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Patientenschutz
"Eine Kultur des Hinschauens ist keine Kritik"

Mit Blick auf den Fall des mordenden Krankenpflegers Niels Högel bekräftigt Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz seine Forderung nach einem anonymen Whistleblower-System in Krankenhäusern. So könnten Kollegen, Patienten und Angehörige geschützt mitteilen, wenn etwas schief laufe, sagte er im Dlf.

Eugen Brysch im Gespräch mit Philipp May | 31.10.2018
    Eine Pflegekraft (l) begleitet am 22.02.2013 die Bewohnerin eines Altenheims mit Rollator beim Gang über den Flur.
    Bei der Polizei fehlten zentrale Ermittlungsgruppen für medizinische und pflegerische Delikte, sagt Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz (picture alliance / Oliver Berg)
    Philipp May: Am Telefon ist jetzt Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Schönen guten Abend!
    Eugen Brysch: Schönen guten Abend, Herr May.
    May: Ein Pfleger tötet über Jahre in verschiedenen deutschen Krankenhäusern 100 Menschen. Niemand schreitet ein. Wie kann das sein?
    Brysch: Ich denke, das ist eine Frage, der müssen wir uns stellen, weil die Angehörigen die Antwort verlangen. Aber, Herr May, das ist ja das Interessante. Interessanterweise finde ich in der politischen Diskussion, weder auf Landes-, aber auch nicht auf Bundesebene, keinen Wettstreit der Parteien dazu, was muss geändert werden, und deswegen haben wir diesen Tag auch zum Anlass genommen, daran zu erinnern, dass die Politik eine Verantwortung hat für den Patientenschutz in Deutschland.
    May: Und den nimmt die Politik nicht wahr?
    Brysch: Ich glaube, die Politik nimmt ihn nicht wahr, oder will ihn nicht wahrnehmen. Es gibt leichte Veränderungen in Niedersachsen. Aber, Herr May, nicht alle Krankenhäuser liegen in Niedersachsen und es sind 2000 solcher Einrichtungen in Deutschland. Nehmen wir noch mal die Pflegeheime dazu, da dürfen wir noch mal 13.000 dazurechnen.
    May: Dann komme ich noch mal direkt zu meiner Ausgangsfrage. Sie haben jetzt schon von leichten Veränderungen gesprochen. Gehen wir vielleicht noch mal einen Schritt zurück. Wie kann das sein? Woran liegt das, dass das überhaupt möglich ist? Was hat da nicht funktioniert?
    Brysch: Zum einen hat sicherlich nicht funktioniert, dass die Kolleginnen und Kollegen des Täters motiviert waren, hinzuschauen und dann auch Reaktionen daraus zu entwickeln. Es gibt kein Whistleblower-System in Deutschland, das extern die Möglichkeit macht, auch mal anonyme Hinweise an den Mann oder an die Frau zu bringen. Das fordern wir schon seit über zehn Jahren. Das öffnet die Türen, damit Menschen, wenn sie etwas wahrnehmen und doch einen geschützten Raum haben wollen, einem anderen sagen können, da läuft was schief. Übrigens nicht nur die Kolleginnen und Kollegen; nein, auch für Angehörige, vielleicht auch für Patienten wäre so etwas wirklich wichtig. Gibt es in Deutschland nicht!
    "Eine Kultur des Hinschauens ist keine Kritik"
    May: So schlimm sind die Zustände an deutschen Krankenhäusern, dass wir ein Whistleblower-System brauchen, ein anonymes Hinweisgeber-Portal?
    Brysch: Ich weiß nicht, ob das schlimm ist. Wir haben ja sogenannte Fehlersysteme in den Krankenhäusern. Die sind leider auch noch nicht alle anonymisiert, weil der Gesundheitsminister das bis jetzt noch nicht gesetzlich durchgedrückt hat, dass es wirklich eine Pflichtaufgabe der Krankenhäuser und erst recht auch der Pflegeheime ist. Ich finde, eine Kultur des Hinschauens ist keine Kritik, sondern schafft den offenen Blick für die Realitäten, und nur dieser offene Blick kann die Täter früh genug erkennen. Und wir wissen: Das ist aktiver Patientenschutz.
    May: Das Hinschauen fehlt im Krankenhaus? Im Umkehrschluss müssen wir davon ausgehen, dass die Dunkelziffer solcher Taten, wie wir sie jetzt hier gerade im Prozess erleben, deutlich höher ist?
    Brysch: Ich glaube, wir dürfen – und darüber müssen wir überzeugt sein – kein Schreckensszenario an die Wand malen. Aber wir müssen den Realismus walten lassen. Wenn sechs oder sieben Jahre ein Täter unterwegs ist, teilweise mit Verdachtsfällen bei den Kolleginnen und Kollegen, dann wird es an der Zeit, dass wir eine Kultur des Hinschauens etablieren. Denn es ist doch klar: Wir können doch nur aus Fehlern lernen. Aber auch da sehe ich weder beim Bund, noch bei den Ländern Anstrengungen dazu. Schauen Sie mal: Flächendeckende amtsärztliche Leichenschauen. Wenn ich danach frage in Deutschland, Achselzucken. Da haben die Justizminister keine Freude dran. Das kostet Geld.
    May: Es ist tatsächlich mehr jetzt eine Frage des Geldes, oder ist es mehr ein Einstellungsproblem, oder ist es beides?
    Brysch: Ich glaube, es ist wie im Leben immer beides. Das bedeutet auch, dass ich in jeder Station und in jedem Krankenhaus auch von der Führungsebene das Thema immer wieder anspreche und sage, schauen wir offen hin, sprechen wir das an, nehmen wir das wahr. Die Stereotypen der Antworten der Geschäftsführung, die sind doch immer die gleichen: Wir hätten uns gar nicht vorstellen können, dass das bei uns möglich ist. Und das, lieber Herr May, ist schon der erste Fehler.
    "Jeder muss nach den gleichen Spielregeln funktionieren"
    May: Wobei man ist ihm ja offenbar auf die Schliche gekommen, hat ihn dann aber nur mit einem Spitzen-Arbeitszeugnis aus der Klinik herauskomplementiert, anstatt dem weiter nachzugehen, und mit dem Arbeitszeugnis hat er sich dann einfach im nächsten Krankenhaus beworben und dort weitergemacht.
    Brysch: Ja, so ist es. Man muss auch unbequeme Wahrheiten nennen; deswegen auch ein anonymes Whistleblower-System. Aber nutzen wir doch bitte auch das, was uns die EDV, was uns der Datenschutz tatsächlich auch möglich macht. Ich verstehe bis heute nicht, warum der Weg des Medikaments von der Krankenhausapotheke zum Patienten nicht digital begleitet wird. Unser Gesundheitsminister möchte gerne, dass jeder Patient sich regelrecht nackig macht, aber in so einem Krankenhaus, wo ja alles datengeschützt und zusätzlich auch noch elektronisch funktionieren sollte, so was gibt es in Deutschland nicht.
    May: Das heißt, wir brauchen nicht nur eine digitale Patientenakte, sondern auch eine digitale Medikamentenakte für die Patienten?
    Brysch: Wenn Sie so wollen – Sie kennen das ja selber. Wenn Sie irgendetwas auf den Scanner beim Supermarkt legen und der Preis stimmt nicht beziehungsweise das Produkt stimmt nicht, dann wird schon direkt an der Kasse Alarm geschlagen, und genau so was brauchen wir in unseren Krankenhäusern auch. Freiwillig wird uns das nicht gelingen. Das müssen wir von oben, das heißt von der Politik vorgeben, denn jeder muss doch nach den gleichen Spielregeln funktionieren. Es kann doch kein Wettbewerbsvorteil sein, Geld zu sparen auf Kosten des Patientenschutzes.
    May: Apropos Spielregeln. Sind alte Menschen, weil meistens waren seine Opfer ja ältere Patienten, sind das Patienten zweiter Klasse in Krankenhäusern?
    Brysch: Ich würde soweit nicht gehen. Aber sie sind natürlich in besonderer Weise gefährdet, weil jeder erwartet, wenn Sie so wollen, auch den Tod solcher Menschen, wenn sie schwerstkrank sind. Das ist das Entscheidende! Wir müssen uns eines ganz klarmachen: Wenn Sie so wollen, Pflege macht keine Mörder. Aber Medizin und Pflege macht es Mördern zu leicht, und um das zu wissen heißt, wachsam sein, mit allen Augen, mit allen Sinnen hinschauen, wenn da so etwas passiert.
    "Auch Innenminister sind gefordert"
    May: Wie groß ist die Gefahr, dass wir bald möglicherweise wieder einen neuen Fall Niels Högel haben werden?
    Brysch: Ich glaube und hoffe es wirklich, dass wir den Niels Högel so nicht mehr haben werden. Aber ich bin auch Realist genug zu wissen, dass es immer wieder solche Fälle geben wird, und deswegen ist es wichtig, früh genug alle Instrumente zu nutzen, die wir zur Verfügung stellen können. Da ist der Bund genauso gefordert wie die Länder, übrigens nicht nur die Gesundheitsminister, auch die Innenminister. Schauen Sie mal: Wo gibt es denn zentrale Ermittlungsgruppen für medizinische und pflegerische Delikte? Die fehlen ja bei der Polizei. Auch Innenminister sind gefordert.
    May: Der ehemalige Krankenpfleger Niels Högel hat zum Prozessauftakt in Oldenburg gestanden, 100 Patienten getötet zu haben. Darüber habe ich gesprochen mit Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Herr Brysch, vielen Dank.
    Brysch: Einen schönen guten Abend und auch ein herzliches Dankeschön.
    May: Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.