Dienstag, 07. Mai 2024

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Paragraf 217
Palliativmediziner uneins über Sterbehilfe

Das Bundesverfassungsgericht hatte das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe im Februar aufgehoben. Der assistierte Suizid wird gesetzlich neu geregelt. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin warnt vor der Normalisierung der Suizidbeihilfe. An ihrem politischen Einfluss gibt es Kritik.

Von Burkhard Schäfers | 06.10.2020
Symbolbild zum Thema Sterbehilfe.
Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin hat eine Stellungnahme zur Sterbehilfe abgegeben (imago images / Martin Wagner)
Palliativarzt Lukas Radbruch: "Man darf diese ethischen Diskussionen nicht mit einer Volksabstimmung lösen. Das würden Sie bei vielen anderen ethischen Fragen auch nicht machen, sondern sagen: Welche Normen und Werte wollen wir hochhalten?"
Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert: "Man kann immer noch Reißleinen ziehen, alle möglichen kleineren und größeren Reißleinen ziehen. Ich glaube, es will niemand in diesem Land und in dieser Debatte eine Laissez-faire-Suizid-Regelung haben."
Lukas Radbruch und Bettina Schöne-Seifert sehen das mit der Sterbehilfe grundverschieden: Er betont den Schutz des Lebens, sie betont den freien Willen. Beide Positionen sind fachlich wohlbegründet.
Selbstbestimmung bis in den Tod
Egal wie alt, wie jung, wie reich oder arm, wie krank oder gesund – wer lebensmüde ist, hat das Recht auf Hilfe zur Selbsttötung. So hat es das Verfassungsgericht im Februar entschieden. Ein folgenreicher Paradigmenwechsel – auf den Philosophen, Theologen und Palliativmediziner ihre eigene Sicht haben.
Das Bundesverfassungsgericht hatte das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe im Februar aufgehoben. Nun gibt es Streit um die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit – und um politischen Einfluss. Auslöser ist eine Stellungnahme von Fachärzten, die ständig mit Schwerstkranken und Sterbenden zu tun haben: Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin schrieb auf deren Aufforderung hin einen Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Darin heißt es, die DGP bekräftige ihre ablehnende Haltung zur Suizidbeihilfe.
DGP: "Beihilfe nicht Aufgabe der Palliativversorgung"
Warum, erklärt der Präsident der Fachgesellschaft, Professor Lukas Radbruch: "Die Menschen die sagen, ich will nicht mehr leben, die meinen ja vor allen Dingen erst mal: Ich will so nicht mehr leben. Als Palliativmediziner ist meine Hauptaufgabe zu gucken, inwieweit ich Alternativen finden kann. Sobald ich anfange nachzudenken, ob die Alternative vom assistierten Suizid nicht schneller geht, bin ich mir nicht mehr sicher, ob alle Palliativmediziner sich dann noch genug Mühe geben."
Verbot der "geschäftsmäßigen Sterbehilfe" ist verfassungswidrig
Das Bundesverfassungsgericht hat die aktuelle Regelung zur Sterbehilfe gekippt. Genau geht es um das Verbot der "gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung". Schwerkranke Patienten, Sterbehilfevereine und Ärzte hatten dagegen geklagt.
Die Palliativmedizin ist eine vergleichsweise junge Disziplin. Die Ärztinnen und Ärzte versuchen, für unheilbar Erkrankte Schmerzen zu lindern sowie psychologische, soziale und spirituelle Probleme zu behandeln. Ob sie Beihilfe zum Suizid leisten dürfen, darüber sind sich die Palliativmediziner uneins – auch innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin mit ihren rund 6.000 Mitgliedern. Von dieser Uneinigkeit indes ist nichts zu lesen im Brief an Gesundheitsminister Spahn, der dem Deutschlandfunk vorliegt. Vielmehr heißt es wörtlich: "Die DGP sieht die Beihilfe zum Suizid nicht als Aufgabe der Hospiz- und Palliativversorgung."
Vorschlag stammte allein vom Vorstand
Das wollen fast 50 Fachleute aus den Bereichen Medizin, Philosophie und Recht so nicht stehenlassen. Eine von ihnen ist Bettina Schöne-Seifert, Professorin für Medizinethik an der Universität Münster.
"An keiner Stelle wird deutlich – was aber Fakt war und ist – dass dieser Vorschlag vom Vorstand alleine stammte und nicht intern abgesprochen war, und nicht mit der zuständigen Ethikkommission wirklich diskutiert und kritisch geprüft – sondern ein Alleingang."
Vor fünf Jahren: 40 Prozent für Suizidbeihilfe
Die Kritiker werfen dem Vorstand der DGP "undemokratisches Verhalten" vor. Nicht alle von ihnen sind Mitglieder der Fachgesellschaft, auch Schöne-Seifert nicht. Die liberale Medizinethikerin befürchtet, dass der Vorstand die DGP politisch instrumentalisiere, indem er ein eindeutiges Votum der Palliativmedizin contra Sterbehilfe suggeriere. Allerdings hätten sich bei einer Umfrage vor fünf Jahren 40 Prozent der Mitglieder für den ärztlich assistierten Suizid ausgesprochen. Trotzdem werde versucht, nach dem Aus für Paragraf 217 erneut hohe Hürden in der Suizidbeihilfe zu erreichen.
Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert (Expertin für Medizinethik) in der ARD-Talkshow GÜNTHER JAUCH am 19.10.2014 in Berlin
Die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert (imago images / Müller-Stauffenberg)
Schöne-Seifert: "Deswegen habe ich große Sorge, dass da – ich nenne es jetzt mal bei dem unangenehmen Namen – alte Seilschaften auch im Verhältnis zwischen Kirchengremien und politischen Gremien dafür sorgen werden, dass eine kleinere Schwester von 217 wieder auf den Tisch kommt. Das wäre wirklich nicht das, was man sich für eine moderne, pluralistische Gesellschaft, die aushalten muss, dass Menschen in diesen Fragen unterschiedlich ticken, wünschen würde."
"Sterbewunsch vielfach ambivalent"
Laut dem Positionspapier sieht die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin – Zitat – "die Gefahr einer Normalisierung der Suizidbeihilfe" sowie "moralischen Druck auf Ärztinnen und Ärzte, die aufgrund von ethischen oder spirituellen Haltungen keine Suizidbeihilfe leisten wollen".
Das Papier macht Vorschläge für eine mögliche Neuregelung der Sterbehilfe, die Kritiker für zu streng und zudem verfassungswidrig halten. Demnach müssten Menschen, die unheilbar krank sind, sich zweifach ärztlich begutachten lassen. Hinzu kämen eine palliativmedizinische Beratung, das Votum eines Ethikgremiums und mindestens 30 Tage Wartezeit. Menschen ohne unheilbare Krankheit müssten sich dreifach begutachten lassen, zudem eine sozialrechtliche Beratung mitmachen und mindestens ein Jahr warten. DGP-Präsident Radbruch erläutert die hohen Hürden:
"Wenn man die Literatur kennt, dann weiß man, dass zum Beispiel nach schweren Unfällen, nach Querschnittslähmung, nach Schlaganfall, Menschen oft mehrere Monate brauchen, bis sie aus diesem dunklen Tal wieder rauskommen. Und dass sie in der Anfangsphase ganz schnell einen Suizid erwägen würden, wenn sie dazu die Möglichkeit hätten. Nach einigen Monaten legt sich das, und dann sind die sehr froh, wenn man sie in der Anfangsphase davon abgehalten hat."
Pflegerin bereitet am 07.12.2015 in Berlin in der Palliativstation der Charité ein Tropf vor. 
Wenn Angehörige im Notfall entscheiden müssen
Schwere Unfälle, Schlaganfälle oder andere Erkrankungen können von einem Tag zum anderen alles verändern. Betreuungs- und Patientenverfügung oder eine Vorsorgevollmacht spielen dann eine entscheidende Rollen.
Druck, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen?
Ähnliches habe eine große Untersuchung bei Krebskranken gezeigt, so Lukas Radbruch, der die Klinik für Palliativmedizin an der Universität Bonn leitet. Vielfach sei der Sterbewunsch ambivalent. Radbruch wehrt sich gegen den Vorwurf, Schwerkranke zu bevormunden.
"Es geht ja nicht darum, dass wir irgendjemand den Suizid verbieten. Das kann man nicht in Deutschland, das ist auch nie die Diskussion gewesen. Sondern die Frage ist, wie leicht macht man den Zugang dazu. Wenn man es zu leicht macht, wird doch ein gesellschaftlicher Druck entstehen, dann werden doch vielleicht Menschen diesen Weg gehen, die das später bereuen würden, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten. Da glaube ich tatsächlich, dass Lebensschutz Vorrang haben sollte. Ich sollte lieber die Hälfte zu lang leben lassen, als die Hälfte zu früh sterben lassen."
Einen möglichen Druck, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, sieht Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert hingegen nicht.
"So wie unsere Gesellschaft, unsere Medizin, unsere Ärzteschaft eingerichtet sind, ist es extrem unwahrscheinlich, dass ein solcher Nutzungsdruck tatsächlich aufgebaut würde. Auf der anderen Seite steht sehr viel Leiden von freiverantwortlich Sterbewilligen, die wir dann gewissermaßen nötigen würden – jetzt ohne Karlsruhe – am Leben zu bleiben, gegen ihren Wunsch und Willen, damit eine abstrakte Gefahr abgewehrt wird."
"Ich bin nicht Arzt geworden, um Leben zu beenden"
Menschen sollten die Möglichkeit haben, ein allzu beschwerliches, leidvolles Leben absichtlich zu verkürzen, so Schöne-Seifert, und dabei möglichst zumutbar unterstützt werden können. Als bevorzugte Sterbehelfer sieht die Münsteraner Professorin Ärztinnen und Ärzte, denen Betroffene vertrauen.
Schöne-Seifert: "Ich bin ganz entschieden der Meinung, dass sie das dürfen, wenn sie es mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren können. Und das wird vermutlich im Einzelfall auch nicht auf ein pauschales Ja oder Nein für die einzelne Ärztin hinauslaufen, sondern für sie an einer Reihe von Bedingungen hängen, die dann ganz legitim sind."
Radbruch: "Ich habe das schon öfter gesagt, dass ich das nicht kann. Ich bin schon viele Jahre in der Palliativversorgung tätig, und ich habe ganz wenig Patienten, an die ich mich erinnern kann, wo ich dachte, hier weiß ich auch nicht weiter, die wollen das unbedingt, warum machen wir das eigentlich nicht. Ich bin wirklich nicht Arzt geworden, um Leben zu beenden. Ich kann akzeptieren, wenn es endet, sogar gut. Ich muss es auch nicht erhalten, aber es zu verkürzen, passt nicht zu meinem Berufsbild."
Welchen Einfluss hat die Kirche auf die DGP?
Palliativmediziner Radbruch sagt, die liberalen Sterbehilfegesetze in Belgien, den Niederlanden und der Schweiz zeigten, wie rasch ethische Grenzen überschritten würden. Etwa wenn es um Demenzkranke, Kinder und Jugendliche geht.
Dieses Argument führen auch Kirchenvertreterinnen und -vertreter immer wieder an, vornehmlich aus dem katholischen sowie dem konservativen evangelischen Milieu. Hier sieht Medizinethikerin Schöne-Seifert eine Allianz mit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
Bald Sterbehilfe in kirchlichen Einrichtungen?
In den Kirchen scheinen manche vom bisherigen "Nein" zur Sterbehilfe abzurücken. Einige Theologen und Kirchenvertreterinnen können sich vorstellen, dass Patienten in kirchlichen Einrichtungen Zugang zu tödlichen Substanzen erhalten, sollte ein solches Gesetz erlassen werden.
Schöne-Seifert: "Ich würde glauben, dass der Einfluss kirchlicher Positionen auf die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin größer ist als in anderen Fachgesellschaften. Das liegt gewiss daran, dass die caritativen, seelsorgerischen, spirituellen Aktivitäten der Kirche, die ja wunderbar sind, in den letzten Jahrzehnten mit der Palliativmedizin verwoben sind. Und deswegen glaube ich schon, dass auf dem säkularen Auge innerhalb der DGP etwas weniger scharf gesehen wird."
Neuer politischer Vorstoß geplant
Versucht der Vorstand der DGP um Lukas Radbruch also, sich die Fachgesellschaft zunutze zu machen, um erneut ein restriktives Sterbehilfe-Gesetz zu erreichen? Schließlich hat die Palliativmedizin eine hohe Glaubwürdigkeit in diesen letzten Fragen – und damit gewichtigen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung.
Radbruch: "Ich selbst bin evangelisch und habe nicht die religiösen Gründe, sondern das ist einfach eine ethische Grundhaltung. Die Grundhaltung, die wir vertreten, ist auch nichts, was wir gerade neu entwickelt haben. Sondern 2014 gab es im Ärzteblatt ein Positionspapier zum assistierten Suizid, wo wir uns sehr klar geäußert hatten mit einer ähnlichen Position wie heute. Ich bin zum Beispiel seit 2014 Präsident der Fachgesellschaft, bin zwischendrin zweimal wiedergewählt worden von der Mitgliederversammlung. Also ich glaube, wir haben schon eine demokratische Legitimation für unser Vorgehen."
Die Kritiker fordern, die DGP solle sich neutral positionieren. Präsident Radbruch jedoch erwidert, um im Diskurs gehört zu werden, müsse die Fachgesellschaft eindeutig Stellung beziehen. Inwiefern das umstrittene Votum politische Folgen hat, kann man womöglich schon in einigen Wochen sehen. Mehrere Abgeordnete planen einen Vorstoß für ein neues, liberales Suizidhilfe-Gesetz – inklusive öffentlichkeitswirksamer Debatte im Bundestag.