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Passionsmusik von Carl Philipp Emanuel Bach

Am Karfreitag ist das Thema der "Neuen Platte" natürlich Passionsmusik. Selbstbewusst geht die traditionsreiche "Sing-Akademie zu Berlin" mit einer "Johannes-Passion 1772" von Carl Philipp Emanuel Bach an die Öffentlichkeit. "Erste Aufführung seit 1772" und "Weltpremiere" heißt es da, und man erwartet Sensationelles. Bei näherem Hinsehen stellt sich dann aber heraus, dass von den insgesamt 24 Nummern, aus denen diese Passion besteht, ganze zwei (allerdings ausgedehnte) aus der Feder Carl Philipp Emanuels stammen. Und die Jahreszahl hinter dem Titel signalisiert bereits, dass es noch andere Passionen aus anderen Jahren geben muss. In der Tat hat Bach von 1769 bis 1789 jedes Jahr eine Passion aus der Taufe gehoben, also insgesamt 21 Stück. Dass es sich hierbei nicht immer um große Würfe oder hehre Kunst im Sinne unseres heutigen Werkbegriffes handeln muss, liegt auf der Hand. Aber in Hamburg, wo Bach als Nachfolger seines schreibstarken Patenonkels Telemann als städtischer Musikdirektor wirkte, war es Tradition, in jedem Jahr eine neue Passionsmusik zu präsentieren, und zwar abwechselnd in der Reihenfolge der vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Da konnte man als vielbeschäftigter Komponist, Dirigent und ausführender Musiker gar nicht anders, als sich hier und da aus dem Baukasten eigener Musik, der Werke von Vater und Vorgänger und anderer Komponisten zu bedienen, ein Verfahren übrigens, dass vor der Epoche des Geniekultes von Klassik und Romantik auch überhaupt nichts Anrüchiges an sich hatte. So kam es in dieser Zeit zu einer Vielzahl von Passions-Pasticcios, einer Verschmelzung eigenen und fremden Materials, das mit unserem heutigen Begriff "Potpourri" auch nur wieder falsch, nämlich mit einem unangemessenen negativen Beigeschmack charakterisiert wäre. Hier also aus Carl Philipp Emanuel Bachs Johannes-Passion der Chor "Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine", komponiert von: Johann Sebastian Bach.

Von Ludwig Rink |
    * Carl Philipp Emanuel Bach - 'Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine’ aus dem 23. Chor aus der "Johannes-Passion"

    Die 21 Passionsmanuskripte Carl Philipp Emanuel Bachs gehören zum Archiv der Sing-Akademie, einer umfangreichen Handschriften-Sammlung, die im 2. Weltkrieg nach Schlesien ausgelagert worden war, dann mehr als 50 Jahre lang als verschollen galt und erst 1999 von Christoph Wolff im Staatsmuseum für Musik und Kunst der Ukraine in Kiew wiedergefunden wurde. Zwei Jahre dauerten die Verhandlungen über eine Rückgabe; seit Dezember 2001 liegen die Bestände in der Berliner Staatsbibliothek. Seitdem sichtet die Singakademie ihr Archiv und will es der Forschung und der musikalischen Praxis zugänglich machen und die entdeckten Kompositionen wieder aufführen. In diesem Zusammenhang ist auch die jetzt bei Capriccio erschienene CD zu sehen, die in Zusammenarbeit mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg entstanden ist: Die Sing-Akademie, genauer das Zelter-Ensemble der Sing-Akademie, hat unter Leitung ihres im September 2002 berufenen neuen Direktors Joshard Daus die Johannes-Passion von Bach junior für Konzert und Platte einstudiert.

    • Carl Philipp Emanuel Bach - "Schreib nicht 'Der Jeden König’" aus der "Johannes-Passion"

    Nun muss man wissen, dass die Sing-Akademie zwar geschichtlich gesehen etwas ganz Berühmtes ist, dies aber weder früher noch heute der Markenname für einen Profi-Chor war. Otto von Bismarck, der spätere Reichskanzler, hat hier einst seinen vermutlich sonoren Bass erklingen lassen - ob er im engeren Sinne stimmlich ausgebildet war, weiß ich nicht. Die heutigen Mitglieder jedenfalls sind engagierte, sangesfreudige Amateure, die neben der Freude am Singen Zuverlässigkeit, musikalisches Interesse und Notengrundkenntnisse mitbringen müssen. Das ist sympathisch und hat gute bürgerliche Tradition, ist aber für eine systematische Aufnahmetätigkeit in Sachen Erstaufnahme der wiederentdeckten Musik nicht die Idealbesetzung. Auch das Barockorchester Capriccio aus Basel hält trotz der verwendeten historischen Instrumente noch ein ganzes Stück Abstand zu den Spitzenensembles dieser Musikrichtung, mögen sie nun Freiburger Barockorchester, Concerto Köln oder Akademie für Alte Musik Berlin heißen. Außerdem handelt es sich bei der vorliegenden Aufnahme um einen Konzertmitschnitt - auch von daher ist diese Johannes-Passion von Carl Philipp Emanuel Bach keine Aufnahme für die Ewigkeit - ein kurzer Ausschnitt aus der Alt-Arie "Liebste Hand, ich küsse dich" mag das belegen.

    * Carl Philipp Emanuel Bach - Arie "Liebste Hand ich küsse dich" aus der "Johannes-Passion"

    Weitaus bescheidener tritt das Label Rondeau mit seiner Passions-Produktion auf. Auch hier handelt es sich um eine der erwähnten 21 Passionen Carl Philipp Emanuel Bachs aus dessen Hamburger Zeit, genauer: um die Matthäus-Passion von 1781. Aber hier gelingt dem augenblicklich besonders gut trainierten Windsbacher Knabenchor und seinem langjährigen engagierten Leiter Karl-Friedrich Beringer eine in der Tradition wurzelnde, sehr beachtliche, runde Interpretation; und auch die Deutschen Kammer-Virtuosen Berlin, hinter denen sich an Alter Musik besonders interessierte Mitglieder des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin verbergen, spielen auf sehr hohem, professionellen Niveau. Und hier gibt man im Beiheft auch unumwunden zu, dass man die durch den Manuskript-Fund in Kiew möglichen Erkenntnisse noch gar nicht hat nutzen können, sondern den Ablauf dieser Passion aus anderen Quellen hat rekonstruieren können: die auch anderswo dokumentierten Anleihen beim Vater, der von Carl Philipp hier selbst vertonte Evangelienbericht, die Arien, die von Komponisten-Kollegen wie Georg Benda oder Gottfried August Homilius stammen... Ein besonderes Plus dieser Veröffentlichung: Im fortlaufend abgedruckten Passionstext des Booklets ist am Rande immer vermerkt, wer der eigentliche Komponist des betreffenden Stückes ist.

    Hören Sie nun also einen größeren Ausschnitt aus dieser Matthäus-Passion von Carl Philipp Emanuel Bach in der Einspielung durch den Windsbacher Knabenchor und die Deutschen Kammer-Virtuosen Berlin unter der Leitung von Karl-Friedrich Beringer: Es beginnt mit dem betrachtenden Accompagnato "Dein Beispiel wird mir Kraft verleihen", dann folgt der ruhige Chorsatz "Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken", anschließend ein wenig "Action" aus der Gerichtsszene vor Pilatus und schließlich der von Vater Bach stammende Choral "Unendlich Glück, du littest uns zu gute".

    * Carl Philipp Emanuel Bach - von 19. Accompagnement "Dein Beispiel" bis 22. Choral "Unendlich Glück" aus der "Matthäus-Passion"

    Die Neue Platte - heute mit zwei Passionen von Carl Philipp Emanuel Bach. Zuletzt ein Ausschnitt aus der Matthäus-Passion von 1781 mit dem Windsbacher Knabenchor und den Deutschen Kammer-Virtuosen Berlin unter der Leitung von Karl-Friedrich Beringer.

    Carl Philipp Emanuel Bach - "Johannes-Passion"
    Chor: Sing-Akademie zu Berlin
    Orchester: Barockorchester Capriccio Basel
    Leitung: Joshard Daus
    Label: Capriccio
    Labelcode: LC 08748
    Bestellnr.: 60 103

    Carl Philipp Emanuel Bach - "Matthäus-Passion"
    Chor: Windsbacher Knabenchor
    Orchester: Deutsche Kammervirtuosen Berlin
    Leitung: Karl-Friedrich Beringer
    Label: Rondeau
    Labelcode: LC 06690
    Bestellnr.: ROP2027