Archiv


Paddeln auf dem Langen Trödel

Als Verbindung zwischen Oder und Havel ab 1605 erbaut, ist der Finowkanal die älteste künstliche Wasserstraße in Deutschland, die noch in Betrieb ist. Einst wurden auf dem Kanal nördöstlich von Berlin mehr Waren transportiert als auf dem Rhein. Heute sind dort fast nur noch Paddler und Naturfreunde unterwegs - die ein Blick auf Eisvogel, Biber oder Hechte erspähen wollen.

Von Dieter Wulf |
    Mit dem Takt der Trommel fährt ein Drachenboot über den Finowkanal, der genau hier beginnt erklärt mir Horst Helbig, an seinem Bootssteg in Liebenwalde nordöstlich von Berlin.

    "Der Kilometer Null ist hier vor meinem Fenster. Der Kilometer Null sagt ja an, dass hier der Finowkanal beginnt. Der 400 Jahre alte Finowkanal, das muss man dazu sagen. Ich schaue direkt auf Wasser hier draußen. Er geht von West nach Ost und verbindet die Havel mit der Oder."

    Wo der Finowkanal Richtung Osten und der Vosskanal Richtung Norden beginnt, gebe es Wasserlandschaften wie sonst fast nirgendwo, schwärmt Horst Helbig, der hier seit ein paar Jahren eine kleine Marina für Sportboote betreibt.

    "Die angrenzenden Kanäle Voss Kanal hier nach Norden rauf ab Zehdenik Havel stellt eben die Verbindung her Berliner Raum alles Bundeswasserstrassen, das heißt: Von dort aus kommen sie in alle Welt und hier über die Seenplatte bis zur Müritz rauf und noch weiter Schwerin nach Hamburg. Das ist eigentlich überhaupt das größte Wassersportgebiet das ich überhaupt kenne - krokodilfreie. Es gibt sicherlich Amazonien und es gibt Florida, aber das größte krokodilfreie Wassersportrevier."

    Nachdem das mit den Krokodilen also geklärt ist, starte ich beruhigt von hier aus mit dem Kajak die erste Etappe auf dem Finowkanal. Anders käme man hier auch nicht durch, denn der "Lange Trödel", wie das etwa zehn Kilometer lange Teilstück heißt, ist heutzutage nur noch für Paddelboote befahrbar, erklärt Horst Helbig.

    "Da wird nur soviel gemacht, dass der Paddler durch kann. Also die Bäume bleiben auch drin liegen, solange sie die Bepaddelbarkeit nicht stören. Da wird mal ein Teilstück des Stammes rausgesägt, aber ansonsten bleibt das alles drin liegen. Es soll alles Wildnis bleiben, dass ist unser Anliegen, wie es jetzt ist."

    Schon vor Jahrzehnten wurde eine Schleuse am Ende dieses Teilstücks zugeschüttet. Statt der normalen Schifffahrt hat sich die Natur ihr Revier zurückerobert.

    "Große starke Hechte und eben alle möglichen Wasservögel. Der Eisvogel flitzt hier rum, der Biber hat dort mit seiner Familie eine große Burg und kommt dann auch ganz neugierig angeschwommen, um zu gucken, wer paddelt denn heute hier wieder rum. Der ist nämlich nicht besonders scheu der Biber, wenn er Lust hat, dann schaut er sich die Boote an."

    Nach der verwilderten Natur erscheint der Oder Havel Kanal, den man dann überqueren muss, wie eine Wasserautobahn. Danach geht es dann in den Teil des Finowkanals, der bis heute noch für die Schifffahrt nutzbar ist, die älteste noch befahrbare künstliche Wasserstrasse Deutschlands. Auf einer Strecke von knapp 30 Kilometern regeln zwölf Schleusen den Höhenunterschied von sechsunddreißig Metern.

    Alle zwei bis drei Kilometer müssen die Schleusentore noch mit alten, oft über hundertjährigen Handkurbel mühsam auf- und zugedreht werden. Von Anfang Mai bis Ende September sind alle Schleusen tagsüber mit einem Schleusenwärter besetzt, wie zum Beispiel von Dirk Heinrich, der auf seinen Kanal richtig stolz ist.

    "Es ist auch die älteste noch beschiffbare Wasserstrasse nördlich der Alpen. Doch, eine alte Wasserstrasse zu haben, ist schon was. Die Leute finden es auch schön hier, die Bäume und das viele Grün. Ist eben nicht so langweilig der Kanal, man sieht viel, ist schön zu fahren."

    Nach mehreren Kilometern und einigen weiteren Schleusen treffe ich in Eberswalde den Leiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes Rolf Dietrich.

    "Der erste Finowkanal geht zurück auf den großen Kurfürsten hier in Brandenburg - und Baubeginn war damals 1603. Damals war tatsächlich die Wasserstrasse der Verkehrsträger für Waren aller Art, die man mit wenig Aufwand und auch in großen Mengen transportieren könnte. Dieser erste Finowkanal ist dann im dreißigjährigen Krieg verschütt gegangen, eben durch Kriegseinwirkung. Den zweiten Versuch wurde dann unternommen durch Friedrich den Großen. Baubeginn war dann 1743 und man hat in nur vier Jahren bis 1746 dann den zweiten Finowkanal fertig gestellt, so wie er sich heute eigentlich im Wesentlichen auch noch präsentiert. Er ist also tatsächlich seit 1746 ununterbrochen in Betrieb und war auch damals natürlich das Haupttransportmittel oder das Haupttransportmedium für Waren aller Art, die quasi von der Ostsee zum Beispiel in den Großraum Berlin oder auch weiter nach Süden gingen."

    Zu den Hochzeiten des Finowkanals wurde hier tagsüber wie auch nachts geschleust, erzählt Rolf Dietrich. Ohne den Finowkanal und die Transporte all der Baumaterialen wäre der Aufschwung Berlin gar nicht denkbar gewesen. Rechts und links siedelten sich Industrieunternehmen an. Eberswalde bekam damals den Beinamen "das märkische Wuppertal".

    Ende des 19. Jahrhunderts waren die Kapazitäten so ausgeschöpft, dass nur ein paar hundert Meter parallel zum Finowkanal der Oder-Havel-Kanal geplant wurde, der dann 1914 in Betrieb ging. Wirtschaftlich hatte der Finowkanal damit seine Bedeutung verloren, die Industrie verschwand. Nur noch wenige Betriebe wurden mit Schiffen beliefert, dann war auch das vorbei.

    Nach dem Ende der DDR sollte der Kanal ganz geschlossen werden. Stattdessen aber konnten sich diejenigen durchsetzen, die den einzigartigen Kanal als Industriedenkmal erhalten wollten, um damit auch Touristen anzulocken.

    In den letzten Jahren haben die Zahlen der Wassersportler langsam zugenommen. Von Massentourismus aber ist man noch weit entfernt. Denn, wer als Freizeitkapitän von Berlin aus Richtung Ostsee will, hat den Oder-Havel-Kanal in wenigen Stunden hinter sich. Für den Finowkanal mit seinen vielen Schleusen muss man dagegen mindestens zwei Tage einplanen. Genau das aber sei ja so faszinierend, meint Thomas Smolin, der mit seiner Frau viele Jahre in Holland Bootsurlaub machte, bevor das Ehepaar aus Bayern die ostdeutschen Wasserregionen für sich entdeckte.

    "Solche Fahrten, wie man hier in Brandenburg findet, gibt es in Holland ganz selten. Hier gibt's also diese langen Fahrten zum Beispiel Ruppiner Gewässer, da fahren sie fast 30 Kilometer zwischen Bäumen an baumbestandenen Kanälen durch, ohne eine Menschenseele zu sehen, und man sieht eher einen Eisvogel als einen anderen Menschen, und so ähnlich ist das ja hier am Finowkanal auch: wunderschöne Wasserstrasse, die sich wunderschön durch die Landschaft schlängelt."

    Ein paar hundert Meter weiter treffe ich Eberhard Seelig vom Flößerverein, der sich hier vor einigen Jahren gegründet hat, um an das alte Handwerk der Holzflößerei zu erinnern, das hier über Jahrhunderte betrieben wurde.

    "Stellen sie sich vor, es gibt irgendwann den Zeitpunkt, wo kein Mensch mehr weiß, was ein Schmied oder ein Schlosser oder ein Zimmermann gemacht hat. Und mit dem Flößerhandwerk ist es beinah soweit. Es gibt noch ein paar, die haben es ausgeübt, aber es sind nicht mehr viele. Hier in der Gebend sind es vielleicht, na ich schätze mal, unter zehn Leute, die es noch ausgeübt haben, die auch noch erzählen können. Wenn die weg sind, weiß kein Mensch mehr, was hat der Flößer eigentlich gemacht. Das wollen wir vor dem Vergessen bewahren - und auch ein bisschen in der Bevölkerung publik machen."

    Am Flößerplatz, den der Verein in Finowfurt eingerichtet hat, liegen so wie früher lange Holzstämme im Wasser.

    Eberhard Seelig balanciert geschickt auf den schmalen, mit großen Nägeln verbundenen Stämmen. Mit einem über fünf Meter langen Stab, an dessen Ende ein Metallhaken befestigt ist, wuchtet er die Stämme in die richtige Position.

    "Das wäre jetzt hier der Floßhaken. Mit dem kann ich Stämme im Wasser dirigieren. Und ich kann jetzt auch den freischwimmenden Stamm, den fass ich hier und zieh den rauf. Das sind so kleine Kniffe. Jeder Beruf hat so sein gewisses Know-how. Das sind zwar einfache Werkzeuge, mit denen wir hier arbeiten, aber ich muss wissen, wie setze ich die ein, und das sind so Sachen, die uns die alten Flößer noch erzählen konnten."

    Von den Flößern in Finowfurt geht es mit dem Kajak weiter Richtung Westen, wo ich dann an der Schleuse in Eberswalde auf die Anneliese umsteige, ein sogenannter Finowmaßkahn, erklärt Frank Neumann, der das historische Boot als Touristenattraktion betreibt.

    "Dieses Finowmaß war die erste Normierung in der Binnenschifffahrt überhaupt. Entstand im Jahr 1845 - und zwar wollte man damit verhindern, dass auf dem Finowkanal man sich Schiffe bauen ließ, die nur noch diagonal in die Schleuse hinein passten. Ja, und deshalb hat man also dieses Finowmaß definiert vierzig Komma zwo Meter lang, Vier Meter und sechzig breit, und ein solcher Finowmaßkahn ist halt die Anneliese."

    Während Frank Neumann den über hundertjährigen Kahn in die Schleuse Eberswalde hinein manövriert, die älteste noch in Nutzung befindliche Schleuse Deutschlands, erklärt er den Passagieren gleichzeitig die Technik.

    "Erbaut nach dem Funktionsprinzip der versetzten Häupter. Das heißt, die Tore im Oberhaupt der Schleusenanlage - genau hinter uns gelegen - und die Tore im Unterhaupt der Schleusenanlage - genau vor uns gelegen - sind also um Schleusenbreite versetzt voneinander angeordnet worden. Und das war gerade zum Schiffsandrang um die Jahrhundertwende auch dringest notwendig. Denn wenn ich Ihnen sage, dass im Jahre 1895 noch gut zwei Millionen Tonnen Güter per Lastkahn über diesen Wasserweg transportiert worden sind. Im Jahre 1903, das heißt acht Jahre später, waren es dann bereits drei Millionen Tonnen Güter. Das entsprach übrigens einem Transportaufkommen zur damaligen Zeit von mehr als auf dem Rhein. Heute eine unvorstellbare Größenordnung."

    Und dann ist es irgendwann soweit. Der Motor wird abgestellt, und der Blitz übernimmt den Transport der Anneliese. Blitz heißt das Pferd, das bereits neben dem Kanal wartet und jetzt mit Hilfe eines langen Seils den Kahn hinter sich her zieht, so wie das schon vor Jahrhunderten hier gemacht wurde. Damals allerdings wurde der Preis für das Treideln, wie das ziehen von Land aus genannt wurde, bei feuchtfröhlichen Gelagen verhandelt, erzählt Frank Neumann.

    "Wenn also diese Tarifverhandlungen zur damaligen Zeit zu gut verlaufen waren, dann endete das oft mit dem Ergebnis, dass der Treidler für mehrere Stunden nicht in der Lage war sein Pferd zu führen, sondern das Pferd ihn führen musste, der Schiffer den Kahn nicht von der Stelle bekam und da wir nicht wussten, wie anfällig wir für diese Art der Verhandlungen sind, haben unsere Tarifverhandlungen bereits in den Wintermonaten stattgefunden. So stand der Blitz bereit, konnte seine Aufgabe beginnen."

    Frank Neumann dagegen musste nicht nur mit dem Pferdebesitzer, sondern auch mit den Behörden verhandeln. Denn eigentlich ist das ziehen eines Passagierschiffs ohne Motorantrieb in Deutschland längst verboten. Es dauerte sechs Jahre, bis er eine Ausnahmegenehmigung erhielt. Und so ist die Anneliese dann auch das einzige Schiff hierzulande, auf dem man erleben kann, wie die Schifffahrt vor der Erfindung der Motoren funktionierte. Mittlerweile hat sich das Pferd Blitz längst an Anneliese gewöhnt. Anfangs aber sah das noch ganz anders aus.

    "Wir mussten lernen, bei geringer Fahrgeschwindigkeit mit dem Kahn umzugehen. Denn ein Schiff oder Kahn ist ja immer nur dann manövrierfähig, wenn er sich auch in Fahrt befindet und mit dieser Fahrgeschwindigkeit sieht es beim treideln manchmal, je nach Lust des Pferdes, nicht allzu gut aus. Für das Pferd selbst war es ungewohnt, seine Kräfte erstmalig einteilen zu müssen. Denn vorher im Gespann einmal kräftig angezogen, Gespann folge willig, bei der Anneliese einmal kräftig angezogen, Widerstand war zu groß, gab nicht nach, Pferd hatte keine Lust mehr, Treidler war sauer. Beide haben gesagt, jetzt geht's erst mal auf den Übungsplatz, und das fertige Ergebnis können Sie sich dann hier und heute zuerst einmal live betrachten."

    Ruhig und alles andere als blitzartig zieht das Pferd den immerhin 86 Tonnen schweren Kahn langsam vorwärts. Fast geräuschlos treiben wir Richtung Niederfinow, wo die älteste künstliche Wasserstrasse Deutschlands schließlich endet.