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Parteienforscher Niedermayer zur Berlin-Wahl
"Merkels Politik treibt die Leute zur AfD"

Bundeskanzlerin Merkel müsse nach der Wahl in Berlin ihre Taktik ändern, rät der Parteienforscher Oskar Niedermayer im Deutschlandfunk. Merkels Flüchtlingspolitik sei der Grund für viele Wähler, sich der AfD zuzuwenden.

Oskar Niedermayer im Gespräch mit Christiane Kaess | 19.09.2016
    Porträtaufnahme von Oskar Niedermayer im November 2015
    Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer (dpa / Julian Stratenschulte)
    Die AfD wird laut Einschätzung Niedermayers dem Parteien-System noch eine Weile erhalten bleiben. Sie könne bereits einen Grundstock an Wählern für sich beanspruchen und stets neue Protestwähler hinzugewinnen. Zudem würden die großen Themen der Partei - Flüchtlinge, Integration, Terror - Deutschland noch längere Zeit beschäftigen. Niedermayer sieht Kanzlerin Merkel nach dem Wahlergebnis in Berlin unter Druck: "Es ist die Politik von Frau Merkel, die die Leute zur AfD treibt."
    Unionsstreit beilegen
    Der Streit zwischen CDU und CSU müsse rasch beigelegt werden, führte der Politikwissenschaftler weiter aus. Horst Seehofer und Angela Merkel müssten "über ihren Schatten springen", da sie inhaltlich nicht weit auseinanderlägen. Seehofer müsse das Wort "Obergrenze" aus seinem Wortschatz streichen und Merkel einräumen, dass nicht jede ihrer Entscheidungen seit letztem Herbst richtig gewesen sei. Sie müsse der Bevölkerung auch deutlich machen, dass es zukünftig keinen deutschen Alleingang in der Flüchtlingspolitik geben werde. Nur so könne sie die Ängste der Menschen bekämpfen.
    SPD als Verlierer
    Mit Blick auf die Sozialdemokraten sagte der Politikwissenschaftler, die SPD rede sich das Ergebnis der Wahl schön. Sie sollte sich jedoch bewusst machen, dass sie das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte eingefahren habe. Sie habe "überhaupt keinen Grund, euphorisch zu sein." Sie müsse ihren Koalitionspartnern in Zukunft auf Augenhöhe begegnen, damit die Dreier-Koalition stabil regieren könne.
    Piratenpartei und FDP
    "Die Piraten spielen seit Jahren auf Bundeseben kein Rolle mehr", erklärte Niedermayer zum "Shooting-Star" der vergangenen Abgeordnetenhaus-Wahl. Somit sei das schlechte Ergebnis von Berlin nur folgerichtig: "Sie wird im Nirwana verschwinden." Auch für die FDP sehe es auf Bundesebene nicht ganz so gut aus. "Der wirkliche Test wird die Landtagswahl in NRW 2017 sein", so Niedermayer. Wenn Parteichef Christian Lindner, der dann selbst zur Wahl stehe, gute Ergebnisse einfahren könne, dann habe die FDP bei der Bundestagswahl gute Chancen.
    Positiv bewertete Niedermayer, dass die Wahlbeteiligung angestiegen sei. Jahrzehntelang sei die Beteiligung der Wähler niedrig gewesen - nun nähmen die Menschen wieder ihr demokratisches Recht in Anspruch. Die Demokratie profitiere davon.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Es könnte auf Rot-Rot-Grün in Berlin hinauslaufen und dabei unterstreicht das Ergebnis der Wahl zum Abgeordnetenhaus gestern in der Hauptstadt wieder einmal: Dreierkoalitionen sind derzeit die einzige politisch realistische Regierungsform. Das Berliner Wahlergebnis möchte ich einordnen mit dem Politikwissenschaftler und Parteienforscher Oskar Niedermayer. Guten Morgen!
    Oskar Niedermayer: Ja, guten Morgen!
    Kaess: Herr Niedermayer, diese durchgepflügte Parteienlandschaft in Berlin, eigentlich keine großen Parteien mehr, ist die Zeit der großen Volksparteien vorbei?
    Niedermayer: Nein, da sollte man noch ein bisschen vorsichtig sein. Das war eine Landtagswahl und die bundespolitischen Ergebnisse bei den Umfragen, die sehen doch noch ein bisschen anders aus.
    "Die AfD wird auf absehbare Zeit bleiben"
    Kaess: Ein Grund dafür ist ja in Berlin die AfD. Die wird bleiben?
    Niedermayer: Ich glaube schon, dass die AfD auf absehbare Zeit bleiben wird. Sie hat jetzt schon einen gewissen Grundstock an Wählern, die fest zu ihr halten, und sie gewinnt immer bei jeder Wahl eine ganze Menge von Protestwählern sowohl von bisherigen Nichtwählern als auch von allen anderen Parteien hinzu.
    Und ihr großes Thema sind ja die Flüchtlinge, und zwar jetzt die Integration der Flüchtlinge und auch alles, was mit Islam und Terror zu tun hat, und auch das wird uns ja noch längere Zeit beschäftigen.
    Kaess: Auf den Inhalt können wir gleich noch ein bisschen genauer schauen. Noch mal zur Wahlbeteiligung. Die ist ja tatsächlich höher durch die AfD. Sie mobilisiert Nichtwähler. Ist das gut für die Demokratie, auch wenn das Stimmen sind für eine Partei, die vielen als nicht demokratisch gilt?
    Kaess: Nun, ich finde das schon gut für die Demokratie. Man hat ja vorher jahrzehntelang immer beklagt, dass die Wahlbeteiligung zurückgegangen ist. Nun beteiligen sich die Wähler wieder stärker. Das heißt, sie nehmen wieder ihr demokratisches Recht stärker in Anspruch. Und auch wenn das überproportional der AfD nutzt, denke ich, ist es schon für die Demokratie etwas Sinnvolles.
    "Es ist immer noch die Politik von Frau Merkel, die die Wähler zur AfD treibt"
    Kaess: Sie haben es schon kurz angesprochen. Die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel, die hat auch bei dieser Berlin-Wahl eine Rolle gespielt. Wie sehr gerät Merkel jetzt unter Druck?
    Niedermayer: Es gab in Berlin noch eine ganze Reihe anderer Berlin-spezifische Faktoren, warum die CDU dort so schlecht abgeschnitten hat. Aber wenn man jetzt mal nur auf die AfD-Wähler schaut, dann war fast bei jedem dieser Wähler die Flüchtlingspolitik die Nummer eins bei der Frage, was für sie wichtig ist, und das bedeutet schon, dass es immer noch die Politik von Frau Merkel ist, die die Leute zur AfD treibt.
    Kaess: Und die CSU, die hat sich heute Morgen auch schon wieder zu Wort gemeldet. Wird Angela Merkel dennoch durchhalten bis zur Bundestagswahl?
    Niedermayer: Ich glaube schon. Es wäre aber wahrscheinlich für die Union insgesamt sinnvoll, wenn die beiden Streithähne, also Frau Merkel und Herr Seehofer, über ihren Schatten springen könnten. Denn sie sind inhaltlich ja gar nicht so weit auseinander. Aber es müsste eben so sein, dass Herr Seehofer das Wort Obergrenze aus seinem Wortschatz streicht und Frau Merkel auch einräumt, dass nicht jede Entscheidung, die sie seit Herbst getroffen hat, vollkommen richtig war. Wenn das passieren würde, könnte man durchaus einen Kompromiss schließen, der dann beiden Parteien gut täte.
    "Der ursprüngliche Kurs von Frau Merkel hat die AfD stark gemacht"
    Kaess: Wenn ich Sie richtig verstehe: Sie sehen durchaus diesen Streit als Hauptgrund für das schlechte Abschneiden und nicht das, was die CSU immer der CDU beziehungsweise speziell der Kanzlerin vorwirft, die müsse ihren Kurs ändern?
    Niedermayer: Nein, nein. Das sehe ich überhaupt nicht so. Denn es ist ganz klar, dass der ursprüngliche Kurs von Frau Merkel die AfD stark gemacht hat. Da gibt es gar keine Zweifel daran. Sie hat ja ihre Politik in der Realität schon deutlich geändert. Nur sie hat es noch nicht der Bevölkerung wirklich deutlich gemacht, und das wäre, glaube ich, an der Zeit, dies zu tun. Und dann kommt dazu, dass länger andauernder Streit zwischen den beiden Parteien den beiden auch schadet.
    Kaess: Wie sollte Angela Merkel das genau tun? Wie sollte sie das formulieren?
    Niedermayer: Man muss sich ja nicht hinstellen und muss sagen, ich habe einen Riesenfehler gemacht, sondern man kann doch sagen, was doch wohl auch der Fall war, dass man bestimmte Dinge unterschätzt hat, zum Beispiel die Dynamik der Entwicklung dann nach dem September, und dass man bestimmte Dinge heute anders machen würde, aber in der Lage damals man das nicht so vorhersehen konnte. Das würde, glaube ich, schon reichen.
    Und vor allen Dingen müsste Frau Merkel deutlich machen, um viele Befürchtungen und Ängste in der Bevölkerung zu zerstreuen, dass es so etwas wie letzten Herbst, also einen deutschen Alleingang nicht mehr geben wird. Das wäre sehr wichtig, glaube ich.
    "Die SPD hat überhaupt keinen Grund, sehr euphorisch zu sein"
    Kaess: Die SPD, die erscheint jetzt als Sieger. Jetzt Berlin, davor Mecklenburg-Vorpommern oder Rheinland-Pfalz. Täuscht das über die Probleme der Partei hinweg?
    Niedermayer: Das täuscht extrem darüber hinweg. Man wird sich das Ergebnis jetzt wieder schönreden, das ist ganz klar. Aber die SPD - das muss man betonen - hat jetzt in Berlin das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg eingefahren und sie ist die Partei, die mit dem schlechtesten Ergebnis aller Zeiten den Regierungschef jetzt wieder stellen wird. Das heißt, sie hat überhaupt keinen Grund, sehr euphorisch zu sein.
    Kaess: Wie stabil können denn Dreierkoalitionen sein, wie das jetzt auch in Berlin sich andeutet? Es läuft wahrscheinlich auf Rot-Rot-Grün hinaus, eventuell auch eine Möglichkeit für den Bund. Wie stabil kann so ein Bündnis sein?
    Niedermayer: Dreierkoalitionen haben immer ihre Probleme. Das ist ganz klar. Sie sind per se eigentlich instabiler als Zweier... Jetzt muss man sehen, wie es mit Rot-Rot-Grün läuft. Was die Grundvoraussetzung ist - und daran muss die SPD noch ein bisschen arbeiten - ist, dass sich die drei Partner auf Augenhöhe begegnen, und die SPD hat auch noch im Wahlkampf eigentlich eher so die Attitüde gehabt, wir sind der Koch, ihr beiden seid die Kellner und uns gehört die Stadt. Wenn sie diese Haltung nicht ablegt, dann wird es schwierig.
    Kaess: Wir haben jetzt gesehen, Herr Niedermayer, in Berlin hat Ost und West sehr unterschiedlich gewählt. Es ist vor allem im Osten, wo die AfD und auch Die Linke stark sind. Ist Berlin eine politisch gespaltene Stadt und nach dem, was wir jetzt bei den letzten Landtagswahlen gesehen haben, ist Deutschland ein politisch in Ost und West gespaltenes Land?
    Niedermayer: Ich würde gespalten jetzt nicht sagen. Aber es ist vollkommen richtig, dass es deutliche Schwerpunkte gibt in Berlin zwischen den Parteien. Die einzige Partei, die bisher oder in den letzten Wahlen in Ost- und Westberlin in etwa gleich stark war, das war die SPD. Die anderen sind im Westen stärker, Die Linke ist im Osten deutlich stärker als in Westberlin. Die AfD ist jetzt auch in Ostberlin stärker. Und wenn man die gesamte Palette betrachtet der Landtagswahlen in letzter Zeit, dann muss man schon sagen, es ist natürlich so, dass die Linkspartei stärker ist im Osten und dass sie im Westen immer noch in vielen Ländern eine marginale Partei ist. Und die AfD ist auch systematisch im Osten stärker als im Westen.
    "Die Piraten werden im Nirwana verschwinden"
    Kaess: Und um noch zwei Berliner Ergebnisse auf die Bundesebene zu übertragen: Kann man sagen, die Piraten haben sich erledigt und die FDP ist zurück?
    Niedermayer: Das Erste kann man auf jeden Fall sagen, denke ich, denn die Piraten spielen schon seit Jahren auf der Bundesebene in den Umfragen keine Rolle mehr, und auch in den Ländern, wo sie noch im Landtag sitzen, tauchen sie nicht mehr auf. Und das Berliner Ergebnis ist deswegen auch nur folgerichtig. Ich denke, dass diese Partei jetzt tatsächlich im Nirwana verschwinden wird.
    Bei der FDP kann man das noch nicht wirklich sagen. Sie hat jetzt den großen Erfolg gefeiert in Berlin. Das ist klar. Aber auf der Bundesebene sieht es nicht ganz so gut aus. Da ist sie immer so um die fünf, sechs Prozent. Und der wirkliche Test für die FDP, der wird die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im nächsten Frühjahr sein, wo ja der FDP-Chef Lindner selbst zur Wahl steht. Wenn sie da sehr gut abschneidet, dann denke ich schon, hat sie ganz große Chancen, wieder in den Bundestag einzuziehen.
    Kaess: Die Einschätzung des Politikwissenschaftlers und Parteienforschers Oskar Niedermayer. Danke für Ihre Zeit heute Morgen.
    Niedermayer: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.