat zu DDR-Zeiten im Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig gearbeitet. Dieses Institut untersuchte seit Anfang der 80er Jahre regelmäßig mehr als 4000 Studierende. Nach der Vereinigung befragte Bathke diese Gruppe erneut - nun im Auftrag des Hannoverschen Hochschul- Informations-Systems. Die mittlerweile fertig Studierten gaben Auskunft über ihre Erfolge auf dem neuen, gesamtdeutschen Arbeitsmarkt. Bilanz: Mediziner, Juristen und die meisten Lehrer hatten kaum Probleme, denn sie wurden gebraucht. Landwirte, Ökonomen und Ingenieure litten dagegen unter der flächendeckenden Schließung von landwirtschaftlichen und Industrie-Betrieben. Viele von ihnen landeten in Arbeits-Beschaffungs-Maßnahmen oder nahmen Billig-Jobs an.
Bathke: "Es hat sich gezeigt, dass gerade Frauen sehr früh begonnen haben, ihre Qualifikationen nach unten zu transformieren. Das heißt, sie waren dann erfolgreich in der Tätigkeit; die Ingenieurin als Sekretärin, aber war unterqualifiziert eingesetzt. Das finden wir ja heute noch bei vielen Frauen."
Laut Studie betrug 1991/92 die Arbeitslosigkeit unter den ostdeutschen Hochschulabsolventen rund sieben Prozent. Der Ost-Durchschnitt lag hingegen bei 14 Prozent. Grund für die hohe Beschäftigungsquote der Akademiker: Sie waren flexibler als etwa spezialisierte Facharbeiter.
"Zum zweiten sehe ich die Ursache darin, dass das natürlich jüngere Leute waren, die waren mobil, die konnten sich anpassen. Es haben zum Beispiel elf Prozent bereits eine neue Arbeit gesucht in den alten Bundesländern. Übrigens ein Prozess, den wir damals schon problematisiert haben, weil das einfach dazu führt, dass die Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern, was das Potential für Wissenschaft und Forschung betrifft, sich eher auseinander dividiert als dass es zusammenrückt."
Wissenschaft und Forschung - ein Bereich, in dem es besonders starke Umwälzungen gab im Zuge der Vereinigung.
Simon: "Eigentlich waren wir ja nicht daran interessiert, die DDR-Wissenschaft zu verkleinern, sondern sie möglichst ungeschoren für das gesamte Deutschland zu retten. Das sollte ja doch eigentlich das Unternehmen sein."
So Professor Dieter Simon, der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Anfang der 90er Jahre. Simon, verantwortlich für die Begutachtung der ostdeutschen Akademien, musste rückblickend einräumen, dass doch zu stark verkleinert worden war. Es habe "eklatante Fehleinschätzungen" gegeben; die Leistung der DDR-Forschung sei völlig unterschätzt worden. Ähnlich äußert sich heute der Hochschulforscher Peer Pasternak. Er sieht die Fehler weniger in der Schließung politisch belasteter Institute - etwa der für Marxismus- Leninismus. Ihm geht es mehr um die rigorose fachliche Überprüfung zehntausender Uni-Forscher.
Pasternak: "Es gab ja auch in der DDR wissenschaftliche Qualifikationsverfahren. Es gab also - jedenfalls der Form nach - ähnlichen Weg der akademischen Qualifikation wie in Westdeutschland. Vor diesem Hintergrund hielten es die meisten Wissenschaftler für eine Zumutung, zu einem großen Teil von Auswärtigen besetztem Gremium belegen zu müssen, dass sie wissenschaftlich leistungsfähig seien. Zumal die auswärtigen Mitglieder dieser Gremien in der Regel keinen blassen Schimmer von den wissenschaftlichen Produktionsbedingungen, die in der DDR herrschten, hatten."
Nach Schätzungen des Wissenschaftlers der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wurden in den ersten fünf Jahren nach der deutschen Vereinigung rund 60 Prozent der Ost-Dozenten und Professoren entlassen - oder in den Vorruhestand geschickt. Dass diese Forscher einst nur wenig Möglichkeiten hatten, international zu publizieren - das hätten die west-dominierten Überprüfungskommissionen damals kaum berücksichtigt, kritisiert Pasternak. Auf der anderen Seite seien auf den frei gewordenen Ost-Uni-Stellen viele Westdeutsche gelandet.
Pasternak: "Es gab dann einige, die nach Lage ihrer bisherigen wissenschaftlichen Leistungen in Westdeutschland niemals zum Zuge gekommen wären. Und die kamen dann plötzlich in Ostdeutschland zum Zuge. Das sind Ausnahmen, aber diese Ausnahmen prägen dann die Wahrnehmung derjenigen, die so etwas beobachten. Das muss man also in Rechnung stellen."
Probleme gab es auch beim Wissenschaftler-Integrations-Programm, kurz WIP, das rund 2500 Forscher der aufgelösten DDR-Akademie der Wissenschaften auffangen - und an die Hochschulen überführen sollte. Jahrelang arbeitete diese Gruppe mit einem unsicheren Status - bis sich herausstellte, dass die Universitäten kaum Geld hatten für eine Übernahme. Aber obwohl es damals viele persönliche Enttäuschungen gab: Die Ost-Hochschulen wurden zügig modernisiert. Und die meisten ehemaligen Unimitarbeiter fanden bald wieder einen Job.
Pasternak: "Die Arbeitslosigkeit ist gering. Das liegt daran, dass Wissenschaftler in der Regel kreative Leute sind und aus ihrer Situation - so misslich sie auch erstmal erscheinen mag - irgend etwas Positives zu machen verstehen."
Allerdings gibt es in der akademischen Landschaft bis heute Ost-West-Unterschiede. Hochschulforscher Peer Pasternak beklagt, dass es nur wenige Ost-Dozenten geschafft haben, an eine West-Uni zu gelangen. Das gelte besonders für den Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften: Hier kämen von den insgesamt 8500 Professoren im Westen ganze 50 aus dem Osten, erklärt der Experte, die Ossis hätten einfach schlechtere Karten bei einer Uni-Bewerbung.
Pasternak: "Es gibt eine gewisse Unvergleichlichkeit der fachlichen Biografien. Also wenn ein Ostdeutscher seine Publikationsliste vorlegt und die Hälfte der Titel heißt "Woprosi Filosofii", das heißt "Fragen der Philosophie" auf Russisch - oder in einer vietnamesischen Zeitschrift veröffentlicht hat, weil es dort eine Tagung gegeben hat in Hanoi, dann vermag ein westdeutscher Wissenschaftler ja überhaupt nicht einzuschätzen: Dokumentiert sich da eine bedeutende wissenschaftliche Leistung oder nicht?"
Zeitsignal: " Es ist zwei Uhr, Sie hören Nachrichten. Die deutsche Zweistaatlichkeit ist beendet. Um Mitternacht wurde der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland wirksam."
Und heute? Wie gehen Ostdeutsche Akademiker mit ihren DDR- und Vereinigungs-Erfahrungen um? Ärztin Angelika Prehn ist mittlerweile Chefin der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin - ein Job, den sie neben ihrer Praxisarbeit erledigt - und der immer wieder zu Ost-West-Vergleichen herausfordert. Obwohl die Medizinerin früher systemkritisch war, sympathisiert sie heute - beim Umgang mit den Patienten - mit einzelnen "Errungenschaften" der DDR.
Prehn: "Entweder man hat eine Diktatur oder man hat eine Freiheit. Diktatur ist eben alles vorgeschrieben. Und das war natürlich auch für manche sehr einfach. Die kamen zum Arzt, mussten den Arm hinhalten, wurden nicht groß gefragt, wurden geimpft. Dadurch hatte man natürlich eine höhere Durchimpfrate. Heute frage ich die Leute und bitte sie darum und dann haben sie ihre Bedenken und dann überlegen sie es sich. Und dann sind sie nicht durchgeimpft. Ich sage immer: Eine kleine Diktatur würde uns gut tun, mein Mann sagt immer: Das gibt es nicht. Ich würde gerne ein Gesetz haben, wo es heißt, es ist eine Impfpflicht. Andere würden das nicht gerne haben."
Soziologe Wolfgang Bautz, der zu DDR-Zeiten nie im Ausland forschen durfte und nach der Wende Entwicklungshelfer wurde, baut heute in Brandenburg ein Netzwerk ehrenamtlicher Ausländerberater auf. Bautz wirbt Dolmetscher und Mentoren an, die Zugewanderte bei Behörden- und Arztbesuchen begleiten.
Bautz: "Ich habe eigene Erfahrungen mit Wanderung, mit Auswanderung, mit Rückwanderung, habe Erfahrungen, wie ich in einem anderen Land aufgenommen wurde. Und ich denke, dass es für ein demokratisches Deutschland eben auch wichtig ist, eben mit allen Arten von Minderheiten so weit wie möglich demokratisch umzugehen."
Kokscht: "Ihr habt jetzt praktisch die Aufgabe, die von Euch individuelle gefundenen Antworten auf die Fragestellung zu durchleuchten, ob Ihr Euch ergänzen könnt, zu schauen, ob man sich vielleicht schon streitet, wäre ja auch nicht schlecht ... "
Die Berliner Lehrerin Andrea Kokscht hat in den vergangenen Jahren Kurse besucht zum Thema DDR-Geschichte; außerdem hat sie sich fortgebildet, um neben Geschichte, Politik und Ethik auch noch "Darstellendes Spiel" zu unterrichten. Ihre Ost-Erfahrungen versucht sie mit in den Unterricht einfließen zu lassen. So warnt sie ihre Schüler vor kritikloser Anpassung wie in der DDR.
Kokscht: "Wenn vielleicht einer der Kritikpunkte sein könnte am DDR-Bildungssystem, dass oftmals alles schön glatt gebügelt und fertig und die Überschrift schon alles aussagte war, dann ist das eine Sache, die ich mir heute mal vornehme, anders zu machen. Also tatsächlich philosophischen oder auch geschichtlichen Punkten mindestens zwei Meinungen gegenüber zu stellen. Oder auch die Schüler zu zwingen, sich damit zu beschäftigen: Was könnte man denn dazu noch sagen? "
Aufbruch, Suche, Rückblick, Neuorientierung - die meisten Ost-Akademiker erlebten nach der Wende viel Aufregung in ihrem Beruf. Sozialforscher Gustav-Wilhelm Bathke bilanziert, der Staat hätte dieser hochqualifizierten Bevölkerungsschicht mehr helfen sollen. Speziell den vielen Ingenieuren, die in den aufgelösten "volkseigenen" Betrieben und Kombinaten gearbeitet haben.
Bathke: "Und das sehe ich als ein Problem. Denn wenn wir heute die Diskussion haben: Wir haben zu wenig Ingenieure, dann war ja gerade nach der Wende ein enormer Überhang an Ingenieuren in der DDR vorhanden. Und ich könnte mir vorstellen, wenn sozusagen systematischer gelaufen wäre, hätten wir vielleicht nicht so große Lücken, wie sie sich heute auftun."
Der Wissenschaftler berichtet, in den vergangenen Jahren habe er keine Geldgeber mehr gefunden, die eine Studie über ehemalige DDR-Akademiker finanziert hätten. Seine Untersuchung aus dem Jahre 1992 sei die letzte Erhebung dieser Art gewesen. Auch die normale Statistik trifft heute keine Aussagen mehr über die Hochschulabsolventen. Die Bundesagentur für Arbeit etwa hat nur Zahlen über die Arbeitslosigkeit in den einzelnen Bundesländern - aber keine Zahlen, die zwischen Ost- und West-Herkunft der Akademiker unterscheiden. Ein Agentur-Sprecher dazu lakonisch: "Da könnte man genau so gut nach rothaarigen Bartträgern differenzieren. Das ist zu speziell", erklärt der Behördenvertreter wörtlich. Und weiter: "Wir haben schließlich 17 Jahre nach der Einheit." Hochschulforscher Peer Pasternak kennt das Problem:
"Also man kann das bedauern, weil es für bestimmte Fragestellungen - darauf stoßen wir in unserer wissenschaftlichen Arbeit auch ständig - für bestimmte Fragestellungen würde man es gern wissen diesen Unterschied der Herkünfte. Aber man hat sich dann Mitte der 90er Jahre entschlossen zusagen: Die Statistik darf nicht eine Teilung fortschreiben, die wir staatsrechtlich seit langem überwunden haben. Da ist der Statistik ein politischer Wille aufgenötigt worden und seitdem wird dort nicht mehr differenziert. "
Campus & Karriere zeichnet am Tag der Deutschen Einheit Werdegänge von Akademikern mit DDR-Biografie nach und fragt nach beruflichen Erfolgserlebnissen und Wellentälern.
"Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk! "
Bautz: "Die deutsche Vereinigung hat für mich eine ganze Menge an beruflichen Veränderungen gebracht - im Positiven wie auch im Negativen."
Kokscht: "Die Frage war ja die: Tausche ick Pantoffel gegen Stiletto oder doch eher gegen Gummistiefel?"
Bautz: "Für mich ist sehr schnell klar geworden, dass eine über mehrere Jahre angesammelte Berufsplanung sozusagen ja über den Haufen geworfen wurde."
Prehn: "Und nach einer nicht so langen Zeit merkten wir, dass wir gut ausgebildet sind, dass wir uns nicht zu verstecken haben!"
"So, Frau Humbeck, was haben wir denn Schönes - oder nichts Schönes, sonst wären Sie ja nicht da.
Genau. Ich habe Durchfall, seit ein paar Wochen sag ich mal! Ick hab dat kaum gekaut, dann fängt das schon an.
Wir hatten ja früher schon mal ein bisschen an der Bauchspeicheldrüse. "
Angelika Prehn, Ärztin im Ostberliner Bezirk Friedrichshain. Eine 62-jährige Frau mit blondiertem Haar, Brille, Goldschmuck, blauem T-Shirt - und ohne Kittel. Die Allgemeinmedizinerin arbeitet in ihrer Privat-Praxis. Früher, in der DDR, war sie vom Staat angestellt.
"Ich hatte zum Beispiel eine staatliche Arztpraxis, da hatte man feste Zeiten, wo man erscheinen musste. Man hat so das halbe Gehirn dann vorne abgegeben, weil man sich ja um nichts weiter zu kümmern hatte - man hatte sich nur zu kümmern um die Patienten, was natürlich sehr schön war in der Beziehung. Wir waren aber vollends angestellt, dass man also nicht entscheiden kann: Wann brauche ich eine neue Kanüle. Wir haben ja immer alles bestellen müssen, jede Kanüle, jede Spritze. Das wurde genau abgehakt: Wie viele Kanülen hat die Prehn eigentlich schon verbraucht? Warum verbraucht die so viele? Also das war schon sehr belastend muss ich sagen."
Angelika Prehn musste einen mühsamen Umweg gehen, um Ärztin werden zu können im Arbeiter- und Bauernstaat. Ihr Vater, ein oppositioneller Landarzt, war den Behörden seit jeher ein Dorn im Auge. Seine beiden Kinder wären nie zum begehrten Medizinstudium zugelassen worden, hätte er sie nicht schon früh auf eine Spezial-Schule geschickt. Eine Schule, die DDR-Sportkader ausbildete. Tochter Angelika landete mit elf Jahren auf einem Internat.
"Meine Mutter hat Rotz und Wasser geheult, können Sie sich vorstellen, ihre Kinder wegzugeben. Es war die einzige Lösung, die wir hatten. Wir hätten sonst ... ich hätte nie studieren können."
Die Geräteturnerin lieferte bald gute Ergebnisse und stieg in das DDR-Nationalteam auf. Und als Vorzeigesportlerin durfte Prehn ein Medizin-Studium aufnehmen. Den Sport gab sie dann - nach viel Ärger mit Funktionären - während der Ausbildung auf.
"Das Studium war sehr gut organisiert, muss ich sagen. Wer das wollte, hat das auch sofort in einem Zug geschafft, in den fünf, sechs Jahren. Heute höre ich ja immer: sechs, sieben, acht Jahre studieren sie - d a s wurde staatlich geregelt. In der Beziehung war also das Studium und auch danach, muss ich sagen, die Facharztausbildung, genau durchgestylt muss ich sagen."
Nach der Ausbildung landete Angelika Prehn im staatlichen Gesundheitswesen der DDR. Sie musste sich vom zuständigen Amtsarzt maßregeln lassen, sie musste Propaganda- Wandzeitungen anfertigen, sie musste am 1. Mai - bei den offiziellen "Kampfdemonstrationen" - medizinischen Bereitschaftsdienst leisten. Jahrzehntelang wünschte sie sich, eine eigene, unabhängige Praxis zu besitzen - so wie ihr Vater. Doch das war eine Illusion - bis zum Umbruch.
"Deutschland einig Vaterland! Deutschland einig Vaterland! "
Prehn: "Und dann kam die Wendezeit und wir standen erstmal da. Was machen wir denn nun zuerst? Zum Amtsarzt gerannt, der immer noch der gleiche war, und haben gesagt: Also jetzt können wir uns aber selbständig machen, was er versucht hat, jetzt noch ein Jahr aufzuhalten: Nein, wir bleiben so und das bleiben alles staatliche Praxen, bis es dann nicht mehr ging, nach einem Jahr und wir dann also langsam auch erfuhren, dass man sich nun selbständig machen kann. Ja - was heißt selbständig? Wir hatten ja noch jedes Stück, was in meiner Praxis stand, gehörte ja dem Staat! Ja, aber welchem jetzt? Ja, wir waren jetzt nicht mehr DDR!"
Im März 1991 konnte sich die Ostberliner Ärztin endlich niederlassen. Die neue Freiheit brachte aber erstmal Stress: Wie bekommt man Räume für eine Gemeinschaftspraxis mit einer Kollegin? Wer gibt einen Kredit? Wie funktioniert die Abrechnung über das westdeutsche Punktesystem? Was sind Privatpatienten? Wie stelle ich eine Schwester ein? Wer hilft beim Umbau? Angelika Prehn musste ständig neue Probleme lösen:
"Dann haben wir selbst unsere Männer - wir konnten uns ja nun auch keine Handwerker leisten - also haben wir die Wände selber eingerissen - mit unseren Männern, haben selber renoviert, haben während der Zeit mit Bohrer, Hammer, mit allem, haben wir behandelt. Müssen Sie sich mal vorstellen. Hat den Patienten nichts ausgemacht. Die haben im Dreck gesessen, über die Strippen gegangen. Wir haben unsere Praxis so gemacht, dass wir die Hälfte gebaut haben immer und die Hälfte haben wir behandelt. Aber eben von früh um sieben bis abends um sieben."
Die Akademikerin wollte es genau wissen. Kurz nach Praxiseröffnung opferte sie ihren Jahresurlaub und nahm eine Vertretungsstelle in der Nähe von Heidelberg an, um den Alltag einer funktionierenden West-Praxis kennen zu lernen. Hier übte sie etwa, wie man eine Lungenfunktion misst - in der DDR hatten ihr die Geräte dazu gefehlt.
"Also ich hatte am Anfang den Eindruck - und hab mich da auch so ein bisschen reindrücken lassen: Na ja Ihr seid ja aus dem Osten und so viel habt Ihr ja auch nicht auf dem Kasten. Womit sie zum Teil recht hatten. In der Beziehung, dass wir einfach die Medikamente nicht hatten, die ganze Technik nicht hatten, den Fortschritt hatten wir eben nicht so. Das ist völlig richtig. Das mussten wir lernen. Wir hatten aber unsere fünf Sinne - und die haben wir uns sehr gut. sehr gut erhalten und da waren wir voraus! Und nach einer nicht so langen Zeit in Fortbildung und alles, merkten wir, dass wir gut ausgebildet sind, dass wir uns nicht zu verstecken haben."
Andrea Kokscht, Lehrerin für Politik, Ethik und Geschichte in Berlin-Wedding. Eine 46jährige Frau mit kurzen, blond gefärbten Haaren, rosa Ohrschmuck und Blümchenmappe.
"Natürlich ist es auch erlaubt zu sagen: Europa hat für mich Vorteile. Europa in Verbindung mit dem Euro - fallen jedem sofort die Vorteile ein, dass man beim Umtauschen nichts mehr einbüßt oder überhaupt umtauschen gehen muss, aber im Großen natürlich auch: immer wieder das friedliche Miteinander Ihr wisst, dass es durchaus Animositäten gibt. "
Früher, zu DDR-Zeiten, unterrichtete Andrea Kokscht auch Russisch - und vertretungsweise - Staatsbürgerkunde. Das Lehrmaterial damals, ob Buch oder Tonband, handelte nicht vom friedlichen Miteinander, sondern vom Kampf der Systeme.
Tonband-Vortrag: "Warum gebärdet sich der Imperialismus, besonders der amerikanische, derart aggressiv? Vor allem deshalb, weil er sich historisch in der Defensive befindet. Unsere Epoche ist geprägt vom gesetzmäßigen, weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus."
Die Pädagogin war damals ganz auf Partei-, auf SED-Linie:
Kokscht: "Wenn ich in meinem Beruf, als Mutter, als junge Frau in einem Land lebe und keine größeren Verwerfungen habe, keine Grenzen, keine größeren Grenzen habe. Die es nicht als negativ empfunden hat, nicht ins Ausland fahren zu können, also ins westliche Ausland - was bitte sollte ein solcher Mensch vermissen? Oder blöd finden."
Andrea Kokscht wuchs in einem systemnahen Elternhaus auf. Mit 17 trat sie in die SED ein, mit 18 begann sie ein Lehrer-Studium an der Berliner Humboldt-Universität. Einen Teil der Ausbildung absolvierte die künftige Russischlehrerin in Moskau, am Puschkin-Sprachinstitut. Hier herrschte ein hartes Regime:
"Im Institut selber war es ja klar, das wurde uns vorab so gesagt, dass wir den dort wohnenden Studenten Guten Tag und Auf Wiedersehen sagen durften und dabei sollte es dann aber auch bleiben. Denn es gab ja auch USA-Studenten, Vietnamesen, Afghanen - da hatte grad der Krieg begonnen - aber es war natürlich Blödsinn. Weil, wenn wir uns in der Küche getroffen haben, hat man sich mit einem Vietnamesen beim Glasnudelkochen über andere Dinge auch unterhalten. Aber wir sollten eben keine engeren privaten Kontakte knüpfen."
Atmo DDR: "Thälmannpioniere! Ich begrüße Euch mit unserem Pioniergruß! Für Frieden und Sozialismus. Seid bereit! Immer bereit!"
Nach dem Studium unterrichtete die Ostberliner Lehrerin an einer typischen 10-klassigen "Polytechnischen Oberschule". Pioniernachmittage, Fahnenappelle, FDJ-, Parteigruppen- und Gewerkschaftsarbeit gehörten mit zu ihrem Alltag. 1988 fuhr Andrea Kokscht erneut in die Sowjetunion - zu einer Weiterbildung. Gorbatschows neue Politik führte dazu, dass den DDR-Lehrern offiziell kritische Filme über die Stalin-Zeit vorgeführt wurden. Kokscht' Weltbild geriet ins Wanken - hatte sie all die Jahre "falsche Geschichte" unterrichtet? Die SED-Genossin tat sich schwer, Glasnost und Perestroika zu verdauen.
"Praktisch einen Sinn dafür zu entwickeln, dass es eben nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist, sondern ganz im Gegenteil am Recht vorbei oder zumindest an den Menschenrechten - also wir haben da zwei, drei Filme gesehen, wir haben da in den Kinos gesessen und geheult. Also ich persönlich fand das so furchtbar erstmal: Ja, Scheiße, haste daran gedacht, dass das gar nicht schlecht ist und jetzt so was!"
Kurz darauf der nächste Schock: Zurück an ihrer Schule in Ostberlin wollte niemand mit der Lehrerin über die Stalin-Kritik reden.
"Zu Hause kriegte man dann noch ein bisschen auf die Finger geklopft, eine nicht so viel darüber zu erzählen. Wenn man das nun so ganz alleine neben einem noch 40 Kollegen, die das nicht gesehen haben und du stehst dann da so allein, dann muss man sich da erstmal mit auseinandersetzen."
Kokscht unterrichtete aber wie gehabt weiter - bis zum Zusammenbruch der DDR.
Die Lehrerin war verängstigt: Plötzlich verschwand "ihr Land" - wie sollte es weiter gehen? Wird sie mit ihrer systemnahen Ausbildung weiter arbeiten können? Werden überhaupt noch Russisch- und Ost-Geschichtslehrer gebraucht?
Weizsäcker: " In freier Selbstbestimmung wollen wir die Einheit und Freiheit Deutschlands vollenden."
Kokscht: "Also eine Belastung war für mich, dass ich halt geschichtsmäßig nicht so clever ausgebildet war. Das war belastend. Und ich hab mich immer gewundert, dass man uns da wirklich auf die Schüler losgelassen hat ohne uns vorher eine Weiterbildung oder eine Fortbildung zu geben. Alles, was dazu gelaufen ist, mussten wir uns selber an Land ziehen. Das mussten wir alles von einem Schuljahr zum anderen neu uns beibringen."
Bautz: "Worum gehts mir? Äh, wir beraten im Land Brandenburg vor allen Dingen die kommunalen Verwaltungen in Fragen der Zuwanderung und Integration von Zuwandernden - und das sind in erster Linie Russlanddeutsche, sind aber auch Flüchtlinge und Asylsuchende. "
Wolfgang Bautz, Leiter eines Potsdamer Vereins für Flüchtlingsfragen. Ein 55-jähriger Mann mit grauem Bart, blauen Augen und Lesebrille. Bautz hält Vorträge, etwa vor Krankenkassen-Mitarbeitern, um die medizinische Betreuung von Ausländern zu verbessern. Damals, in der DDR, war er Soziologe. Aber ein zweifelnder und fragender Soziologe.
"Also habe ich versucht, einen Berufsweg einzuschlagen, der ideologisch nicht so sehr belastet ist. Und hab' eine Möglichkeit gefunden, am Lateinamerikainstitut der Universität Rostock zu arbeiten und habe dort sozialgeschichtliche Forschung und Lehre betrieben. Also Dinge, die weit weg waren, die nicht so nah an der DDR dran waren - ich habe mir eine Nische gesucht."
Wolfgang Bautz hatte in Leipzig Sozialwissenschaften studiert - und an der Universität schnell gemerkt, dass das Fachliche auf der Strecke blieb.
"Für mich ist sehr schnell klar geworden, dass das Studium eben in solch einem Zwiespalt war. Auf der einen Seite sollte es sozusagen Wissen um soziologische Theorien vermitteln, auf der anderen Seite war es immer ein Studium, das auf der Linie der Partei sein sollte. Und das gab ein eigenes Spannungsverhältnis - bis hin zu solchen Konsequenzen, dass auch zwei Mitglieder der Seminargruppe exmatrikuliert wurden."
Die beiden Studenten hatten lediglich Zitate von Lenin zusammen gestellt, die den DDR-Sozialismus in ein schlechtes Licht rückten. Bautz, damals Anfang 20, war erschüttert vom Rauswurf der Kommilitonen. Aus Angst protestierte er aber nicht dagegen. Noch heute, 35 Jahre später, macht er sich deshalb Vorwürfe.
"Das hat man einfach hingenommen. Wir haben unter uns, als Studenten, darüber diskutiert. Aber wir haben es nicht öffentlich gemacht. Das ist immer in kleinen Gruppen gewesen - und das, denke ich, zum Beispiel war ein Fehler."
Nach dem Studium stürzte sich der Sozialwissenschaftler in die Lateinamerika-Forschung. Allerdings konnte er nicht nach Übersee fahren, konnte keine ausländischen Experten befragen und konnte nicht mit westdeutschen Kollegen debattieren.
"Ich habe meine ganze Doktorarbeit nur aus Bibliotheksperspektive geschrieben. Und ich weiß beispielsweise, dass ich den Antrag gestellt hatte, die mexikanische Botschaft in der DDR zu besuchen, weil ich wusste, dort gebe es auch ziemlich gut ausgestattete Bibliothek und ich hab über Mexiko geschrieben. Und das war ein Kampf sozusagen, die Erlaubnis zu erhalten, um überhaupt in dieser Bibliothek der mexikanischen Botschaft zu arbeiten. Das sind natürlich alles so Schwierigkeiten gewesen."
Wolfgang Bautz wurde in seiner Forschungsnische von der Wende überrascht. Zwar gab es schon zuvor an seinem Institut kleine Diskussionen über den Zustand der ostdeutschen Gesellschaft. Doch die friedliche Revolution sah der Soziologe nicht kommen.
Als die Massen-Demonstrationen begannen, engagierte sich Bautz für Reformen an seiner Rostocker Hochschule, stellte neue Fragen in den zentralistischen Uni-Gremien.
Bautz: "Ein ganz konkrete Frage: Wie werden Professoren berufen? Wer hat das Recht, vorzuschlagen? Und wer hat das Recht, die Kandidatinnen und Kandidaten zu beurteilen? Also da war ich doch sehr dafür, dass die Universität autonom entscheiden kann und dass sozusagen alle Beteiligten, Studierende wie Lehrkörper, damit einbezogen werden."
Der Wissenschaftler empfand den Herbst `89 als ein "Fenster", das sich auftat. Doch kurz darauf machte sich bei ihm auch Enttäuschung breit: Wurden doch mit dem Anschluss der DDR die westdeutschen Regelungen zur Besetzung der Lehrstühle übernommen. Und das hieß auch in Mecklenburg-Vorpommern: Studenten, Dozenten und Professoren dürfen bei einer zwar Berufung mitreden - das letzte Sagen hat aber die Landesregierung.
"Ich denke, das war eine Sache, die nicht ganz einfach zu verkraften war. Weil natürlich aus solch einer Revolution - da ergeben sich natürlich viele Möglichkeiten. Und dann werden sozusagen durch die Wiedervereinigung ganz andere Bedingungen gesetzt. Und da wird dieses Fenster wieder geschlossen. Persönlich ... fand ich das überhaupt nicht gut."
Prehn: "Na prima! Gucke ich mir nachher gleich an! Ich hab bloß eine Patientin drinne, nehmen Sie Platz! "
Ostdeutsche Akademiker erlebten die Vereinigung ganz unterschiedlich. Es gab Mutige und Ängstliche, Macher und Zauderer. Allgemeinmedizinerin Angelika Prehn etwa gründete eine eigene Praxis, bildete sich in Westdeutschland weiter und engagierte sich zusätzlich im Berufsverband der praktischen Ärzte und Hausärzte, später auch in der Berliner Kassenärztlichen Vereinigung.
Prehn: "Ich wollte eigentlich das ganze System noch mal versuchen mit zu gestalten, so wir ich mir das auch vorstelle. Das konnte man ja zu DDR-Zeiten nicht. Ja, man hat zu DDR-Zeiten seine Praxis so ein bisschen als kleine Zelle gesehen, sein Zuhause als Zelle gesehen, seine Familie. Ja, hier hatte ich jetzt mehr Zellen. Ja, hier konnte ich den anderen Kollegen auch noch mithelfen, die das vielleicht auch nicht so geschafft haben. Denn die haben ja auch ihr Studium und ihren Facharzt gemacht - aber kamen eben nicht so in die Puschen - denen wollte ich versuchen, auch Unterstützung zu geben."
Ganz anders reagierte Andrea Kokscht auf die Umwälzungen in Ostdeutschland. Die Russisch- und Geschichtslehrerin bekam 1991 Panik, weil sie von heute auf morgen etwas anderes unterrichten sollte.
"Und hab jetzt wirklich überlegt: Oh Gott, du hast jetzt deinen Stundenplan für nächstes Jahr in der Hand, da steht "Profilkurs Geschichte". Die Leute sind 17 Jahre alt. Die machen das erste Mal in diesem Land, an dieser Schule Abitur. Denen kannst du jetzt nicht irgendwas vorlabern."
Kokscht fuhr verzweifelt in den Westteil Berlins, um beim ehemaligen "Klassenfeind" Hilfe zu suchen.
"Und es gab das Robert-Koch - oder gibt immer noch- das Robert-Koch-Gymnasium in Kreuzberg und da bin ich auf einen Freitagmittag hingegangen. Und da sagt die Sekretärin: Oh ich weiß gar nicht, ob noch jemand da ist. Doch, sagte sie, Sie haben Glück! Da sitzt eine Kollegin und sogar von ihrem Fach. Und das war Frau Krüger. Und die war bei allen Dingen, die man an sie heran trug, immer sehr euphorisch und war froh, dass sie ihre Hilfe anbieten konnte. Und ich hab gesagt, wie es ist: Ich soll hier Profilkurs ... ich soll die Schüler profilieren, ich weiß nicht, wie das geht, weil ich mich selber nicht profilieren konnte bisher. Und: Na, das kriegen wir hin, kriegen wir hin. Welche Klausuraufgaben, wie das bewertet wird, was macht man, wenn ein Schüler eine Seite schreibt, aber nicht zum Thema zum Beispiel. Und dass ich mit der Frau nun so ein Glück hatte, war schon irre."
Das Fachliche bekam die Pädagogin schnell in den Griff, bald unterrichtete sie auch im Westteil der Stadt. Doch mit der DDR hat die Geschichtslehrerin bis heute nicht abgeschlossen. Seit Jahren fragt sie sich - etwa wenn sie Berichte hört von verfolgten und benachteiligten Schülern - warum sie damals, als Lehrerin Mitte/Ende zwanzig, von all dem nichts mitbekommen hat.
"Ich bin heute noch sehr ergriffen, wenn ich so Sachen höre, die damals gelaufen sind. Oder meinetwegen auch im 2. Weltkrieg mit Russen und Frauen und solche Geschichten. Keine Frage. Das ergreift mich sehr. Hätte es, hätte es damals nicht genug Leute geben können, die das eher schon heraus gefunden hätten und auch angeprangert hätten. Nur die Wenigen, die dann weggesperrt worden sind?"
Andererseits hält Andrea Kokscht an ihrer Überzeugung fest, dass vieles in der DDR - auch die Vision vom Sozialismus - nicht falsch gewesen sei.
"Ne umformulierte Frage wäre die eines Schülers, der mir vor ein paar Monaten die Frage gestellt hat: Wo war es denn besser? Damals oder jetzt? Ja: Wo war es besser - geht nicht, kann man nicht sagen."
Bautz: "Oftmals werden dann im Arzt-Patienten-Gespräch sehr komplizierte und sehr schwierige Sachen besprochen. Und wenn's dann noch um vielleicht Dinge geht, die was mit Trauma, mit Foltererlebnissen etwa bei Flüchtlingen zu tun haben, dann ist das oftmals sehr belastend."
Die Ärztin Angelika Prehn nutzte die Chancen der deutschen Vereinigung, Geschichtslehrerin Andrea Kokscht haderte mit sich und der DDR - Soziologe Wolfgang Bautz tat beides. Der Wissenschaftler grübelte, warum er - trotz aller Zweifel - nicht das DDR-Gesamtsystem in Frage gestellt hatte. Zudem sollte sein Institut geschlossen werden. So entschied er sich zur Flucht nach vorn: Bautz ging 1992 in das Land, das er nur aus der Bibliothek kannte. Für den evangelischen Entwicklungsdienst reiste er nach Mexiko, um dort eine Privatuniversität aufzubauen - im Gepäck sein Wissen aus der DDR.
"Was ich gebrauchen konnte ist: Ich habe mich in meiner Promotion mit dem mexikanischen Hochschulwesen beschäftigt. Und noch konkreter mit der Universitätsreformbewegung. Und habe natürlich viele Gedanken, die in der mexikanischen Universitätsreformbewegung eine Rolle spielten - diese Gedanken habe ich mitgebracht sozusagen."
Bautz setzte sich dafür ein, dass die lateinamerikanische Universität besonders studentenfreundlich wurde und sich sozial Schwachen öffnete. Sieben Jahre später kam der Entwicklungshelfer zurück nach Deutschland. Während er nun ohne Job und ohne Erspartes da stand, hatten viele seiner Ex-Kollegen mittlerweile Karriere gemacht.
"Da hat sich sehr viel die Spreu vom Weizen getrennt. Also es gab Freunde, Freundinnen, wo man sehr schnell wieder auf gleicher Wellenlänge war - und es gab andere Personen, wo das sich eben nicht mehr eingestellt hat. Deren Interesse, deren tägliches Leben hatte sich geändert. Die hatten inzwischen ihr Häuschen und die hatten vielleicht zwei Autos vor dem Haus stehen. Und ich hab ja hier in Deutschland sozusagen wieder beim Punkt null angefangen - und da wurde mir bewusst, das Land hat sich sehr verändert in diesen ... in diesen Jahren."
Ost-Elite im Umbruch - was sagt die Wissenschaft über die Akademiker im Wende- und Vereinigungsprozess? Der Hallenser Sozialforscher Gustav-Wilhelm Bathke hat detailliert untersucht, wie die Studierten mit den beruflichen Veränderungen klar gekommen sind.
"Interessant ist natürlich, dass gerade die Absolventen, die nach der Wende sehr früh ihren Arbeitsplatz verloren haben, in der neuen Gesellschaft größere Chancen hatten. Es ist leider so gewesen, dass einige, die kleben geblieben sind, die gesagt haben: Ach es wird schon noch mit dem Betrieb voran gehen, die also sich nicht gelöst haben, später in ein viel größeres Loch gefallen sind."
Stasi-Offiziere, SED- und Blockpartei-Funktionäre, FDJ-Sekretäre und Lehrer für Marxismus-Leninismus - die systemnahen Akademiker landeten zu jener Zeit zuerst auf der Strasse.
"Und das war natürlich zu dieser Zeit auch eine große Chance. Sie wissen ja, wie sich die Dienstleistungsbereiche gerade in den neuen Bundesländern entwickelt haben. Und die Unternehmen werden schon bald erkannt haben, dass es nicht um das rein Ideologische nur geht, sondern dass diese Absolventen durchaus in der Lage sind, sich sehr schnell, clever in neue Bereiche einzuarbeiten."
Professor Gustav-Wilhelm Bathke hat zu DDR-Zeiten im Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig gearbeitet. Dieses Institut untersuchte seit Anfang der 80er Jahre regelmäßig mehr als 4000 Studierende. Nach der Vereinigung befragte Bathke diese Gruppe erneut - nun im Auftrag des Hannoverschen Hochschul- Informations-Systems. Die mittlerweile fertig Studierten gaben Auskunft über ihre Erfolge auf dem neuen, gesamtdeutschen Arbeitsmarkt. Bilanz: Mediziner, Juristen und die meisten Lehrer hatten kaum Probleme, denn sie wurden gebraucht. Landwirte, Ökonomen und Ingenieure litten dagegen unter der flächendeckenden Schließung von landwirtschaftlichen und Industrie-Betrieben. Viele von ihnen landeten in Arbeits-Beschaffungs-Maßnahmen oder nahmen Billig-Jobs an.
Bathke: "Es hat sich gezeigt, dass gerade Frauen sehr früh begonnen haben, ihre Qualifikationen nach unten zu transformieren. Das heißt, sie waren dann erfolgreich in der Tätigkeit; die Ingenieurin als Sekretärin, aber war unterqualifiziert eingesetzt. Das finden wir ja heute noch bei vielen Frauen."
Laut Studie betrug 1991/92 die Arbeitslosigkeit unter den ostdeutschen Hochschulabsolventen rund sieben Prozent. Der Ost-Durchschnitt lag hingegen bei 14 Prozent. Grund für die hohe Beschäftigungsquote der Akademiker: Sie waren flexibler als etwa spezialisierte Facharbeiter.
"Zum zweiten sehe ich die Ursache darin, dass das natürlich jüngere Leute waren, die waren mobil, die konnten sich anpassen. Es haben zum Beispiel elf Prozent bereits eine neue Arbeit gesucht in den alten Bundesländern. Übrigens ein Prozess, den wir damals schon problematisiert haben, weil das einfach dazu führt, dass die Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern, was das Potential für Wissenschaft und Forschung betrifft, sich eher auseinander dividiert als dass es zusammenrückt."
Wissenschaft und Forschung - ein Bereich, in dem es besonders starke Umwälzungen gab im Zuge der Vereinigung.
Simon: "Eigentlich waren wir ja nicht daran interessiert, die DDR-Wissenschaft zu verkleinern, sondern sie möglichst ungeschoren für das gesamte Deutschland zu retten. Das sollte ja doch eigentlich das Unternehmen sein."
So Professor Dieter Simon, der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Anfang der 90er Jahre. Simon, verantwortlich für die Begutachtung der ostdeutschen Akademien, musste rückblickend einräumen, dass doch zu stark verkleinert worden war. Es habe "eklatante Fehleinschätzungen" gegeben; die Leistung der DDR-Forschung sei völlig unterschätzt worden. Ähnlich äußert sich heute der Hochschulforscher Peer Pasternak. Er sieht die Fehler weniger in der Schließung politisch belasteter Institute - etwa der für Marxismus- Leninismus. Ihm geht es mehr um die rigorose fachliche Überprüfung zehntausender Uni-Forscher.
Pasternak: "Es gab ja auch in der DDR wissenschaftliche Qualifikationsverfahren. Es gab also - jedenfalls der Form nach - ähnlichen Weg der akademischen Qualifikation wie in Westdeutschland. Vor diesem Hintergrund hielten es die meisten Wissenschaftler für eine Zumutung, zu einem großen Teil von Auswärtigen besetztem Gremium belegen zu müssen, dass sie wissenschaftlich leistungsfähig seien. Zumal die auswärtigen Mitglieder dieser Gremien in der Regel keinen blassen Schimmer von den wissenschaftlichen Produktionsbedingungen, die in der DDR herrschten, hatten."
Nach Schätzungen des Wissenschaftlers der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wurden in den ersten fünf Jahren nach der deutschen Vereinigung rund 60 Prozent der Ost-Dozenten und Professoren entlassen - oder in den Vorruhestand geschickt. Dass diese Forscher einst nur wenig Möglichkeiten hatten, international zu publizieren - das hätten die west-dominierten Überprüfungskommissionen damals kaum berücksichtigt, kritisiert Pasternak. Auf der anderen Seite seien auf den frei gewordenen Ost-Uni-Stellen viele Westdeutsche gelandet.
Pasternak: "Es gab dann einige, die nach Lage ihrer bisherigen wissenschaftlichen Leistungen in Westdeutschland niemals zum Zuge gekommen wären. Und die kamen dann plötzlich in Ostdeutschland zum Zuge. Das sind Ausnahmen, aber diese Ausnahmen prägen dann die Wahrnehmung derjenigen, die so etwas beobachten. Das muss man also in Rechnung stellen."
Probleme gab es auch beim Wissenschaftler-Integrations-Programm, kurz WIP, das rund 2500 Forscher der aufgelösten DDR-Akademie der Wissenschaften auffangen - und an die Hochschulen überführen sollte. Jahrelang arbeitete diese Gruppe mit einem unsicheren Status - bis sich herausstellte, dass die Universitäten kaum Geld hatten für eine Übernahme. Aber obwohl es damals viele persönliche Enttäuschungen gab: Die Ost-Hochschulen wurden zügig modernisiert. Und die meisten ehemaligen Unimitarbeiter fanden bald wieder einen Job.
Pasternak: "Die Arbeitslosigkeit ist gering. Das liegt daran, dass Wissenschaftler in der Regel kreative Leute sind und aus ihrer Situation - so misslich sie auch erstmal erscheinen mag - irgend etwas Positives zu machen verstehen."
Allerdings gibt es in der akademischen Landschaft bis heute Ost-West-Unterschiede. Hochschulforscher Peer Pasternak beklagt, dass es nur wenige Ost-Dozenten geschafft haben, an eine West-Uni zu gelangen. Das gelte besonders für den Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften: Hier kämen von den insgesamt 8500 Professoren im Westen ganze 50 aus dem Osten, erklärt der Experte, die Ossis hätten einfach schlechtere Karten bei einer Uni-Bewerbung.
Pasternak: "Es gibt eine gewisse Unvergleichlichkeit der fachlichen Biografien. Also wenn ein Ostdeutscher seine Publikationsliste vorlegt und die Hälfte der Titel heißt "Woprosi Filosofii", das heißt "Fragen der Philosophie" auf Russisch - oder in einer vietnamesischen Zeitschrift veröffentlicht hat, weil es dort eine Tagung gegeben hat in Hanoi, dann vermag ein westdeutscher Wissenschaftler ja überhaupt nicht einzuschätzen: Dokumentiert sich da eine bedeutende wissenschaftliche Leistung oder nicht?"
Zeitsignal: " Es ist zwei Uhr, Sie hören Nachrichten. Die deutsche Zweistaatlichkeit ist beendet. Um Mitternacht wurde der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland wirksam."
Und heute? Wie gehen Ostdeutsche Akademiker mit ihren DDR- und Vereinigungs-Erfahrungen um? Ärztin Angelika Prehn ist mittlerweile Chefin der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin - ein Job, den sie neben ihrer Praxisarbeit erledigt - und der immer wieder zu Ost-West-Vergleichen herausfordert. Obwohl die Medizinerin früher systemkritisch war, sympathisiert sie heute - beim Umgang mit den Patienten - mit einzelnen "Errungenschaften" der DDR.
Prehn: "Entweder man hat eine Diktatur oder man hat eine Freiheit. Diktatur ist eben alles vorgeschrieben. Und das war natürlich auch für manche sehr einfach. Die kamen zum Arzt, mussten den Arm hinhalten, wurden nicht groß gefragt, wurden geimpft. Dadurch hatte man natürlich eine höhere Durchimpfrate. Heute frage ich die Leute und bitte sie darum und dann haben sie ihre Bedenken und dann überlegen sie es sich. Und dann sind sie nicht durchgeimpft. Ich sage immer: Eine kleine Diktatur würde uns gut tun, mein Mann sagt immer: Das gibt es nicht. Ich würde gerne ein Gesetz haben, wo es heißt, es ist eine Impfpflicht. Andere würden das nicht gerne haben."
Soziologe Wolfgang Bautz, der zu DDR-Zeiten nie im Ausland forschen durfte und nach der Wende Entwicklungshelfer wurde, baut heute in Brandenburg ein Netzwerk ehrenamtlicher Ausländerberater auf. Bautz wirbt Dolmetscher und Mentoren an, die Zugewanderte bei Behörden- und Arztbesuchen begleiten.
Bautz: "Ich habe eigene Erfahrungen mit Wanderung, mit Auswanderung, mit Rückwanderung, habe Erfahrungen, wie ich in einem anderen Land aufgenommen wurde. Und ich denke, dass es für ein demokratisches Deutschland eben auch wichtig ist, eben mit allen Arten von Minderheiten so weit wie möglich demokratisch umzugehen."
Kokscht: "Ihr habt jetzt praktisch die Aufgabe, die von Euch individuelle gefundenen Antworten auf die Fragestellung zu durchleuchten, ob Ihr Euch ergänzen könnt, zu schauen, ob man sich vielleicht schon streitet, wäre ja auch nicht schlecht ... "
Die Berliner Lehrerin Andrea Kokscht hat in den vergangenen Jahren Kurse besucht zum Thema DDR-Geschichte; außerdem hat sie sich fortgebildet, um neben Geschichte, Politik und Ethik auch noch "Darstellendes Spiel" zu unterrichten. Ihre Ost-Erfahrungen versucht sie mit in den Unterricht einfließen zu lassen. So warnt sie ihre Schüler vor kritikloser Anpassung wie in der DDR.
Kokscht: "Wenn vielleicht einer der Kritikpunkte sein könnte am DDR-Bildungssystem, dass oftmals alles schön glatt gebügelt und fertig und die Überschrift schon alles aussagte war, dann ist das eine Sache, die ich mir heute mal vornehme, anders zu machen. Also tatsächlich philosophischen oder auch geschichtlichen Punkten mindestens zwei Meinungen gegenüber zu stellen. Oder auch die Schüler zu zwingen, sich damit zu beschäftigen: Was könnte man denn dazu noch sagen? "
Aufbruch, Suche, Rückblick, Neuorientierung - die meisten Ost-Akademiker erlebten nach der Wende viel Aufregung in ihrem Beruf. Sozialforscher Gustav-Wilhelm Bathke bilanziert, der Staat hätte dieser hochqualifizierten Bevölkerungsschicht mehr helfen sollen. Speziell den vielen Ingenieuren, die in den aufgelösten "volkseigenen" Betrieben und Kombinaten gearbeitet haben.
Bathke: "Und das sehe ich als ein Problem. Denn wenn wir heute die Diskussion haben: Wir haben zu wenig Ingenieure, dann war ja gerade nach der Wende ein enormer Überhang an Ingenieuren in der DDR vorhanden. Und ich könnte mir vorstellen, wenn sozusagen systematischer gelaufen wäre, hätten wir vielleicht nicht so große Lücken, wie sie sich heute auftun."
Der Wissenschaftler berichtet, in den vergangenen Jahren habe er keine Geldgeber mehr gefunden, die eine Studie über ehemalige DDR-Akademiker finanziert hätten. Seine Untersuchung aus dem Jahre 1992 sei die letzte Erhebung dieser Art gewesen. Auch die normale Statistik trifft heute keine Aussagen mehr über die Hochschulabsolventen. Die Bundesagentur für Arbeit etwa hat nur Zahlen über die Arbeitslosigkeit in den einzelnen Bundesländern - aber keine Zahlen, die zwischen Ost- und West-Herkunft der Akademiker unterscheiden. Ein Agentur-Sprecher dazu lakonisch: "Da könnte man genau so gut nach rothaarigen Bartträgern differenzieren. Das ist zu speziell", erklärt der Behördenvertreter wörtlich. Und weiter: "Wir haben schließlich 17 Jahre nach der Einheit." Hochschulforscher Peer Pasternak kennt das Problem:
"Also man kann das bedauern, weil es für bestimmte Fragestellungen - darauf stoßen wir in unserer wissenschaftlichen Arbeit auch ständig - für bestimmte Fragestellungen würde man es gern wissen diesen Unterschied der Herkünfte. Aber man hat sich dann Mitte der 90er Jahre entschlossen zusagen: Die Statistik darf nicht eine Teilung fortschreiben, die wir staatsrechtlich seit langem überwunden haben. Da ist der Statistik ein politischer Wille aufgenötigt worden und seitdem wird dort nicht mehr differenziert. "