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Peter Sloterdijk: "Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 - 2013"
Der Wille zur Großthese

Kein überraschender Gedanke, keine Entwicklung, keine Zweifel: Die Fortsetzung der Tagebücher von Peter Sloterdijk lesen sich für unseren Rezensenten wie ein persönliches Bollwerk gegen die Vergänglichkeit eines Meinungsautomaten - nicht wie die Anregungen eines Philosophen.

Von Walter van Rossum | 24.01.2019
    Peter Sloterdijk und sein neues Buch "Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 - 2013"
    Peter Sloterdijk schreibt seit 40 Jahren an seinem "Denktagebuch" (Buchcover: Suhrkamp Verlag / Autorenfoto: dpa / Henning Kaiser)
    Manchmal kann man die ersten Absätze eines Buches als Brühwürfel verstehen, als Aromaessenz, die den kommenden Seiten ihren Geschmack gibt. An den ersten Sätzen von Peter Sloterdijks Buch "Neue Zeilen und Tage" lässt sich das exemplarisch zeigen.
    "Befragte man die Verfasser von Notizheften oder Journals, warum sie sich regelmäßig, oft sogar täglich der Mühe unterziehen, Spuren ihres erlebten, geträumten oder versäumten Lebens aufzuzeichnen, so müssten die meisten, falls sie sich für die Strategie der aufrichtigen Antwort entschieden, zugeben: aus Gewohnheit."
    Anscheinend hat Sloterdijk diese Autorenbefragung aber gar nicht durchgeführt. Trotzdem kennt er die Antwort und weiß sogar, dass andere Antworten trügen. Dieser Philosoph unterhält offenbar ein eher gutsherrenhaftes Verhältnis zur Welt der Erkenntnisse. Und insofern erstaunt einen dann auch nicht mehr die Verwegenheit jener Behauptung, derzufolge Verfasser von Tagebüchern von der bloßen Gewohnheit getrieben seien. Mir ist allerdings weder im Privaten noch in der Literatur je ein einziger Autor begegnet, der solche oder auch nur ähnliche Motive zu Protokoll gegeben hätte.
    Auch für seinen eigenen Fall macht Sloterdijk andere Gründe geltend: Seit einiger Zeit mache ihm das Vergehen der Zeit zu schaffen. Ihm gehe es darum – formuliert er schwer betörend –, "dem Zug der Zeit zum Verfließen in der Leere einen Widerstand" entgegenzusetzen. Die Frage, ob und wie man mit ein paar Notizen unter dem aktuellen Kalenderdatum Deiche gegen das Verfließen errichten kann, stellt sich ihm nicht.
    O vanitas! Wie komme ich dir bei?
    Mit anderen Worten: Wir halten Sloterdijks persönliches Bollwerk gegen die Vergänglichkeit in Händen. Und offenbar ist das Aufhalten der Zeit ein Unternehmen, das der Veröffentlichung bedarf. Aber nix für Spanner. Bei diesen Notizen handle es sich weder um ein intimes Tagebuch noch um ein Arbeitsjournal, so der Autor, sondern die Notate seien in etwa vergleichbar mit den berühmten Cahiers von Paul Valéry. Mon Dieu! So werden wir eingestimmt auf die kommenden Höhenkämme.
    Welche Steine wirft Sloterdijk der Vergänglichkeit in den Weg? Zunächst einmal markiert der Philosoph das Vergehen der Zeit durch Datumsüberschriften wie "1. Juli, Karlsruhe" oder "23. Okt., Berlin". Allerdings könnte man das Buch auch rückwärts – gegen die Zeitlinie - lesen. Die Datumsangaben dienen eher als Bindemittel des Disparaten. Sie spielen für das Aufgeschriebene fast überhaupt keine Rolle. Entwicklung findet nicht statt. Alles zerläuft in austauschbarer Gegenwart.
    Der Verlust des Rechtsstaates
    Am 2. Mai 2011 wird Osama bin Laden in Pakistan von einem US-Spezialkommando der Navy Seals umgebracht. Neun Tage später kommentiert Sloterdijk einen Artikel des amerikanischen Juraprofessors Alan Darshowitz, der im Namen "aller rechtschaffenen Menschen" die Hinrichtung Osamas begrüßte und rechtfertigte. Sloterdijk mahnt:
    "Offenbar nahm kaum jemand Anstoß daran, dass der re-aktualisierte Prozess 'Vereinigte Staaten vs. Bin Laden' Aspekte einer Treibjagd aufwies. Mehr noch trug er die Züge eines Bandenüberfalls auf einen Unbewaffneten. Was zeigt: Durch den ausgedehnten Aufenthalt im Klima des Terrors und durch die Gewöhnung an die prekären Prozeduren seiner Bekämpfung sind die letzten Spurenelemente von kriegerischem Ethos aus dem soldatischen Metier eliminiert worden. Vom klassischen Krieg bleibt nichts übrig außer dem Motiv, dem Feind ein Höchstmaß an Schaden zuzufügen, gleichgültig mit welchen Mitteln."
    Weltanschauungsgemurmel
    Interessant, dass Sloterdijk nicht das Ereignis selbst zum Anlass seines Kommentars nimmt, sondern ausgerechnet den Artikel eines jüdischen Professors, der in der Jüdischen Allgemeinen erschien. Darshowitz hatte in seinem Artikel bloß dem Konsens "aller rechtschaffenen Menschen" über die Ermordung Osamas seinen juristischen Segen erteilt. Den niemand brauchte, denn längst hatten die Leitartikler des Westens Darshowitz' perfide Argumentation hoffähig gemacht. Bleibt die Frage, warum Sloterdijk sich nicht direkt mit den Gesinnungslöwen von FAZ, Zeit oder Süddeutschen angelegt hat. Am besten öffentlich – was durchaus im Rahmen seiner Möglichkeiten gelegen hätte. Schließlich entdeckt er in der Hinrichtung bin Ladens eine Art historischer Zäsur. Einerseits darf man vermuten, dass der Philosoph es sich ungern mit unseren Leitmedien verderben wollte. Andererseits ist das, was er in seinen Notizen zu Protokoll gibt, eher Weltanschauungsgemurmel als intelligente politische Argumentation.
    Zum Beispiel unterstellt er hartnäckig, dass mit der Ermordung bin Ladens eine neue Epoche angebrochen sei, in der die Staatsräson den Rechtsstaat verdränge. Dann fällt ihm aber ein, dass bereits nach 9/11, seit der "Krieg gegen den Terror" ausgerufen wurde, der Rechtsstaat zur Nebensache wurde. Schließlich geht er noch ein wenig weiter zurück und erklärt die Vergeltungspolitik der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir gegen die Attentäter vom München im Jahre 1972 zur Urmutter der heute geltenden Staatsräson. Eine Seite später werden dann einige seiner Lieblingsfeinde wie Bert Brecht, Georg Lukas und überhaupt die ganze Kritische Theorie zu Wegbereitern des politischen Mords. Am Ende bleibt nur die Gewissheit, die er mit fast allen Bild-Zeitungslesern teilt: Es geht alles den Bach runter. Mag ja sein, doch seit 200 Jahren begehen die Staaten des Westens unter dem heiligen Firmament der Menschenrechte, des Rechtsstaates und der Aufklärung politische Morde. Neu an Osamas Hinrichtung war allein die Performance und die haben einige kritische Zeitgenossen weitaus intelligenter beschrieben als Sloterdijk. Die Unterstellung schließlich, es hätte früher irgendwann irgendwie tugendhaftere Kriege gegeben, ist schlicht peinlich.
    Think big!
    Wo auch immer man diese Notizen aufschlägt, trifft man auf den Willen zur Großthese:
    "Die neue Zeitkrankheit heißt Überdokumentation. Zu viele stellen zu vielen zu viel zur Verfügung."
    Auf jeder Seite bringt der Philosoph mindestens einen Kalenderspruch für Bildungsbürger unter.
    "Alle Politik ist Psychopolitik geworden. Jedes Reden vor der Öffentlichkeit wandelt sich in Postulieren, Anklagen und Zurückverlangen."
    Heureka! So verzopfen sich die Kurzform des Kalenderspruchs mit der Suada des Leitartikels. Beide Genres nutzt Sloterdijk zu ausgedehnten Gesinnungsexerzitien. Doch das muss man erst mal schaffen: auf 500 Seiten kein einziger überraschender Gedanke, keine argumentative Volte, die einen herausforderte. Nicht einmal zum Widerspruch. Manchmal hat man den Eindruck, der Popstar lasse seine Fans via Facebook oder Twitter teilhaben beim Brauen von Tiefsinn. Für alle anderen ist das völlig uninteressant.
    So folgen wir dem Mann bei seinen Auftritten im In- und Ausland, wir hören von Ehrendoktorwürden und anderen Lorbeerveranstaltungen, dann wieder lauschen wir Sloterdijk im Gespräch mit den Großen und Mächtigen. Wohlgemerkt, intim oder persönlich ist hier nichts. Im Gegenteil: Jeder Satz ein Diktum und Statement für die ausgedachte Ewigkeit.
    "Ich führe kein Tagebuch, ich mache Notizen, täglich oder nicht. Ich misstraue den Autoren von Tagebüchern, sobald sie ihre inneren und äußeren Zustände in ganzen Sätzen darstellen, als ob ihnen nie der Zweifel an der Abbildungstauglichkeit von Sätzen begegnet wäre. Ich habe noch nie etwas erlebt, was wirklich einem ganzen Satz entsprach."
    Was allerdings auch an seinen Sätzen liegen könnte. Was aber sagen dann seine abbildungsuntauglichen Sätze? Sätze, die immerhin vor Anstrengung schwitzen, exquisit zu klingen. Nach ein paar Dutzend Seiten wird einem dieser Meinungsautomat unheimlich. Nie zweifelt er, nie verzweifelt er, er grübelt nicht, er denkt nicht. Und es fällt einem ein, dass Peter Sloterdijk zwar einen Haufen Bücher geschrieben hat, aber kein Mensch in der Lage wäre zu beschreiben, worin Sloterdijks Philosophie besteht.
    "Sloterdijk ist ein linker, rechter, elitärer sozialdemokratischer Liberaler mit originellen Ideen",
    schrieb ein niederländischer Kritiker über Sloterdijk und Sloterdijk zitiert ihn schamlos begeistert. Ich kenne keinen klugen Menschen, der bei diesen Worten nicht augenblicklich verzweifelte.
    Nach der Lektüre dieses Buches empfand ich ein ungeheures Verlangen nach – Stille. Und da begriff ich, wie das gemeint war mit dem Projekt "dem Zug der Zeit zum Verfließen in der Leere einen Widerstand" entgegenzusetzen. Man könnte diesen Widerstand als Pfeifen im Wald bezeichnen oder ganz einfach als Gequatsche. Wenn es aufhört, umfängt einen die Stille der Vergänglichkeit. Man wünscht beinahe, von ihr geschluckt zu werden.
    Peter Sloterdijk: "Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 – 2013"
    Suhrkamp Verlag. Berlin 2018.
    540 Seiten. 28 Euro